Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Gedichte über das Leben 1

Gedichte über das Leben erlauben eine große Vielfalt an Themen und Gedanken, eigentlich enthält fast jedes Gedicht einen Aspekt des menschlichen Lebens. So ist die Spannweite der Themen hier recht groß, wobei der Schwerpunkt Gedichte sind, die das Leben als Ganzes betrachten, ergänzt um Lebensthemen, die nicht durch andere Seiten beim Lyrikmond aufgefangen werden konnten.

 
 

Gedicht übers Wollen

Man will so viel im Leben, aber was davon erreicht man wirklich? In diesem Gedicht über das Leben sind die Wünsche bescheiden bis zum Ende.

Emanuel Mireau · geb. 1974

Ich will

Ich will leben
Ich will den Wind spüren
Und den Regen

Ich will Wege gehen
Die nirgends hinführen
Oder im Kreis

Ich will nicht nehmen
Weder Geld, noch Gut, noch Ehren
Nicht plündern, nicht gieren
Alle Schätze verschwinden
Im ewigen Eis

Ich will sein
Und jeden sein lassen nach seiner Art
Dann wäre ich nie allein
Und wenn die Zeit gekommen
Könnt ich gehen ohne Spuren
Ganz leis

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Das Leben der Anderen

Von außen betrachtet erscheint das Leben der Anderen wohlgeordnet und zufrieden. Da bleibt dem Außenseiter in diesem Gedicht nur eine Frage.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Betrachtungen eines Außenseiters

Sie haben Jobs,
sie haben Freunde,
sie feiern Feste,
sie verlieben sich,
sie heiraten,
sie fliegen in ferne Länder,
sie haben Hunde,
sie haben Kinder,
sie fahren große Autos
und manche
bauen gar ein Haus.
Sie leben ihr Leben,
wie man das Leben leben soll.
Wie machen die das bloß?

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Mülltonnen-Leben

Gibt ja Leute, die glauben, dass ausgerechnet sie es ziemlich fies erwischt hat im Leben. Die haben noch nicht die Lebensgeschichte der drei Mülltonnen gehört.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Die drei Mülltonnen

Die schwarze glaubt
an ein Leben nach dem Tode
und spricht jeden Morgen
mit dem Herrn.
Die rote hofft
ein Swimmingpool zu werden,
in dem Kinder jeden Sommer
spielen und lachen.
Die gelbe träumt
von ihrem Schatz, obwohl
er sie hier vorm Haus
hat sitzen lassen.
Und jeden Montag
kommen die Müllmänner
für die schwarze
und dienstags für die rote
und mittwochs für die gelbe,
bringen sie zum Wagen,
zwingen sie zum Kotzen.
Und dann hungern die Mülltonnen
bis zur nächsten Fütterung
mit Müll
und träumen und hoffen und glauben
vergeblich.
Und so geht das Woche für Woche,
Monat für Monat, Jahr für Jahr.
Und du sagst,
du hast ein scheiß Leben?

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Was Leben ist

Dieses Gedicht über das Leben ist keine gute Nachricht. Mehr als Knast mit einem Blick durch die Gitterstäbe scheint nicht drin zu sein. Wer gerade keine gute Phase hat, sollte das Gedicht vielleicht überspringen.

Edith Södergran · 1892-1923

Leben

Ich, meine eigene Gefangene, sage dies:
Leben ist kein Frühling, gekleidet in lichtgrünem Samt
oder eine Liebkosung, die man selten erhält,
Leben ist kein Beschluss zu gehen
oder zwei weiße Arme, die einen zurückhalten.
Leben ist der enge Ring, der uns gefangen hält,
der unsichtbare Kreis, den wir nie überschreiten,
Leben ist das Glück, das an uns vorübergeht,
und tausend Schritte, die wir nicht zu gehen vermögen.
Leben ist, sich selbst zu verachten
und regungslos am Grunde eines Brunnens zu liegen
und zu wissen, dass die Sonne droben scheint
und goldene Vögel fliegen durch die Lüfte
und die pfeilschnellen Tage schießen vorbei.
Leben ist, kurz Lebewohl zu winken und heimgehen und schlafen ...
Leben ist, sich selbst ein Fremder zu bleiben
und eine neue Maske für jeden anderen, der kommt.
Leben ist, sorglos umzugehen mit dem eigenen Glück
und fortzustoßen jeden einzigen Augenblick,
Leben ist, sich schwach zu wähnen und nichts zu wagen.

