Gedichte über Einsamkeit 1
Um ein Gedicht zu schreiben, muss man nicht einsam sein, aber mindestens allein. Dennoch kannten viele Dichter das Gefühl der Einsamkeit und haben darüber geschrieben. Wer jedoch schmerzliche Oden erwartet, wird eventuell enttäuscht. Man kann Einsamkeit auch bewusst wählen und in ihr neue Kräfte sammeln.

Gedicht über Abschottung
In diesem Gedicht spricht ein Meister der Abschottung. Selbst Liebe ist ein aussichtsloser Angriff auf diese Form der Einsamkeit.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Creep-Typ
Ich bin gestört,
ich funke auf keiner der üblichen Wellen;
und liebst du mich,
dann wirst du an meiner Mauer zerschellen.
Ich bin ein Grab,
ich kann dir keine Gefühle zeigen;
und liebst du mich,
ist meine Antwort eisiges Schweigen.
Ich bin ein Schatz,
den niemand wird jemals zur Sonne heben;
und liebst du mich,
bereite ich dir ein einsames Leben.
Lass mich in Ruh,
lass mich in Ruh mit meinen Nöten;
bevor auch dich
meine Gedankenmahlwerke töten.
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Ein modernes Gedicht über Einsamkeit
Ein Gedicht über jemanden, der sich noch nicht ganz abgefunden hat mit seiner Einsamkeit, ein letzter Rest Sehnsucht ist geblieben.
Emanuel Mireau · geb. 1974
Früher Abend
Da ist noch manchmal
ein Sehnen
nach dem sanften Licht des Mondes.
Da ist noch manchmal
Begehren
nach dem weichen Wind des Sommers.
Doch früher Abend ist,
in den Fenstern flackert das Licht.
Und du? Du gehst allein
durch wütende Straßen.
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Kommentar:
Das Gedicht ist ein Beispiel für die Verwendung von Assonanzen statt Reimen. Bei Assonanzen sind nur die Vokale gleich, die Konsonanten unterscheiden sich (siehe den letzten Tipp von Tipps und Tricks beim Versbau). Nur bei den beiden Schlussversen gilt selbst dies nicht mehr, was mit dem Inhalt („allein“) konform geht.

Die Einsamkeit in der Fremde
Um zu erkennen, dass Deutschland schon lange ein Einwanderungsland ist, reicht es, tagtäglich Straßenbahn, Bus oder Zug zu fahren. Dabei haben Ausländer nicht nur mit Sprache und Alltagskultur zu kämpfen, sondern auch: mit der Einsamkeit.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Irgendwo in Deutschland
In der Straßenbahn
studiert eine Frau die Zeitung.
Oben links auf der Seite
ein Foto von einem küssenden Paar.
Der Rest besteht aus Kleinanzeigen
in kyrillischer Schrift.
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Die Einsamkeit des Wanderers
Selbst gewählte Einsamkeit muss nicht bedeuten, sich an einem Ort zu verstecken. Auch die ruhelose Wanderschaft ist eine Form der Einsamkeit, wie dieses Gedicht zeigt.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Wanderer
Ich gehe morgens los,
doch komme niemals an,
gehöre nirgends hin.
Ich bin der Wanderer –
ich bin.
Die Städte sind mir gleich,
die Menschen ebenso,
ich seh’ nicht ihren Sinn.
Ich bin der Wanderer –
ich bin.
Des Lebens kurzen Pfad,
den gehe ich allein,
kein Glück, das ich mir spinn’.
Ich bin der Wanderer –
ich bin.
So war’s die ganze Zeit,
bis ich dir begegnet bin.
Nun mag stürmen stärkster Wind:
Wir sind die Wanderer –
wir sind.
