Kurze Gedichte über das Leben
Das Leben ist zu kurz, um lange Gedichte zu schreiben. Dieser Weisheit folgen die Dichter der folgenden kurzen Gedichte über das Leben. Tatsächlich ist ja die Kunst der Verdichtung, der Konzentration, um Freiräume für Wichtigeres zu schaffen, eine gute Richtschnur fürs Leben.
Der Lebenskreis
Vom Nichtsein zum Sein und wieder zum Nichtsein kreist das Leben. Das ist jedoch keine philosophische Betrachtung, sondern eine Frage der Ernährung.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
kreislauf
lebendes wird totes
nährt lebendes wird
totes nährt lebendes
wird totes nährt
lebendes wird totes
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So ist das Leben
Da denkt man, dass man denkt, und dann stellt sich heraus, man denkt nur, dass man denkt, dass man denkt. So ist das Leben eben.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Jedes Gefühl wird gefühlt ...
Jedes Gefühl wird gefühlt,
bevor du es fühlst.
Jeder Gedanke wird gedacht,
bevor du ihn denkst.
Die Welt draußen
wird ein Raum drinnen,
bevor die Tür aufgeht.
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Lebensgang
Obwohl das Ding ja eigentlich Lebenslauf heißt, ist die übliche Fortbewegungsmethode menschlicherseits das Gehen, außer bei Autofahrern, die das Sitzfleischrollen bevorzugen. In diesem kurzen Gedicht über das Leben geht jemand auf jeden Fall sehr weit, um bei sich selbst anzukommen.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Ich gehe
Die einen fahren,
die andern laufen,
und jeder hat sein eignes Ziel.
Ich gehe.
Die einen reden,
die andern schreien,
und jeder weiß das wahre Wort.
Ich gehe.
Die einen lieben,
die andern leiden,
und jeder sucht das große Glück.
Ich gehe.
Wohin ich gehe?
Ich gehe dorthin, wo ich bin.
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Das Leben in Kurzfassung
Mehr wissen, mehr verstehen ist im Leben zwar ganz nett, bringt einen aber auch nicht weiter, so zumindest behauptet das dieses kurze Gedicht über das Leben.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Das Versprechen
du wirst wachsen
körperlich
geistig
du wirst verstehen
immer mehr verstehen
bis du das Leben
ganz und gar
verstanden hast
und verzweifelst
dann
wirst du sterben
das verspreche ich
dir
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Zu Tisch
Ein kurzes Gedicht in Frühstückssprache über das kurze Leben eines Menschen.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Die Tragödie des Lebens
ein Glas Wasser
auf dem Tisch
eine Scheibe Brot
auf dem Frühstücksbrett
langsam
essen
langsam
trinken
ein leeres Glas
ein leeres Brett
was nützt der Tisch
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Leben ist unser Fußball
Es gab mal eine DADA-Zeitschrift namens „Jedermann sein eigner Fußball“, doch in diesem Gedicht wird ganz undadaistisch ein Vergleich angestellt zwischen dem Geschehen rund um den Platz und dem Leben.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Die Frage ist
Zuerst glaubt man,
das Leben ist ein volles Bundesligastadion
mit einer Wahnsinnsstimmung, einem Spiel
voller Rasse und Klasse und Dramatik bis
zur letzten Minute.
Doch irgendwann merkt man,
das Leben ist
nur ein müder Kreisligakick
vor dreißig Zuschauern,
mit zwei Mannschaften,
die sich redlich bemühen,
Fußball zu spielen.
Die Frage ist,
wie man damit klarkommt.
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Lesetipp:
Mehr Gedichte über Fußball, das Spiel mit den 44 Beinen, etwas Rundem und zwei Eckigen.
Langer Rede kurzer Sinn
Der langen Rede des Titels folgt ein kurzes sinniges Gedicht.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Der Sinn des Lebens unter Berücksichtigung der Entfernung zum nächsten bewohnbaren Planeten
Leben
Weiter
Geben
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Enttäuschendes Leben
Wenn man zur Welt kommt, scheint das Leben voller bunter Luftballons, doch am Ende weht nur eine schwarze Fahne im staubigen Wind. So könnte man ganz prosaisch das folgende Kurzgedicht übers Leben zusammenfassen.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Enttäuschungen ...
Enttäuschungen
Enttäuschungen
das Leben
ist voller Enttäuschungen
auf niemanden
kannst du dich verlassen
noch nicht mal
auf dich selbst
nur der Tod
der
hält sein Versprechen
dieser blöde Hund
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Alles
... was Sie schon immer über das Leben wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten, wird in diesem Gedicht mitleidlos mathematisch mitgeteilt.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Das Geheimnis des Lebens
Es sei:
1 + 1 > 2
Und es sei:
1 – 1 > 0
Mehr braucht es nicht.
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Das Leben als Widerstandskampf
Ganz allgemein betrachtet ist Leben an sich ein Widerstandskampf gegen den Tod, aber manche begnügen sich ihr Leben lang nicht damit, sondern leisten gegen alles und jeden Widerstand. Nützen tut es ihnen natürlich nichts.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Von der Wiege bis
Essfähige Essverweigerer
Lauffähige Laufverweigerer
Lernfähige Lernverweigerer
Denkfähige Denkverweigerer
Schweigfähige Schweigverweigerer
Impffähige Impfverweigerer
Sterbfähige
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Bergab leben
Steil bergab geht es in diesem Kurzgedicht über das Leben und endet dort, wo das Leben immer endet.
Emily Dickinson · 1830-1886
Das Herz wünscht Freude ...
Das Herz wünscht Freude – zuerst –
Und dann – Erlass von Schmerz –
Und dann – ein kleines Mittel,
das Leiden bald verkürzt –
Und dann – nur schlafen gehen –
Und dann – wenn es behagt
Dem eigenen Inquisitor,
Den Tod als letzte Gnad’.
Übertragen aus dem Englischen von Hans-Peter Kraus
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Die Alpen des Lebens
Es braucht eine Dichterin, um zu erkennen, welchen Einfluss die Alpen auf unser Leben haben. Immerhin hat sie das aus dem fernen Amerika erkannt.
Emily Dickinson · 1830-1886
Unsere Leben sind schweizerisch ...
Unsere Leben sind schweizerisch –
So still – so kühl –
Bis an einem seltsamen Nachmittag
Die Alpen ihre Vorhänge vernachlässigen
Und wir dann weiter sehn!
Italien steht auf der andren Seite!
Doch wie ein Wächter –
Die feierlichen Alpen –
Die sirenenhaften Alpen
Für alle Zeit dazwischengehn!
Übertragen aus dem Englischen von Hans-Peter Kraus
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Leben zwischen Trümmern und Steinen
Geht auch, so ein Leben zwischen den Trümmern der Vergangenheit und den Steinen, die im Weg liegen, aber großen Optimismus strahlt das Gedicht nicht aus. Optimismus ist eben nur was für Anfänger.
Wilfried Ihrig · geb. 1953
die geschichte und du
der engel der geschichte
blickt zurück auf den trümmerhaufen
des grossen ganzen
für dich
geht es eine nummer kleiner:
deine vergangenheit
ist der haufen steine, den man dir
von allen seiten
in den weg geworfen hat
deine zukunft auch
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Das menschliche Leben
Keine guten Nachrichten hat Erich Mühsam zum Thema menschliches Leben. Die Ähnlichkeit in komprimierter Form mit dem berühmten Claudius-Gedicht ist sicher kein Zufall.