Aus dem Schwedischen übertragen von Hans-Peter Kraus

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Ein Gedicht über uns

Warum passieren so viele schreckliche Dinge auf dieser Welt? Die Erklärung ist ganz einfach, sie sind gar nicht schrecklich, sondern werden begangen nach bestem Wissen und Gewissen. So ist das Leben.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Worin wir wirklich gut sind

Man kann über uns sagen, was man will,
und es lässt sich
in Anbetracht des Zustands dieser Welt
viel Schlechtes über uns sagen,
aber eins,
das können wir:

Egal
ob wir jemanden belügen
oder Tiere industriell töten,
egal
ob wir jemanden mobben
oder ganze Völker in Not und Elend stürzen,
egal
ob wir jemanden foltern
oder einen Vernichtungskrieg führen,
am nächsten Morgen
können wir immer noch vor dem Spiegel stehen
und sagen:

Ich sehe
die Welt auf die richtige Art und Weise.
Ich tue,
was recht und billig ist.
Ich bin
ein guter Mensch.

Darin
sind wir wirklich gut.

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Auf Leben und Tod

Das wird ja gerne vergessen: Dass der Tod mit zum Leben gehört. Doch sein Leben zu sehr vom Tod bestimmen zu lassen, ist wiederum auch keine gute Idee:

Hans Retep · geb. 1956

So ist das Leben

Als er am offenen Grabe stand,
die Blütenblätter in der Hand,
da schien die Welt ihm still zu stehen.
Und seine Hand, sie rührte sich nicht,
die Blütenblätter, sie fielen nicht,
ihn war, er müsse jetzt und gleich vergehen.

Er kehrte jeden Tag zurück
zum Grab, wo ruhte all sein Glück
und ließ ein Monument errichten,
die Tote zu ehren vor aller Welt.
Das Leben, es war ihm vergällt,
es hatte keinen Geschmack, nur lästige Pflichten.

Ganz unbemerkt ein Jahr verging,
ganz plötzlich geschah’s, sein Blick, er hing
an einer Frau, er begann zu beben
und sah die verlorene Lebenszeit
und schwor ihr Treue in Ewigkeit
und hat sich selbst vergeben. – So ist das Leben.

(Nach einem niederländischen Gedicht von Frans de Cort, 1834-1878)

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Leben und Freiheit

Der Mensch meint frei zu sein. Klar, es gibt Grenzen, aber sonst ist man sein eigener Boss. So wie ein fallendes Blatt, meint dieses Gedicht.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Widerlege, wenn du kannst

ein fallendes Blatt
ist so frei wie
ein geborener Mensch
ist so frei wie
ein fallendes Blatt

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Leben und nicht leben

Da Gott bekanntlich in Frankreich lebt, wissen die Franzosen übers Leben Bescheid und teilen das freundlicherweise in einem Gedicht und nicht in einem dicken Buch voller Ungereimtheiten mit.

Jean Moréas · 1856-1910

Sagt nicht: Das Leben ist ein fröhlich-festlich Mahl ...

Sagt nicht: Das Leben ist ein fröhlich-festlich Mahl;
Oder es sei wie seelenlos und furchtbar dumm;
Und nie: Es hat der schlechten Tage endlos Zahl;
Das wäre ohne Mut bemerkt und beugte krumm.

Besser ihr lacht wie Frühlingszweige windbewegt,
Weint wie der Nordwind und die Flut am Ufersaum,
Die Freuden kostet aus und leidet hocherregt;
Und sagt: Es ist so viel und doch ein Hauch von Traum.

