Gedichte über die Zeit
Die Zeit ist ein schwer fassbares Phänomen, irgendwie da und doch nicht da, also ideal für Dichter, die ihre eigenen Gedanken rund um das Thema spinnen können und in ihren Gedichten über die Zeit weise Ratschläge zum rechten Umgang mit ihr geben.

Eine Welt ohne Zeit
Dieses Gedicht stellt eine Hypothese über „sie“ auf, die wissenschaftlich noch zu beweisen wäre. Falls jemand Zeit hat, kann er das ja mal probieren.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Ohne sie
Du kannst sie nicht sehen.
Du kannst sie nicht hören.
Riechen, schmecken oder fühlen
kannst du sie auch nicht.
Ohne sie
wär kein Anfang und kein Ende.
Ohne sie
wär kein Leben und kein Tod.
Ohne sie
wär alles nichts.
Doch nichts
wäre nicht.
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Verschiedene Weisen, die Zeit zu betrachten
Was Zeit ist, wie sie sich „bewegt“, hängt davon ab, welche Fortbewegungsmethode bevorzugt wird. Doch in diesem Gedicht sind nicht alle davon überzeugt, dass sich die Zeit bewegt.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Zeitweise
Für Menschen geht die Zeit voran,
für Bäume wächst sie hinauf,
den Vögeln fliegt sie südwärts,
den Fischen schwimmt sie stromab,
nur die Schweine behaupten,
die Zeit sei ein Schlachthaus
und haben nicht ganz unrecht.
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Gedicht über die menschliche Zeit
Im Allgemeinen wird angenommen, dass wir ja doch relativ langlebige Lebewesen sind, aber relativ betrachtet im richtigen Maßstab tendiert unsere Lebenszeit gegen Null.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Einminütige Geschichte
Ich war
eine hundertstel Sekunde
zugegen
auf der Erdkruste.
Das ist natürlich übertrieben,
so lang war es dann doch nicht, aber
eine hundertstel Sekunde ist die kleinste Zeiteinheit,
die Menschen bereit sind, denkend zu akzeptieren.
Man sagt: ein Wimpernschlag.
Hätte ich von eineinhalb tausendstel Sekunden gesprochen,
was der Wahrheit wesentlich näher käme,
wäre die sofortige Blockierung des Verstands
die Folge gewesen.
Und Menschen mit blockiertem Verstand
sind kein schöner Anblick,
siehe all die Massaker
in unserer einminütigen Geschichte.
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Relative Zeit
Der Grundgedanke der einminütigen Geschichte ist: Wie verändern sich die Zeiträume, wenn man das Alter der Erde, also 4,5 Milliarden Jahre, auf die vierundzwanzig Stunden eines Tages herunterrechnet? Die Überlegung dahinter: Die zeitlichen Verhältnisse sollen in fassbaren Dimensionen gezeigt werden, denn mit Milliarden oder selbst Millionen Jahren kann niemand etwas anfangen. Das sind Zeiträume völlig außerhalb unseres Vorstellungsvermögens.
Die errechneten Zahlen sind ziemlich ernüchternd. Die Menschheit, selbst wenn man Vorformen des Homo Sapiens berücksichtigt, kommt auf etwa drei Millionen Jahre, freundlich gerechnet also nur eine Minute auf der Vierundzwanzigstundenskala. Das rückt die Bedeutung der Menschheit für diesen Planeten in die Nähe einer Eintagsfliege, die kaum geboren, von einem Fressfeind vertilgt wird. Nimmt man das Auftreten des Homo Sapiens als Grundlage (etwa vor 300.000 Jahre), dann würde sich die Dauer auf sechs Sekunden reduzieren. Über die Zeitdauer ab der Industrialisierung reden wir besser gar nicht und ein einziges Leben, so 75 bis 80 Jahre, reicht nicht mal für einen Wimpernschlag.
Und damit die guten Nachrichten nicht abreißen: Nähme man das Alter des Universums als Maßstab (etwa 13,5 Milliarden Jahre), kämen wir der Bedeutungslosigkeit um den Faktor drei näher, und das ist ja nur der Blick zurück.
Das Universum hat eine Lebenserwartung weit jenseits von Trilliarden Jahren. Da kann die Menschheit noch sehr strampeln, ihre Lebensdauer wäre auf der Vierundzwanzigstundenuhr nicht mehr im messbaren Bereich. Ähnlich tolle Ergebnisse erhielte man, wenn man die technische Meisterleistung, auf dem Mond zu landen, ins Verhältnis zu den Entfernungen im Weltall setzte.
Die letzte gute Nachricht ist somit: Entspannen Sie sich, aufs Ganze gesehen ist Ihr Leben vollkommen nichtig und bedeutungslos.