Ein halbleeres Glas vom Leben
Bekanntlich ist das Glas bei Pessimisten immer halb leer, und so findet in diesem kurzen Gedicht über das Leben das lyrische Ich in aller Fülle immer Leere.
Richard von Schaukal · 1874-1942
Zeitlichkeit
In allem Wissen Dunkelheit,
in allem Haben Angst und Neid,
in aller Macht Verworfenheit,
in aller Liebe Widerstreit,
in allem Hoffen Bangigkeit,
in aller Lust Vergänglichkeit,
in jeder Neige Bitterkeit:
dies, Mensch, ist deine Zeitlichkeit.
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Durchs Leben wandern
Das Leben geht weiter, heißt es oft nach Unglücksfällen. Diese zugleich furcht- und wunderbare Weisheit ist in diesem Kurzgedicht Vorbild für die rechte Art zu leben.
Peter Baum · 1869-1916
Ich wandere
Ich wandre und kenne nicht Zeit noch Raum
Und lächle ins Leben, als sei es ein Traum,
In wehenden Gärten, die Dämmerung umflicht –
Ich staun’ wie ein Kind in das zitternde Licht. –
Sie sagen, ich altere Jahr um Jahr,
Mir welke die Wange, mir bleiche das Haar,
Am Ende des Weges, da harre der Tod,
Weiß nicht, ob er lächelt, weiß nicht, ob er droht.
So wandre ich, wandre ich Nacht und Tag
Wolken, Sternen und Schatten nach.
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Reise ins Ich
Das lyrische Ich in diesem Gedicht entdeckt bei seiner Reise ins Innere ein paar alte Gräber, die sein Ich mit durchs Leben schleppt.
Heinrich Hart · 1855-1906
Abgrund des Ichs
Abgrund des Ichs! Ins Ich tauch’ ich hinab
Und finde keine Schranken, keine Grenzen.
Dort in der Dämmerung reiht sich Grab an Grab,
Hier wogt das Licht und frische Saaten glänzen.
In jenen Gräbern ruht mein frühes Leid,
Mein erstes Lieben und mein erstes Hassen.
Tot! Alles tot und bleibt es auch alle Zeit
In mir, und wird von meinem Ich nicht lassen.
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Ein kurzes Rilke-Gedicht über das Leben
Hier resümiert Rilke das Leben eigentlich auf eher optimistische Art.

