Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Philosophische Gedichte

Dichter und Denker werden ja gerne in einem Atemzug genannt, und Dichter gelten auch durchaus als Weisheitskünder. Was sie denkerlich tatsächlich drauf haben, soll sich auf dieser Seite mit philosophischen Gedichten zeigen. Dabei finden sich die verschiedensten philosophischen Richtungen in den Gedichten wieder. Der Bogen wird gespannt vom Barock bis zur Neuzeit. Dann hoffen wir mal, dass die Gedankenpfeile – rein philosophisch natürlich – treffen.

 
 

Gedicht über grüne Philosophie

Das Grünzeug in groß, Bäume genannt, hat auch eine Philosophie. Wie üblich alles nur geklaut, in diesem Fall von den alten Chinesen.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Die Philosophie der Bäume

Sie stehen nur herum,
und tun anscheinend nichts,
doch alles wird getan.

Sie trauen
der Sonne Strahlen,
des Regens Tropfen,
der Winde Sausen.

Sie gehen keinen Schritt,
verlassen nie den Platz,
doch kennen sie die Welt.

Sie wissen
die Zeit zu grünen,
die Zeit zu reifen,
die Zeit zu lassen.

Offensichtlich haben die Bäume des Waldes
das alte chinesische Buch vom Dao
gelesen,
verstanden
und leben danach.

Urheberrechtshinweis

 
 

Glücksphilosophie

Wenn auch der Dichter kein Ewiggestriger ist, so bringt er doch in diesem Gedicht seine Philosophie des gestrigen Glücks unter die Leute.

John Dryden · 1631-1700

Glücklich der Mensch ...

Glücklich der Mensch und glücklich allein
jener, der nennt den Tag ganz sein.
Jener, der spricht von sichrer Seite:
Morgen, was du auch bringst, ich lebte heute.
Sei es gut, schlecht, Regen oder Sonne,
Freuden, die gewesen, bleiben meine Wonne.
Alle Himmelsmacht zwingt nicht zurück
vom vergangnen Tage mein erlebtes Glück.

Übertragen aus dem Englischen von Hans-Peter Kraus

Urheberrechtshinweis

 
 

Eine philosophisch-praktische Anleitung

So wünscht man sich die Philosophie: Als praktischen Leitfaden fürs Leben, so dass es bald vorwärtsgeht, wenn die Basis stimmt.

Hans Retep · geb. 1956

Kurze Anleitung für innere Fortschritte

Manchmal reicht ein kleiner Schritt,
manchmal muss man springen,
manchmal nur zur Seite gehen,
manchmal einen Schritt zurück,
doch zuallererst:
Fest mit beiden Beinen auf dem Boden stehen.

Urheberrechtshinweis

 
 

Philosophischer Lebenstraum

Was ist Leben? Was ist Traum? Das ist philosophisch-lyrisch nicht so einfach zu klären. Und Schuld daran sind wie immer die alten Chinesen.

Georgi Kratochwil · geb. 1979

Schmetterlings-Ich

Ich träumte …
Wer träumte?
Ich träumte …
Wer träumte?
Träumte ich, dass ich ein
Schmetterling sei und flog
von Blume zu Blume und es war
ewiger Sommer?
Ich wachte auf …
Wer wachte auf?
Ich wachte auf …
Wer wachte auf?
Wachte ich auf oder träumt
ein Schmetterling ein Mensch
zu sein und wird aufwachen, um von
Blume zu Blume zu fliegen im
ewigen Sommer?

(Nach Dschuang Dse, Der Schmetterlingstraum, in: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland)

Urheberrechtshinweis

 
 

Nihilistisches Gedicht

Nihilisten sind die bösen Buben der Philosophie, weil wenn alles nix ist, worüber soll man dann noch reden? Dabei haben Nihilisten nur einen anderen Zeitrahmen.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Nihilist zu sein ...

Nihilist zu sein,
gilt immer noch
als anrüchig.
Wie kann man glauben,
dass das Leben keinen Sinn hat?
Dass alles nichts ist?
Die Antwort lautet:
Wiederholen Sie bitte die Frage
in einer Trilliarde Jahre,
wenn das Universum etwas reifer.

Urheberrechtshinweis

 
 

Gedicht von Welt

Keiner weiß, wie sie wirklich aussieht: die Welt. Wird auch nie jemand wissen, weil man nicht anders gucken kann, als man gucken kann. Und wenn doch, siehe Gedicht.

Hans Retep · geb. 1956

Die Welt sehen

Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist,
wir sehen die Welt nur, wie sie uns erscheint.
Das haben wir mit allen Tieren gemeinsam.
Sähen wir die Welt, wie sie wirklich ist,
würden wir wissend, aber einsam.

Urheberrechtshinweis

 
 

Philosophisches Staunen

Wahre Philosophie ist, nie mit dem Staunen aufzuhören, denn damit gibt man zu, dass man eigentlich nur weiß, dass man nichts weiß.

Werfel: Ich staune

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Die Philosophie des Konstruktivismus

Überraschend alt scheint die Idee zu sein, dass die „Außenwelt“ nur eine Konstruktion der „Innenwelt“ ist.

Rittershaus: Das Auge

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Vergänglichkeit der Welt

Ab einem gewissen Alter erscheint die Vergänglichkeit das größte philosophische Thema der Welt zu sein. In diesem Gedicht wird es zumindest etwas blümerant verkauft.

Opitz: Schönheit dieser Welt vergehet ...

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Netzwerk-Philosophie

Gleich Plagiatoren zu sagen, das ist nicht nett, aber so ist das eben, das Leben gleicht einem Netzwerk mit so vielen Knoten wie es Menschen gibt und überall verfängt sich was.

Lichtenstein: Die Plagiatoren

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Durchs Leben wandern

Das ist auch eine Philosophie: ständig in Bewegung und unbeeindruckt von der fernen Zukunft zu bleiben, die den Tod bedeutet.

Peter Baum · 1869-1916

Ich wandere

Ich wandre und kenne nicht Zeit noch Raum
Und lächle ins Leben, als sei es ein Traum,
In wehenden Gärten, die Dämmerung umflicht –
Ich staun’ wie ein Kind in das zitternde Licht. –
Sie sagen, ich altere Jahr um Jahr,
Mir welke die Wange, mir bleiche das Haar,
Am Ende des Weges, da harre der Tod,
Weiß nicht, ob er lächelt, weiß nicht, ob er droht.
So wandre ich, wandre ich Nacht und Tag
Wolken, Sternen und Schatten nach.

Zu HaikuHaiku: Kurzgedichte philosophischer Art