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Karges Gedicht
Ziemlich wortkarg ist dieses Gedicht. Man hat sich halt nicht mehr viel zu sagen, wenn man lange allein ist.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
manchmal
sie gehn zu zweit
ein Paar
ich geh allein
allein
manchmal wünscht ich
meistens nicht
heute
wünscht ich
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Fremd-Gedicht
Ein Gedicht über das Fremdheitsgefühl, das Nichtdazugehören, selbst wenn um einen herum viele Menschen sind.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Fremd hier
Da fahren Menschen
Da gehen Menschen
Da grüßen Menschen
Da stehen Menschen
Da reden Menschen
Da lachen Menschen
Da kaufen Menschen
Da zahlen Menschen
Da betteln Menschen
Da sitzen Menschen
Da essen Menschen
Da trinken Menschen
Da rufen Menschen
Da schimpfen Menschen
Da schreien Menschen
Da gucken Menschen
An mir vorbei
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Einsamkeit im Spiegel
Manchmal hilft nur ein richtiger Blick in den Spiegel, um zu erkennen, was mit einem los ist. Aber zuerst geht’s ins Kino:
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Der letzte Blick
Ich war zu früh.
Ich saß allein im kleinen Kinosaal.
Es lief keine Musik.
Es war still.
Dann kam doch ein Paar.
Als sie sich eingerichtet hatten,
war es noch stiller.
Die Werbung begann.
Während der Werbung
kamen noch zwei Paare.
Das Licht ging wieder an.
Drei Reihen vor mir saß ein Paar.
Zwei Reihen vor mir saß ein Paar.
Eine Reihe vor mir saß ein Paar.
Der Film war etwas skurril,
bevölkert mit ein paar merkwürdig aussehenden
einsamen Gestalten,
wie sie es in der Realität nicht gibt.
Dachte ich.
Auf dem Weg zur U-Bahn
schaute ich mir die Leute an.
Tatsächlich waren darunter einige
merkwürdig aussehende einsame Gestalten,
wie sie es im Film hätte geben können.
Während der Fahrt durch den dunklen Tunnel
habe ich dann einen Fehler gemacht.
Ich sah
in die spiegelnde U-Bahn-Tür.
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Gesunde Einsamkeit
So ändern sich die Zeiten: Was früher als krank galt, gilt heute als vorbildlich und gesund.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Viren-Warnung ins Leere
Gehe nicht unter Menschen,
sagen sie.
Wenn du einem begegnest, halte Abstand,
sagen sie.
Wenn du einen Menschen liebst, halte erst recht Abstand, auch wenn es schwerfällt,
sagen sie.
Ich sage:
Das mach ich schon immer so
und galt als krank.
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Das Ende der Einsamkeit
Obwohl es zuerst nicht so klingt, wird in diesem Gedicht doch das Ende der Einsamkeit angezeigt.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Das stumme Telefon ...
Das stumme Telefon
ist voller Erwartung,
die Türklingel bleibt
in steter Bereitschaft.
Ihr Fehler:
Sie lauschen nach außen,
statt nach innen zu schauen.
Niemand ruft an,
niemand kommt zu Besuch.
Warum auch?
Zwar verstopft die Werbung
mittlerweile den Briefkasten,
aber sonst sucht keiner das Gespräch
mit einer Leiche.
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Morgenphantasie
Wenn man sich schon morgens aus seiner Einsamkeit phantasiert, macht einen das verletzlich, wie das folgende Gedicht zeigt.
Dyrk Schreiber · geb. 1954
lindenblatt
wie immer böse und zu früh
klingelt ihn der tag aus dem bett
so geht er schnell vorbei
an den helden die noch am tresen
cowboy spielen es besser machen
als der erschossene im film gestern
da ist ihm nach der traumlosen
elend kurzen nacht
was anderes im sinn
ein mädchen das er nach dem bad
ins frotteetuch hüllen
ihr klatschnasses haar in das er sich
unsterblich verlieben würde
woher aber immer dieses mädchen
in solchen momenten und warum
und dieses schöne schöne haar
über dem frotteetuch ganz nah
an seinem gesicht seinem mund seinem herz
doch an der ecke
hätten die ihn sehn müssen
wie er angetippt sich blitzschnell
umdreht und zuschlägt
als wolle er jemanden verteidigen
ein lindenblatt
natürlich
verabschiedet sich dabei
von seiner schulter
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Nächtliche Einsamkeit
Eine kurze Ablenkung von der eigenen Einsamkeit erfährt das Ich in diesem Gedicht und erkennt, im Dunkeln zu bleiben hat seine Vorzüge.