Ein Tropfen Leben
Das Bild eines Tropfens verwendet der Dichter in diesem kurzen Gedicht über das Leben, um die Frage zu stellen nach dem, was bleibt.
Jakob Loewenberg · 1856-1929
Leben
Ein Tropfen gleitet am Baum herab,
erst langsam, zitternd, sachte, sacht.
dann immer tiefer, schneller, schnell
bis in der Erde dunkle Nacht.
Wo war er nur? Was blieb von ihm?
Ein Hauch, der spurlos sich verliert.
Ob nicht der Baum im tiefsten Mark
Den kleinen Tropfen doch gespürt?
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Plädoyer für das ganze Leben
Der Harlekin plädiert in seinem kurzen Gedicht über das Leben fürs Mitnehmen all der Schmerzen.

Gedicht vom einfachen Leben
Merkwürdigerweise schreibt Dichter Gleim ein Gedicht von Dichter Claudius (Asmus) an dessen Frau (Rebekka). Vielleicht ist das Leben doch nicht so einfach, wie in diesem Gedicht nahegelegt.
Johann Wilhelm Ludwig Gleim · 1719-1803
Asmus an Rebekka
Fritz, der König, baut Paläste,
Wird nicht fertig, stirbt zu früh.
Meine Schwalben baun sich Neste,
Werden fertig! Sieh nur, sieh:
Täglich feiern sie sich Feste,
Fliegen singend aus und ein,
Liebes Weib, was mag das Beste –
Palast oder Hütte – sein?
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Lebensgenuss
Ein Plädoyer, auch Wein, Weib und Gesang im Leben mitzunehmen, ist dieses Kurzgedicht, denn ohne ... man kann’s nicht sagen:

Jugend und Alter
Das Alter mag, was die Lebensart angeht, seine Vorzüge haben und dennoch vermisst der Dichter in diesem Gedicht etwas.

Das Leben – Kurzfassung
Keine Bange, in diesem Gedicht wird nicht das Leben verkürzt, sondern die Beschreibung desselben. Es ginge natürlich noch kürzer, aber „rums bums aus“ reimt nicht durchgängig.

Das freie Leben
Das wusste Buddha schon, dass ein Leben frei von Begierden eine befreiende Wirkung hat. In Zeiten, wo man tagtäglich die Schönen und Jungen in den Medien sieht, muss man daran wieder erinnern.
Samira Schogofa · geb. 1958
In meiner verbrauchten Haut
In meiner verbrauchten Haut
bin ich sehr gern zuhaus.
In meinem Schorfgehäuse
kenn’ ich mich aus.
Muss nicht mehr brünstige Blicke stumm ertragen.
Muss nicht mehr Schürzenjäger schroff verjagen.
So manches Leid erzählen meine Falten.
Ab jetzt gehör’ ich endlich zu den Alten.
Amouren sind mir einerlei.
Nun bin ich frei.
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Gedicht über den richtigen Zeitpunkt
Ein Gedicht für die ewig Unzufriedenen: Wenn man schon mal Glück im Leben hat, dann natürlich zum falschen Zeitpunkt.
Jakob Haringer · 1898-1948
Tränen im Wein
Rosen, Rosen blühn ...
Und sind verschneit –
Einmal, wenn was käm
Zu seiner Zeit!
Sehnsucht, Hoffen hat
Uns längst verprasst;
Alles Glück, es kommt,
Wenn’s nimmer passt.
Wenn wir alt und müd
Und todbereit –
Einmal, wenn was käm
Zu seiner Zeit!
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Das Leben als Fasttreffer
Und hier präsentiert Fontane eine weit verbreitete Lebenserfahrung: Immer wenn man denkt, man hat es, hat man’s nicht.

Noch ein kurzes Fontane-Gedicht übers Leben
Eine pessimistische Lebenssicht präsentiert Fontane in diesem kurzen Gedicht. Wenn man sich die letzten 5000 Jahre der Menschheit anguckt, ist er aber vielleicht auch nur realistisch.

Eine Lebensweisheit von Fontane
Eigentlich ist das Thema dieses Gedichts ein alter Hut, der aber oft vergessen wird. Von daher dient es als Erinnerungsknoten im Taschentuch (nicht im Hut), dass das Innere zählt, nicht das Äußere.

Ein alter Grieche über das Leben
Standesgemäß in Distichen (=Hexameter+Pentameter) denkt ein alter Grieche in diesem Gedicht über das Leben nach.
Aesop · etwa 6. Jhdt. v. Chr.
Ohne den Tod, wie entflöhe man dir, o Leben? ...
Ohne den Tod, wie entflöhe man dir, o Leben? Da tausend
Übel du hegst: Nicht zu fliehn, noch zu ertragen ist leicht.
Lieblich zwar ist und schön, was Natur schafft: Erd und Gewässer,
Und die Gestirne, des Monds, Helios strahlender Kreis,
Alles das andere jedoch ist Trübsal und Furcht, und wenn einer
Gutes erfährt, zum Lohn trifft ihn die Nemesis leicht.
(Übertragen aus dem Griechischen von Wilhelm Hertzberg)
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Kommentar:
Zwei Begriffe blieben unübersetzt: Helios ist die Sonne (auch die Sonnengöttin) und Nemesis die Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit.