Zeitreichtum
Zeit zu haben, das ist der wahre Reichtum, nur leider weiß die Stunde, was es geschlagen hat und nutzt einen unfairen Trick, um Leute mit Zeit zu berauben.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Eine Stunde ist so reich ...
Eine Stunde ist so reich,
sie hat sechzig Minuten,
dreitausendsechshundert Sekunden,
dreikommasechs Millionen Millisekunden,
und doch: All ihr Reichtum
interessiert sie nicht.
Sie spielt am liebsten
an einem alten Drehknopf,
der die Zeit beschleunigt
oder verlangsamt
gerade dann,
wenn’s nicht passt.
So sind eben reiche Leute,
sie haben alles und lassen
dennoch keine Gelegenheit aus,
den Rest der Welt mit ihren Launen zu quälen.
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Zeit anhalten
Wäre das nicht schön, wenn man die Zeit einfach mal anhalten könnte, weil es einem gerade so gut geht? Im Gedicht geht das, hat aber Nebenwirkungen.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Für immer
Ich war fünf Jahre alt,
als ich an einem schönen Sommertag
zu meiner Mama sagte:
So soll es immer bleiben.
Sie lächelte
und so blieb es.
Immer Sommer.
Immer schön.
Ich wuchs nicht.
Ich wurde nicht älter.
Ich lernte nichts hinzu.
Ich war und bin und bleibe
für immer
tot.
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Zeittempo
Es ist altbekannt, dass man die Zeit nicht anhalten kann, die Nebenwirkungen wären auch nicht von Pappe. Deshalb macht dieses Gedicht einen anderen interessanten Vorschlag.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Die Zeit vergeht ...
Die Zeit vergeht
sich an allem, was da kreucht und fleucht,
doch bliebe sie stehen,
wäre es auch nicht recht,
wie soll man da atmen?
Was sie probieren könnte:
Sich hinlegen und ein bisschen träumen,
das gäbe sicher interessante Zeiten.
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Die gespaltene Zeit
Wenn man sich überlegt, was hätte passieren können, wenn ... kann das lustig sein. Hier besteht jedoch der Witz darin, dass das „Hätte-Wenn“ tatsächlich passiert ist.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Zehn Minuten in alle Ewigkeit
Ich habe heut morgen nicht den Bus verpasst.
Ich habe mich daher auch nicht geärgert,
und dann habe ich eben zehn Minuten nicht gewartet.
Während ich im Bus zur Arbeit fuhr,
habe ich nicht den Kartoffelmann
mit dem Pferdewagen gesehen,
und ich sah auch nicht,
wie er auf Höhe der Haltestelle ausspuckte.
Ich habe nicht all die Autos vergessen,
die nicht an mir vorbeifuhren, bis auf die Nonne
im weißen Mercedes.
Als der Bus dann nicht kam,
sah der Busfahrer auch nicht aus
wie der junge Leonard Bernstein,
mit Brille, kaugummikauend.
Ich gebe zu, die Sache hat einen kleinen Haken.
Ich kann mich verdammt noch mal nicht daran erinnern,
was ich gesehen habe,
als ich im Bus zur Arbeit fuhr,
während ich nicht
an der Haltestelle stand.
Das ist vielleicht ganz normal,
wenn man jeden Tag die gleiche Tour macht.
Schlimmer ist,
dass ich den Einfall zu diesem Text
nicht haben konnte,
diesen Text also nicht schreibe,
nur was tue ich stattdessen?
Und was noch schlimmer ist:
Sie können diesen Text nicht lesen, aber was tun Sie gerade?
Und welche Auswirkungen hat das auf Ihr Leben?
Und welche Auswirkungen hat das, was Sie tun,
während Sie diesen nichtgeschriebenen Text nicht lesen,
auf das Leben anderer?
Vielleicht wäre es doch besser gewesen,
ich hätte heut morgen den Bus verpasst.
Dann könnte ich diesen Text schreiben,
und wir wären alle fein raus.
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Kommentar:
Das Gleiche als Kurzgeschichte gibt es bei ziemlichkraus.de. Und wenn sich jemand fragt, was war zuerst da? Gedicht oder Geschicht’? Ganz klar das Gedicht.