Maja Gschnitzer · geb. 1996
Blaulicht
Einsam steh ich
Im dunklen Fenster
Einsam
Liegt die Straße da
Wie friedlich sie schläft
Ihr zorniges Fauchen
Ist längst verklungen
Ampeln blinken unruhig
Sinnentwendet
Sehnsüchtig wartend
Auf den Trubel des Tages
Da reißt ein flirrendes
Licht ein gähnendes, blaues
Loch
In die dunkle Nacht
Es rauscht und es tönt
Und ein Blinzeln und
Es ist still
So flüchtig wie
Ein schlechter Traum
Für mich
Für irgendwen jedoch ...
Wie dankbar ich bin
Für meine dunkle Nacht
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Stille Wasser
Stille Wasser mögen tief sein, doch oben ist es genauso wie in den anderen Gedichten auf dieser Seite: einsam.
Sonja Gruber · geb. 1985
Nachtsegeln
Lautlos wie ein Boot zogst du davon.
Deine Spuren wogen dich nicht,
verkrochen sich
im Schlund der Nacht
stund ein Schiff.
Es barg ein Licht.
Du sahst es nicht.
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Kein Zuhaus
Ein Zuhause zu haben ist das Mindeste, um Einsamkeit zu ertragen. In diesem Gedicht jedoch macht sich das Zuhause aus dem Staub.
Julia Faß · geb. 1998
Familie
Wir fallen auseinander,
Mein Zuhause und ich.
Jemand hat das Dach weggenommen,
Unter dem ich stand.
Die Wände sind freiwillig gegangen,
Haben nicht einmal gewinkt.
Die Fenster konnten ohne Wand nicht sein,
Also sind sie hinterher.
Jetzt habe ich einen Boden
Und eine Tür.
Die Tür nutzt mir gar nichts,
Und der Boden lacht mich aus,
Denn er weiß, eine Tür und ein Boden
Sind alleine kein Zuhaus’.
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Kommentar:
Dieses Gedicht war einer der 12 Finalisten aus über 1600 Einsendungen für das Gedicht des Jahres 2018.

Ohne Wir
Einsamkeit ist die Abwesenheit eines Wir. Auf diese einfache Formel lässt sich das folgende Einsamkeitsgedicht bringen. Nur nutzen, wie das Gedicht auch zeigt, einfache Formeln herzlich wenig, wenn man einsam ist.
Maja Gschnitzer · geb. 1996
Das Wir
Die Bäume vor dem Fenster rauschen,
Sie flüstern deinen Namen.
Der Wind lässt die Gardine bauschen
Vor meinem Fensterrahmen.
Ich liege wach, doch werde schier
Von Träumen überrannt.
Bei Tag vergesse ich das Wir.
Ich habe es verbannt!
Bei Nacht jedoch, da schleicht es sich
Zum Fenster still herein.
Dann lässt es mich so fürchterlich
Und endlos einsam sein.
Im Dunkeln brauche ich das Wir.
Ich sehne dich herbei!
Doch weiß ich immer: wärst du hier,
Dann wär' ich nicht mehr frei.
Was mir bei Nacht nur Angst einjagt:
So ganz allein zu sein.
Am Tage habe ich's gewagt,
Gestärkt vom Sonnenschein.
Doch fürchte ich, dass mir heut' Nacht
Die Kraft zusammenbricht.
Das Wir, es hat mich schwach gemacht.
Doch Liebe ist es nicht!
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Gedicht über Party-Einsamkeit
Geht das? Sich bei einer Party einsam zu fühlen? Das geht sogar sehr gut, wie das folgende Gedicht zeigt.
Samira Schogofa · geb. 1958
Party
Um dich herum erlodern Feuer.
Musik, Büffet und Abenteuer.
Du bist ein ungelad’ner Gast.
Du feierst bis zum Morgengrauen,
tanzt wie ein Gott für all’ die Frauen.
Es wird geschlemmt, es wird geprasst.
In dieser Meute trunk’ner Schwärmer
verhärmt dein Herz. Du fühlst dich ärmer.
Dein Spiegelbild, grotesk verbogen.
Das Wirgefühl, es ist verlogen.
Der Frohsinn hier ist schöner Schein.
Du trottest wieder einsam heim.
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Ein Tucholsky-Gedicht über Einsamkeit
Kontemplativ kommt dieses Tucholsky-Gedicht daher, denn der große Vorteil der Einsamkeit besteht darin, dass man Zeit zum Nachdenken, zur inneren Einkehr hat.