Übertragen aus dem Französischen von Hans-Peter Kraus

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Gedicht über ein finsteres Leben

Eher auf der dunklen Seite gebaut ist die Beschreibung eines Lebens im folgenden Gedicht. Die einzige Erlösung scheint die Mathematik zu sein.

Theo van Doesburg · 1883-1931

Der Verbrecher

(völlig tonlos)
Mein Leben ist ’n schwarzer Grund mit Linien grau und roten Flecken.
Mein Leben ist ’ne Allee bei Nacht, wo dunkle Gestalten hinter den Bäumen stehen und gucken.
Mein Leben ist ’n Halbmond über kohlschwarzen Sträuchern.
Mein Leben ist ’n alter Rock, zerrissen und voller Flecken.
Damit laufe ich nachts herum und schäme mich, wenn der Morgen kommt.

Ich und die Sonne, wir erröten dann.

Mein Leben? - ’ne zugefrorene Gracht bei Nacht.
’s Eis ist glatt.
Der Knöchel schwach – Du rutschst.
’n Loch. ’n Loch.
’n Loch bei Nacht.

Die Welt ist eine blinde Mauer, die mich erschreckt und aufscheucht wie ’nen torkelnden Hasen.
Die Welt ist ’n harter Stein, der wächst und wächst durch unser Weinen.

Mein Leben ist ’ne enge Zelle.
’ne harte Kruste.
’ne hölzerne Hölle.
Ein kohlschwarzes Auge.
’n starres Gesicht.
’ne schmutzige Wand mit eingekratzten Namen.

Hui!
Mein Leben ist ’ne Ziffer.
Mein Tod ist ’ne Zahl.

Übertragen aus dem Niederländischen von Hans-Peter Kraus

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Gedicht über das gut eingerichtete Leben

Haben wir uns nicht ganz wunderbar ins Leben eingerichtet? Mag sein, aber das reicht nicht:

Claudia Ratering · geb. 1961

Es ist soweit

Wir haben den Säbelzahntiger
nicht besiegt, doch
seine Nachfahren sind uns heute
geliebte Haustiere.

Wir haben uns Häuser gebaut
mit künstlichen Feuerstellen,
verschließbaren Türen und
verglasten Fenstern.

Wir lieben unsere Gärten,
pflegen unsere Weinkeller.
Wir tragen Mode
und besitzen schöne Dinge.

Nun bebt die Erde
Katastrophenalarm
mit Stürmen und Fluten,
mit Feuer und Dürre.

Überrascht sehen wir auf
und blicken über die
Schulter zurück
in die Welt.

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Gedicht über das Leben und das Lieben

Wie so oft im Leben, braucht es auch in diesem Gedicht einen zweiten Anlauf, um auf die richtige Lösung in Sachen Leben und Lieben zu kommen.

Dyrk Schreiber · geb. 1954

ins medaillon

groß am leben ist das lieben
groß am lieben ist das unglück
groß am unglück ist der tod
groß am tod
groß … am tod
groß … am …
groß am leben ist das lieben
groß am lieben ist das leben
groß am leben ist das leben

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Kommentar:
Dieses Gedicht war einer der 12 Finalisten aus über 1600 Einsendungen für das Gedicht des Jahres 2018.

 
 

Bevor das Leben losgeht

Macht man sich keine Gedanken drüber, man ist ja schon da, und vielleicht wär’s auch etwas unangenehm, sich vorzustellen, dass gewisse Dinge passieren müssen, damit Leben entsteht. Man weiß ja nicht und will auch vielleicht gar nicht wissen, wie und so.

Ildikò Tresnic · geb. 1976

Menschheit

Jeder Mensch bedeutet
einen Geschlechtsakt.

