Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
4 - Haufenreim
Jetzt wird es ernst, oder anders gesagt: Der Spaß beginnt. Ein Haufenreim nutzt nur einen einzigen Reim, aber den gleich haufenweise. Ab vier Versen hintereinander mit dem gleichen Reim würde ich von Haufenreim sprechen, darunter gibt es noch Paarreim und Dreireim. Ein Haufenreim kann also des Deutschen liebste Strophe, die vierzeilige, füllen oder gleich ein ganzes Gedicht:
Ich weiß ein schönes Märchen.
Es war ein schönes Pärchen,
Hieß Hänselchen und Klärchen,
Die pflückten Blum’ und Ährchen,
Und aßen reife Beerchen.
Das Klärchen hatt’ ein Härchen,
Das Hänselchen ein Scheerchen;
Das war ein goldnes Härchen,
Und das ein silbern Scheerchen.
Das Hänselchen nahm Klärchen,
Schnitt mit dem Silberscheerchen
Ihr in das goldne Härchen;
Da ging das goldne Härchen
Entzwei am Silberscheerchen;
Da ging das Silberscheerchen
Entzwei am goldnen Härchen.
Da weinte laut das Klärchen
Um ihr verlornes Härchen,
Und Hänschen mit dem Klärchen
Um sein zerbrochnes Scheerchen;
Laut weinte das Pärchen
Um Härchen und Scheerchen;
Gar viele, viele Zährchen.
Laut weinten Blum’ und Ährchen
Und alle reifen Beerchen,
Zusammen mit dem Pärchen
Um Härchen und Scheerchen.
Da saß im Busch ein Stärchen,
Das sah die vielen Zährchen,
Da sprach das kluge Stärchen:
Was weint ihr denn, ihr Närrchen?
Das Härchen und das Scheerchen,
Die Zährchen und die Ährchen,
Die Beerchen, und du Pärchen,
Und ich dazu, das Stärchen,
Sind alles nur ein Märchen.
(Friedrich Rückert – Märchen)
Rückert nutzt einen zweisilbigen Reim und profitiert von der Klangähnlichkeit bei e und ä, wobei er nicht nur am Versende reimt, sondern sogar innerhalb der Verse (Binnenreim), z.B. Vers sechs: Das „Klärchen hatt’ ein Härchen“. Kein Binnenreim ergibt Vers drei: „Hieß Hänselchen und Klärchen“, denn bei Hänselchen ist die erste Silbe betont und könnte die dritte betont werden, die mittlere ist schwächer als die umgebenden (kurzes e). Der Reim müsste also entweder ganz vorne anfangen oder nur aus der letzten Silbe bestehen, also dreisilbig oder einsilbig sein. „Klärchen“ gibt aber nur einen zweisilbigen Reim her, weil die erste Silbe betont wird.
Etwas weniger auffällig als der überwältigende Haufenreim ist, dass alle Verse genau sieben Silben haben. Deshalb gibt es manchmal Ausstanzungen: hätt’ (Vers sechs), verlornes (Vers 18), zerbrochnes (Vers 20), Blum’ (Vers 24). In so einem Spaßgedicht kann man sich das durchaus leisten und als ein erfahrener Dichter wie Friedrich Rückert sowieso, der ein Gefühl dafür hat, wann so etwas geht und wann nicht.
Und nun zum Ernst des Dichtens: Nimm eines der vorgeschlagenen Reimwörter aus dem vorigen Kapitel und mache daraus ein Haufenreimgedicht. Ich würde sagen Minimum acht Verse, auch Binnenreime sind möglich, ebenso Wiederholungen eines Reimwortes. Das Gedicht muss nicht unbedingt sehr sinnig sein, es zählt mehr das Überwältigen von Leserinnen mit einer Reimflut.
Um noch etwas mehr Reimauswahl zu haben, probiere www.echtreim.de. Das ist ein Onlinereimlexikon, das wirklich ein Riesenangebot an Reimmöglichkeiten bietet. Du wirst ziemlich aussieben müssen, was vielleicht passen könnte, sonst wird es zu viel. Allerdings musst du etwas aufpassen. Es werden dort auch dreisilbige Wörter angeboten, die auf der ersten Silbe betont sind: bauen – aushauen im Gegensatz zu bauen – verhauen. Nur im zweiten Beispiel sitzt die Betonung in der vorletzten Silbe richtig.
Damit es trotz der Masse an Reimen nicht ganz so einfach wird, eine Nebenbedingung: Der kürzeste Vers darf nur zwei Silben weniger haben als der längste, die Verse sollen also in etwa gleich lang sein. Na dann: Fröhliches Versebasteln.