Arm in Einsamkeit
In diesem Gedicht ist Armut kein finanzielles Problem, sondern ein geistiges, und es stellt sich heraus, dass die geistig Armen eben doch nicht selig sind, sondern einsam.
Max Pulver · 1889-1952
Bettler sind wir voreinander
Bettler sind wir voreinander,
Arme vertrieben aus den Gärten.
Schüchtern bebt unser Herz
Im Bleiglanz des Schnees.
Über morsche Wege stolpern wir ins Nichts.
Schwester, gedenkst du noch,
Dass wir Kinder waren,
Jauchzend tappten nach rotrunder Sonne?
Dass Weide unsre durstigen Hände
Streichelte wie Mutterhaar,
Glühende Maimatten
Ihre Pfauenfächer vor uns spreizten?
Aber jetzt hocken wir grau an Pfützen,
Halben Herzens vor den Lampen der Schenke,
Lauern auf Umarmungen
Und frösteln vor Einsamkeit
Noch im Arm des Buhlen.
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Einsam auf eigenen Füßen
Von der Einsamkeit, auf eigenen Füßen zu stehen, spricht dieses Gedicht. Geschildert wird eine Situation, die vor 100 Jahren nicht anders war als heute.
Paul Ernst · 1866-1933
Die beiden alten Leute sind allein ...
Die beiden alten Leute sind allein.
Sie setzen sich:
Vater steckt die Brille ins Futteral
Und schneidet den Sonntagsbraten an.
Dann lassen sie die Gläser klingen:
„Auf unseren Jungen.“
Und ich sitze allein,
Sonntags,
Von weitem eine Tanzmusik.
Und ich denke
An die Alten.
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Alleine gehen
Alleine zu gehen, das ist nicht verkehrt, man kann sich sammeln, die Gedanken ordnen und dann mit vollen Händen verteilen.
Rudolf Leonhard · 1889-1953
Spaziergang
Wie war das Leben umzulenken!
Da wieder nun der Himmel blaute:
Ich gehe nur noch, um zu gehn;
und um zu sehn, selbst ungesehn.
Ich hab Vertrauen zum Bergesteg;
Wegweiser selber ist der Weg.
Ich hab das eine Ziel allein,
allein zu sein.
Und dann das hier gestaute
Fühlen, Sehn und Denken
auszuschenken.
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Die Einsamkeit des Wanderers II
Solange der Wanderer allein ist, fühlt er in diesem Gedicht seine Einsamkeit nicht, doch dann sieht er einen jungen Burschen (Fant).
Albert Sergel · 1876-1946
Durch blühende Lande geht mein Weg ...
Durch blühende Lande geht mein Weg,
und mit den Wolken geht mein Traum,
bald schlaf’ ich unterm Brückensteg
und bald im Feld am Lindenbaum.
Die schlimmsten Sorge bleibt mir fern,
zufrieden ist mein Wanderblick;
und leuchtet mir kein heller Stern,
so trügt mich auch kein Alltagsglück.
Nur neulich, als im Abendrot
ein junger Fant nach Hause kam,
sein junges Weib den Mund ihm bot
und er ans Herz die Kinder nahm:
Da fiel auch mich ein Sehnen an
nach Weib und Kind und eignem Herd ...
Verstohlen meine Träne rann,
und still hab’ ich mich abgekehrt.
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Einsam in der Stadt
Gerade wo es doch so viele Menschen geben sollte – in der Stadt –, grassiert auch die Einsamkeit.
Jakob Haringer · 1898-1948
Einsame Stadt
Nun fallen die Blätter leise,
Die Sonne ist traurig und müd,
Ich bin eine Frühlingswaise,
Was soll mir des Sommers Lied!
Ich muss ja doch alles vergessen,
Und die Nacht ist so trostlos und schwer,
Nebel tanzt um die Zypressen,
Alle Straßen sind leer ...
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Die vielen Einsamen
Wie dieses Gedicht zeigt, gibt es viele einsame Menschen, die sich nach anderen Menschen sehnen. Wahrscheinlich ist die Lösung zu einfach, um drauf zu kommen.