Wer weiß, wie –

aus Leidenschaft, aus Liebe,
aus Langeweile, Routine,
Unwissenheit, Gleichgültigkeit,
Unachtsamkeit, Schlaflosigkeit,
purer Lust oder Begierde,
aus Not oder Lüge,
Planungswut, Übermut,
Pflichteifer, Eifersucht,
Unerfahrenheit, Rücksichtslosigkeit,
Unterdrückung, Gewaltbereitschaft,
Egoismus, Selbstverliebtheit,
Einsamkeit, vermeintlicher
Unfruchtbarkeit oder Hoffnung –

er gezeugt wurde.

Und, ist das überhaupt noch
der neueste Stand
der Dinge und Gefühle?

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Das menschliche Leben

Das Gedicht von Felix Dörmann erinnert in Stil und Machart etwas an die Lebensklagen aus dem Barock. Es ist also anscheinend nie zu spät, ein Barocker zu werden.

Dörmann: Menschenleben

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Das Leben und das Ich

Die Sache mit dem Ich ist nicht so einfach. Es ändert sich ständig und das Ich eines alten Mannes hat mit dem gewesenen Kind nichts mehr gemein. Das sieht auch die Stimme dieses Gedichts über das Leben so und verschiebt die Ichfindung ins Nimmermehr.

Ernst Lissauer · 1882-1927

Besinnung

Und plötzlich dünkst du dich uralt.
Das Leben ist dahingerauscht.
Du staunst dich an so fremdgestalt,
Als sei dir Ich mit Ich vertauscht.

Du bist’s, aus Glück und Gram gewebt,
Unlösbar du aus Fleisch und Geist!
Du bist das Kind, du hast’s gelebt,
Ob du dich selbst auch nicht mehr weißt.

Du bist es nicht. Längst starb dem Mann
Das Kind, das dumpf gebunden lag.
Er fängt mit jedem Tag sich an,
Aus Wirken baut er seinen Tag.

Du Ewigeins, du Mannigfalt!
Der stets sich fand, sich stets verlor!
Warst nie Gestalt, bist nie Gestalt,
Du stehst dir selber erst bevor.

Du glänzt dir fern, ein Luftgebild,
Schon nahst du, schon berührst du dich,
Allein es löst sich und zerquillt,
Du schreitest weiter gen das Ich.

Und all dies Wandern auf dich zu,
Und was du rastest, was du irrst, –
Der du dich nie erreichen wirst,
Bist du.

 
 

Gedicht über ein andres Leben

Das ist nur eine kleine Bitte: Ein anderes Leben sozusagen aus dem Kleiderschrank gezogen, ein einfaches, rundum glückliches, mehr braucht es nicht. Sich selbst ändern, an sich selbst arbeiten, das sollen andere machen.

Jakob Haringer · 1898-1948

Bitte

Ich möcht so gern ein andres Leben leben!
Könnt ich vergessen, was ich war und bin.
So wie ich lebe, ach, das ist kein Leben – –
Und so hat alles, alles keinen Sinn!
Ich will nicht Jugend, Schönheit, Glanz und Ehren,
Ich möcht bloß einfach und zufrieden sein.
Ich möcht auf einen kleinen Engel schwören,
Und mich im Sommer auf den Winter freun.
Beim Kinderplaudern möcht ich weinen können,
Ich möcht mich freun am Mond, an dunklen Seen,
Ich möcht verliebt durch alle Gassen rennen ...
Mit einem Frauenblick dann schlafen gehn.
Ich möchte weinen über Nachtgitarren,
Und wenn der Regen durch die Linden tropft,
Und möcht mich freun am Hoffen und am Harren
Und dass ein Mädchen an mein Fenster klopft.
Ich möcht wie Mohn an allen Feldern brennen – –
Ach, dann vergessen, was ich war und bin!
Ich möcht vor stillem Glück nicht schlafen können –
Und so hat alles, alles keinen Sinn!
So darf bei keinem Lied ich kindlich beben,
Und all mein Leben, ach, das war ja keins –
Ich möcht so gern ein andres Leben leben –
Ein Leben, das so anders ist als meins ...