Gedicht über die Stein-Zeit
Was ist der Unterschied zwischen Steinzeit und Stein-Zeit? Steinzeit ist eine menschliche Perspektive, während Stein-Zeit nur Stein und Zeit ist, und darum geht es in diesem Gedicht.
Maike Suter · geb. 1966
Das Fossil
Zeit verstreicht
Zeit verzeiht
Zeit wird
Stein
Stein ist Zeit
Stein ist Stein
Stein bleibt
Stein
Schicksal webt
Erde bebt
Stein lebt
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Kommentar:
Mehr zur Dichterin auf ihrer eigenen Website.

Zeitreise
Zeitreisen sind eine komplizierte Angelegenheit, weil: Konsequenzen. Alles, was in der Vergangenheit passiert, hat Konsequenzen für die Zukunft, die die Gegenwart für einen Zeitreisenden in die Vergangenheit ist.
Maike Suter · geb. 1966
Wer sie gewesen war
ich sehe die Kleine
missmutig am Klavier sitzen
mit zusammengebissenen Zähnen
übt sie die verhassten Tonleitern
aufwärts abwärts
aufwärts
ich setze mich neben sie
sie schaut mich kurz an
mit diesem leeren Blick
den Kinder immer
für fremde Erwachsene haben
dann starrt sie wieder auf das Klavier
und verzieht das Gesicht
ich komme aus der Zukunft
flüstere ich ihr zu
und spüre
sie glaubt mir sofort
so sind kleine Mädchen
ich kann mich noch erinnern
dieses Klavier
ist nicht was du glaubst
wispere ich verschwörerisch
in Wirklichkeit ist es
eine Zeitmaschine
dann erkläre ich ihr
wie man durch die Zeit reist
erzähle von meinen Abenteuern
von meinen Freunden
Ludwig, Wolfgang und Johann Sebastian
sie hört mir zu
betrachtet das Klavier
mit zusammengekniffenen Augen
noch skeptisch
ich weiß
leise gehe ich aus dem Zimmer
lasse sie allein mit allem
was ihr jetzt durch den Kopf schwirrt
ich kann mich noch erinnern
die fremde Frau tauchte nie wieder auf
nachdem sie mir damals
all das erzählt hatte
viele Jahre später erst
begriff ich
wer sie gewesen war
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Kommentar:
Mehr zur Dichterin auf ihrer eigenen Website.

Die Zeit beim Wort genommen
Dieses Gedicht wühlt ein bisschen in der Wort-Schatzkammer beim Thema Zeit und findet am Schluss aber doch was Neues.
Ildikò Tresnic · geb. 1976
Der Zeit gemäß
Die Zeit hat einen Anfang,
und alles hat seine Zeit.
Man braucht sich nur
die Zeit zu nehmen, denn
alles braucht seine Zeit.
Die Zeit ist geistreich,
jede Zeit hat ihren Zeitgeist.
Zeit wird auch zu Geld -
wo bleibt die Seele?
Die Zeit naht, ist reif, wird knapp
und vergeht letztendlich.
Wohin drängt sie eigentlich?
Selbst wenn ich sie,
aus Überdruss,
vertreibe, gar totschlage –
ja, t o t –,
lebt sie trotzdem weiter,
dieses zeitlose Luder!
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Gedicht über Zeit und Zeitlosigkeit
Die Zeit kommt auch ganz gut ohne uns klar, aber wir nicht ohne sie, denn der Traum vom zeitlosen Leben wäre zu Ende gedacht eher ein Albtraum. Daher wundert es nicht, dass, wie in diesem Gedicht, Leute ohne Plan in Sachen Zeit von Zeitlosigkeit träumen.
Anemone von Berg · geb. 1968
Zeit
Die Zeit, sie fragt nicht nach der
Uhr,
bleibt niemals steh’n, ist einfach
nur
Zeit. Zeit, die uns gegeben,
in der wir Zeitlang leben.
Das Leben schaut nicht auf die
Zeit.
Es lebt, vergeht, was nach ihm
bleibt,
ist Zeit. Endlose Weiten
in Tiefen, Höhen, Breiten.
Die Zeit ist nur mit Zeit gefüllt,
die Welt ist in sie eingehüllt.
Der Mensch kann sie nicht fassen,
müht sich, sie los zu lassen ...
Zeitlos leben, denken, handeln,
zwanglos durch die Tage wandeln
–
Davon träumt ein jedermann,
der mit Zeit nicht umgeh’n kann!
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Das Gedicht tickt
Nicht nur die Zeit tickt, auch dieses Gedicht. Die Frage ist: Was ist das Ziel von Zeit und Gedicht?
Siegfried Stöbesand · geb. 1954
wohin?
alles
läuft in der zeit
ab
und
zu
läuft
alles in der zeit
ab
und
zu
läuft
alles
in der zeit
ab
weg
und
ab
und
zu
und hin und weg
und hier und jetzt
und dann
wann
wohin?
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Ein Gedicht über die Zeit aus dem Barock
Eine barocke Zeitauffassung mit religiösen Zügen offenbart Andreas Gryphius in seinem Gedicht über die Zeit, obwohl die Betonung des Augenblicks wiederum sehr modern ist.