Yvan Goll · 1891-1950
Die Einsamen
Sie wandern täglich zum Boulevard und kehren täglich einsamer heim,
Sie blicken in jedes braune Aug’ und möchten so gern einmal Bruder sein,
Hingeben sich einem lächelnden Mund, o an ein fremdes Leid hinsinken!
Sie sind von denen, die immer im hochgeschlagenen Mantel frieren
Und vor den Kinos stehen bleiben und den großen Hotels, die im Abend blinken,
Sie träumen selig Kinderland vor Konditorein und Juwelieren,
Ach sie möchten sich so an den liebenden Bruder verlieren!
Sie haben so eine Seele voll von dunklem Glück und Dank,
Die schaukelt wie ein offener Kelch im schattigen Dorngerank,
Draus Tränen und Tau träufelten viel, käm’ nur ein leiser Wind vorbei,
O käme nur Einer, ein wildfremder Mensch, und hörte ihren stummen Schrei.
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Von der Einsamkeit zum Ich
Einsamkeit als Konzentration auf das Ich, das ist das Motto dieses Gedichts. Wer hier „Egoismus“ schreit, sollte sich mal allein in ein dunkles Zimmer einschließen.
Emil Alphons Rheinhardt · 1889-1945
Wende
Fast höre ich mein Blut jetzt fließen
Vor Stille. Und mein Herz wird weit.
Nun endlich kann ich dich genießen,
Die du so quältest – Einsamkeit.
So hab’ ich mich noch nie empfunden,
Dass jede Eng’ und Grenze wich!
So stark, so leicht, so losgebunden,
So tief bewusst voll meines Ich.
Die jemals mich im Banne hielten,
Sind nur noch Ton in meiner Hand,
Um mir daraus mein Werk zu bilden,
Zu dem das Leben mich erfand.
Ich brauch’ nichts mehr! Jetzt bin ich alles.
Und ich vernehme feierlich
Aus Stunden meines tiefsten Falles
Nichts mehr von Scham – nur: das tat ich!
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Die unüberwindbare Kluft
Weder Sprache noch Gefühle können die Kluft zwischen zwei Menschen überwinden. Selbst wenn man nicht einsam ist, bleibt man doch allein. Das ist die pessimistische Grundaussage des folgenden Gedichts.
Ludwig Fulda · 1862-1939
Allein
Alle sind wir so allein ...
Was kann einer dem andern sein?
Kann wohl in die Augen sehn,
Aber nicht in des Herzens Grund,
Kann nur ahnen und nicht verstehn,
Was ihm beichtet ein zuckender Mund.
Worte sind arme, plumpe Zeichen,
Bilder, die nicht dem Urbild gleichen,
Das gespenstisch die Brust beklemmt ...
Alle sind wir einander fremd.
Wenn wir Hand mit Hand umwinden,
Glühend begehren und, ach, so gern
Uns für immer zusammenbinden,
Ewig bleiben wir uns doch fern.
Fern im Leben und fern im Tod.
Jedes stille stygische Boot
Führte, wenn es zum Hades glitt,
Ungelöste Rätsel mit.
Weglose Finsternisse schwärzen
Den tiefen Abgrund von Herzen zu Herzen.
In die geliebte Seele bricht
Liebe mit fahlem, tastendem Schein
Wie durchs Dunkel ein Grubenlicht ...
Alle sind wir so allein.
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Einsamer Abend
Anscheinend ist es keine gute Idee, am Abend auf eine belebte Straße zu gucken, wenn man gerade allein ist. In diesem Gedicht wird dadurch das Einsamkeitsgefühl bis zur allerletzten Einsamkeit des Lebens verstärkt.
Adolf Bartels · 1862-1945
Abendstimmung
Ein heller Streifen noch im Westen dort –
Auch er erblasst, und Abend ist es wieder.
Ich lege müde meine Feder fort
Und blicke träumend in die Gasse nieder.
Dort strahlt bereits des Gaslichts gelber Schein,
Und unaufhaltsam seh’ ich Menschen wogen.
Mir ist, als sei nur ich zu Haus allein,
Die ganze Welt der Freude nachgezogen.
Mir ist, als fliehe mich die ganze Welt
Und nahe sei die Nacht, die letzte grause,
Wo alles wankt und stürzt und jäh zerfällt –
Und mich alleine träfe sie zu Hause.