 
 

Über das Leben: expressionistisch

Die expressionistische Variante der Vorgedichte liefert August Stramm mit einem „Raum-Zeit-Raum“-Refrain, wobei der Titel den Schwerpunkt eigentlich nicht beim Leben setzt.

Stramm: Urtod

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Lebensgang und Gewitter

Ein Gedicht, das ein paar Kurven fährt, bevor es zum Thema kommt. Prompt folgt das Gewitter, und an der letzten Kurve warten die Hunde.

Nicola Quaß · geb. 1974

Gewittermusik

Von der Tiefe des Meeres wissen wir wenig.

Wir stecken in diesem Traum fest
wie in einem hängen gebliebenen Film.

Deine Augen werden,
wenn ich sie lange genug betrachte,
zum Spiegel.

Hättest du diesen Satz
bei tosendem Donner wiederholt?

Wie ist das, vorwärts zu gehen,
und die Seele hinterher?

Where is home and how to get there?

Eines Morgens spürte ich: es geht vorbei. Menschen verschwinden,
doch die Dinge gehen nicht mit.

So brach Gewittermusik lichtblau über mich ein.

Die Welt, wie sie ist, unterhalb der Wortschwelle: panisches Trommeln, wilde Kalligraphie.

Der Park weiß, wie man in ihm spazieren geht.
Wir beide, Hand in Hand, ein leichter Regen.

Hunde betreten die Straße.

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Gedicht über gelebtes Leben

Eine etwas distanzierte Haltung zum Leben wird in diesem Gedicht präsentiert: Das Leben lebt sich selbst.

Karl Röttger · 1877-1942

So lebt sich das Leben ...

So lebt sich das Leben – die vielen
Leben. Es gleitet; es schwebt.
Es lebt sich. Wie Kinder spielen.
Und wie ein Webstuhl webt.

Wie ein Fluss fließt. Und wie Lüfte
Nah – und schon ferne sind
Wie schwebende Gartendüfte
Stark – – und verweht im Wind.

So lebt sich das Leben. Wir können
Nur stumm sein und schauend stehn
Und jedem Leben gönnen
Sein Kommen und Entfliehn.

Ist alles vollendet und schwebend;
Ist ohne Absicht und Ziel;
Und alles sich selber lebend:
Wie im Abend ein Tanz der Mücken,
Ein Lied und ein Kinderspiel ...

 
 

Die Straße des Lebens

So richtig glücklich scheint der menschliche Weg entlang der Straße des Lebens nicht zu sein, denn die Antwort auf die entscheidende Frage ist auf der Straße nicht zu finden.

Paul Zech · 1881-1946

Straße ...

Ist eine lange Straße gesponnen
Aus der Stadt, durch den Wald, in die Welt.
Wo sie beginnt, haben wir alle begonnen:
Allein auf die Kraft unserer Schritte gestellt.

Tags wandern auf Wolken die Jahre,
Nachts bleiben bei Sternen sie stehn.
Manchmal berühren uns Dichter und manchmal die Haare
Der Tierfrau im Wald bei den zärtlichen Rehn.

Die Bäche spiegeln verstörte Gesichter
Und die Häuser am Rande spiegeln uns auch.
Und wünschen wir einmal die flüchtigen Lichter
Uns näher, verschluckt sie ein eisgrauer Rauch.

Die Straße will nirgends verweilen,
Bewegung wird Schwärze und Stein,
Und wir lesen zwischen den schwarzen Zeilen
Auch unser verfluchtes Allein.

Da wandern wir mutlos die Straße im Kreise
Auf falschen Geleisen herum
Und fragen am Ende der Reise
Mit leergewanderten Augen –: Warum?

 
 

Lebenston

Ein Gedicht darüber, wie man vom Leben geformt wird, bis die Statue steht und dann – ist nichts mehr zu machen.