Ein Schiller-Gedicht über die Zeit
Schiller greift auf einen alten Chinesen zurück, um seine Gedanken über die Zeit darzulegen.


Ein Gedicht über die Zeit von Wilhelm Busch
Wilhelm Busch hat sich die Zeit näher angeschaut und festgestellt, dass sie einer alten Bügelfrau ähnelt. Der Busch verstand es, Komplimente zu machen.


Gedicht über Zeit und Wahrheit
Man kann die Wahrheit unter dem Mantel des Schweigens verstecken oder überlässt die Sache der Zeit, wie dieses Gedicht demonstriert.


Ein Fontane-Gedicht über die Zeit
Fontane erinnert in seinem Gedicht daran, dass die Zeit selbst die hitzigsten Gefühlsaufwallungen abkühlt. Recht hat er, und wer da widersprechen will, sollte erst mal eine Nacht drüber schlafen.


Eine etwas andere Betrachtung der Zeit
Eine etwas überraschende Erkenntnis verbreitet Gottfried Keller in seinem Zeitgedicht: Die Zeit steht still.


Ein Lehrgedicht über die Zeit
Das ist ja ganz nett, wenn die Zeit als ein weißes Blatt Papier beschrieben wird, nur sollte man besser nicht auf die Rückseite gucken, denn da steht immer dasselbe Wort.


Ein Gedicht über Zeit und Tod
Die Ähnlichkeit dieser beiden unsichtbaren und doch das Leben bestimmenden Phänomene zeigt dieses Gedicht auf.
Richard von Schaukal · 1874-1942
Die Zeit
O Zeit, du gehst dahin
und eilst mit solcher Macht
gradaus durch Tag und Nacht,
dass ich voll Grausen bin.
Ob ich vermein zu stehn,
du reißest mich hinweg:
wo ich kaum war, den Fleck
kann ich schon nicht mehr sehn.
Und bist dabei so still:
es wär mir wahrhaft Not,
woran ich dich vom Tod
noch unterscheiden will.
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Lesetipp:
Mehr zum Thema Zeit und Tod bieten die Gedichte über Vergänglichkeit.

Ein Gedicht von Rilke über die Zeit
Ein Horrorszenario entwirft Rilke in seinem Gedicht, doch die Zeit kann nichts dafür, weil ...


Gedicht über einen Zeitdieb
Keiner weiß, wie sie aussieht, aber trotzdem kann man sie stehlen: die Zeit. Und wie dieses Gedicht zurecht moniert, hat das Strafgesetzbuch hier eine zu Himmel schreiende Lücke gelassen.
Heinrich Wilhelm von Stamford · 1742-1807
Der Besucher
Freund, nähmst du mir Juwelen, Geld und Kleid,
So würdest du vielleicht gehangen;
Nun raubst du mir tagtäglich meine Zeit,
Das Beste, was der Himmel mir verleiht,
Und ach! ich darf dich nicht einmal deshalb belangen.
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