Linkadresse zu diesem Gedicht: www.lyrikmond.de/gedichte-thema-11-21.php#1775

Gedicht über mystische Einsamkeit
Wer hält in diesem Gedicht wen in Einsamkeit gefangen? Wie auch die Antwort ausfallen mag, hier ist die Einsamkeit ein mystisches Erlebnis.
Margarete Seemann · 1893-1949
Einsamkeit
Sie hielt mich in ihren gläsernen Händen
als Vogel gefangen und gab mich nicht los;
und alles, was draußen hinter den Wänden
einmal so rauschend war und so groß,
stieß sich nun an dem kühlen Gefinger,
das meine hämmernde Seele umspannt.
Strenger, barmherziger, göttlicher Zwinger,
keiner hat mich wie du gekannt!
Keiner hat mir so viel gegeben
wie deiner Mauern enges Geviert,
weil man das eine innerste Leben
an das lärmende laute verliert.
Musst mich behalten in mönchischer Zelle –
klein ist die Welt, deine Klause ist groß –,
dehn mich in deine unendliche Helle
und mein Leben wird uferlos.
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Risiken und Nebenwirkungen der Einsamkeit
Ich würde niemals behaupten, dass das folgende Gedicht einfach zu lesen ist. Man muss schon bereit sein, sich einzulassen auf Satzbauten am Rande des Nervenzusammenbruchs, auf abrupte Tempowechsel und Sprachkapriolen, die zeigen, dass die hier gerühmte Einsamkeit ihre Risiken und Nebenwirkungen hat.
Arno Holz · 1863-1929
Gottseidank ...
Gottseidank!
Die
Haustür ist zu;
der
kletternd steile, schmale, enge,
an Lehmanns, an Krauses, an Müllers, an Schulzes,
an Schmidts, an Neumanns, an
Plischkes, an Plaschkes, an Meyers, an Beyers,
an
Levis,
an Cohns und an Nathans
vorbei
bis vor meine doppelt verschlossene, bis vor meine dreifach verriegelte,
bis
vor meine
wohl verrammelte
Bleibe, Behausung, Kabuse, Kamurke
und mein mit Recht und mein Hohn und mein mit Spott
sich so betitelndes, sich so benennendes,
sich
so beschimpf-ehrendes
Gedanken-Hochburg-Jammerheim
steigende,
leitende, führende, lenkende
Hundertundzweiunddreißigstufenschacht
stockpechschwarzdunkel;
der
dichte, dicke,
wollsamtene, rote,
lichtundurchlässige Fenstervorhang,
mein Prunk, mein Hochgut, mein Kleinod, mein Stolz,
meine mich „schirmende“, meine mich „schützende“,
meine
mich „bergende“ Prachtvorrichtung
für
lange, schwere,
von meiner „Umwelt“ mich abschließende, von meiner „Mitwelt“ mich absondernde
von
„Menschen“
mich trennende,
einsiedlerische, klausnerische,
arbeitsame, fleißige,
verrückte, sogenannt „phantasiebeflügelte“
Winterabende,
sorgfältigst, vorsichtigst, behutsamst, umständlichst,
gewitzt und ... „für alle Fälle“
auf
jedes Spältchen,
auf jedes Ritzchen, auf jedes Schlitzchen
hin
nochmals kontrolliert,
nochmals zusammengesteckt und nochmals versichert:
mich
kann niemand mehr
besuchen!
Erquickende Ruhe! Einsamster Friede!
Ambrosischste
Stille!
Köstlichst tröstendstes
Labsal!
Sänftigendst linderndstes Wohlgefühl! Süßest seligstes Entzücken!
Immer wieder
wonnigst
unfassbares Glück!
Linkadresse zu diesem Gedicht: www.lyrikmond.de/gedichte-thema-11-21.php#1022
Kommentar:
Dies ist das Einleitungsgedicht aus Phantasus II in der Ausgabe „letzter Hand“ von 1925. In diesem Stil geht es einige hundert Seiten weiter, ein Balanceakt zwischen Genie und Wahnsinn. Im Original ist das Gedicht zentriert gesetzt. Holz war der Auffassung, dass dies die beste Lösung sei für die extremen Längenunterschiede bei den Versen.