Bärbel Stasch · geb. 1951

Kein Vorwurf von mir

Kein Vorwurf von mir
wie du denkst oder fühlst
denn du kannst nichts dafür

Am Anfang
sind wir
wie feuchter Ton
ohne Form
ohne Muster
annähernd gleich

Grobkörnig
feinporig
verschiedenfarbig
sicherlich
doch weich
allemal

Jetzt folgt
das Schicksal
Glück
oder Unglück
Künstler
oder Stümper
Zart oder hart
wird er geformt
geknetet
geschlagen
ziseliert
... gebrannt

nicht revidierbar

Kein Vorwurf von mir
bitte auch nicht von dir
ich kann auch nichts dafür

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Gedicht über eine Lebenseinstellung

Eine bittere Lebenseinstellung wird in diesem Gedicht zelebriert. Das Ich schwankt zwischen Verachtung und Gleichgültigkeit.

Valeri Brjussow · 1873-1924

Verachtung

Verachtung zu mir selbst und zu der ganzen Erde
ist meine einzige und bittere Gebärde.
Wie hätte ich geliebt! ... – Nun suche ich nicht mehr ...,
denn jeder Traum ist falsch und jeder Wunsch ist leer ...
Ob mir die Wahrheit einst ihr Antlitz ganz enthüllt,
ob einst mein Name klingt, ob einst bekannt mein Bild,
ob viele Jahre noch ein Gott mir Leben gibt,
ob die, die mich erfüllt, mich wirklich wiederliebt, –
mir ist das alles gleich und ferner Schatten Spiel.
Das Leben kenne ich, doch nicht des Lebens Ziel.
Ich treibe wie ein Blatt, das in den Strom gefallen ...
Verachtung fühle ich, zu mir, zur Welt, zu allen ...

Aus dem Russischen übertragen von Karl Roellinghoff

 
 

Selbstfindung zum Geburtstag

Wenn niemand anderes es tut, dann schreibt man sich halt selbst ein Geburtstagsgedicht und lässt seinen Gedanken über das Leben freien Lauf.

Isabelle von der Trave · geb. 1962

Geburtstag

Mich zu ehren entzünde ich eine Wunderkerze
mich zu ehren begründe ich eine neue Welt
für mich zerhaue ich den Knoten
für mich erbaue ich ein Schloss

Mir zu gefallen plage ich mich
mir zu gefallen klage ich an
mich zu beweisen schau ich in den Spiegel
mich zu beweisen bau ich die Mauer
und steige darüber
und feige zurück

Zum Wohlfühlen kleide ich mich
mein Ich zu spüren, leide ich gerne

Mich zu loben schmerzen die Wunden
mich zu loben scherzen die Schönen
und zeigen sich stolz
und neigen das Haupt

Mir zu Ehren sprüht eine Wunderkerze
mir zu Ehren glüht ein Funke Hoffnung
für mich haut das Schwert
für mich klaut der Traum
mir zu gefallen leidet die Welt
mir zu gefallen neidet der Tor

Mich zu finden sterbe ich täglich
mich zu finden werde ich stündlich.

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Lebensfahrt

Das Leben als eine Fahrt übers dunkle Meer ist das Grundmotiv dieses Gedichts, aber keine Bange: Ab und an wird Licht.

Reinhard Goering · 1887-1936

Wir gleichen solchen, die auf hohem Meer ...

Wir gleichen solchen, die auf hohem Meer,
Umhüllt von Dunkel, ziehn ins Unbekannte.
Zufall am Steuer, Tod des Schiffes Herr,
Der Hauch im Segel ist das Ungenannte.

Zwei- oder dreimal wird es Licht,
Dann löst Erstarrung sich und alles Grauen
Vor eines andern göttlichem Gesicht,
Daraus noch schön die ewigen Sterne schauen.

Dann grüßt der Gleiche stumm den teuren Gleichen
Und es geschieht, dass, eh das Licht verblich,
Sie sich den Mund zu einem Kusse reichen
Und so ihr Scheiden heißt: Ich liebe dich!

Link:Kurzgedichte über das Leben