Gedichte über Vergänglichkeit 1
Was wird, vergeht, so könnte man sich ungereimt die Vergänglichkeit zusammenreimen. Die Damen und Herren Dichter haben das Thema natürlich wesentlich eleganter und ausführlicher beackert. Die Auswahl beschränkt sich auf die Gedichte der Moderne. Für ältere Stücke über die Vergänglichkeit seit dem Barock ist Seite 2 zuständig.
Terzinen über Vergeblichkeit
Terzinen, ein altes italienisches Strophenmuster – allerdings nicht gereimt, sondern nur assonierend –, dienen zur Veranschaulichung der Vergeblichkeit allen menschlichen Treibens.
Emanuel Mireau · geb. 1974
Vergeblich
Vergeblich fliehst du aus Städten.
Vergeblich isst du kein Tier.
Vergeblich dienst du den Menschen.
Vergeblich liebst du dein Kind.
Vergeblich folgst du den Flüssen.
Vergeblich suchst du nach Sinn.
Vergeblich liest du in Büchern.
Vergeblich wahrst du die Form.
Vergeblich ringst du um Würde.
Vergeblich sprichst du zu Gott.
Vergeblich schreist du um Hilfe.
Vergeblich bittst du den Tod.
Vergeblich schreibst du:
Vergeblich …
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Vergänglichkeit in vier Versen
Kurz und schmerzhaft kommt die Vergänglichkeit in diesem Gedicht zur Geltung, Stimmungstöter sozusagen.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Kurznachricht an alle, die gut drauf sind
Eure Augen werden erblinden,
Eure Ohren werden taub,
Euer Lachen wird verstummen,
Und ihr – werdet Erde, Asche, Staub.
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Vergehen verstehen
Sich mit der Vergänglichkeit abzufinden, ist nicht einfach, aber letztlich versteht man, dass es so sein muss. Tröstlicherweise deutet „vergehen“ ein gemächliches Tempo an. Es gibt jedoch ein Wort in der deutschen Sprache, das wesentlich radikaler den Prozess der Vergänglichkeit beschreibt, wie das folgende Gedicht zeigt.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
ein schwerer Gang
stehen heißt nicht gehen
vergehen heißt nicht stehen
bleiben zu können
verstehen heißt weiter zu gehen
vergehen zu verstehen ist
ein großer Schritt im Menschenleben
das Wort Lebenslauf
in seiner ganzen Tragweite
zu verstehen
bleibt für den Verstand dennoch
ein schwerer Gang
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Ein Gedicht sehr wahrscheinlich zur Vergänglichkeit
Dies ist eins dieser Gedichte, bei denen man als Schüler möglicherweise Albträume kriegen würde, müsste man es interpretieren. Ich bin zumindest sicher, dass es hier um das Thema Vergänglichkeit geht. Alles Andere überlasse ich den Albtraumgeplagten.
Emanuel Mireau · geb. 1974
Plädoyer für die Nacht
Die Nacht ist ein Baum,
groß und schweigend,
der seinen Schatten
sanft über die Steine legt.
Der Tag ist ein Blumenbeet,
schreiend bunt,
durch dessen Grund sich blinde Würmer winden.
Das Blumenbeet ist schnell zertreten,
die Würmer sind leichte Beute.
Doch wehe,
wehe! der Baum wird gefällt.
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Vergänglichkeitsklage
Ein englischer Romantiker bringt die Vergänglichkeitsklage des „Niemals mehr“ vor – was ja nicht nur eine schlechte Nachricht ist.
Percy Bysshe Shelley · 1792-1822
Ein Klagelied
O Welt! O Leben! O Zeiten!
Auf letzten Stufen muss ich schreiten,
Zitternd vor dem, was zuvor kein Beschwer;
Wann wird dich wieder glorreiche Blüte leiten?
Nie mehr – ach, niemals mehr!
Aus meinen Nächten und Tagen
Die Freude will sich mir entsagen;
Frühling und Sommer und Winters Heer
Drücken mein Herz mit Leid, doch entzücktes Schlagen
Nie mehr – ach, niemals mehr!
Übertragen aus dem Englischen von Hans-Peter Kraus
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Zum Kuckuck vergänglich
Die Vergänglichkeit ist immer und überall, selbst beim Kuckucken des Kuckucks, und wer das nicht glaubt, kann ihn ja mal fragen:
Maike Suter · geb. 1966
Der Kuckuck hat schlechte Nachrichten
Kuckuck
Kuckuck
zehn
Kuckuck
sag mir doch
wie viel Jahre leb ich noch
singt eine Kinderstimme
irgendwo in meiner Erinnerung
zwanzig
dreißig
ich muss lächeln
über die dumme Frage
Kuckuck
Kuckuck …
hundertdreiundzwanzig
denke ich plötzlich
und erschrecke
zweihundertdreizehn
dreihundertvier
vor meinem inneren Auge
rasen Jahrhunderte vorbei
alles um mich herum wird vergehen
nur ich werde bleiben
was für eine schreckliche Vorstellung
der Kuckuck ruft
und ruft
ohne Pause
stundenlang
ich wünschte er würde aufhören
stopfe mir die Ohren zu
am Abend erst
nehme ich die Stöpsel heraus
es ist still
später finde ich den Kuckuck
am Waldrand
tot
unter einem Baum
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Kommentar:
Mehr zur Dichterin auf ihrer eigenen Website.
Vergänglichkeit mit einer Prise Humor
Es muss nicht immer der ernste, mahnende Tonfall beim Thema Vergänglichkeit sein. Wenn man eh nichts zu verlieren hat, weil man eh verliert, kann man die Sache auch mit Humor nehmen.
Frederike Frei · geb. 1945
Um die Ecke ...
Mit Schreibpapier wird der Tag neu
bezogen. Dass er überhaupt kam, ein
Wunder. Ich kann und kann mich nicht
dran gewöhnen. Eines Tages bleibt er
mir weg,
ich sehe es kommen. Kaum schau ich
voraus, liegt das Leben
hinter mir.
Ich lauere aufs Ende. Es
kann mir nicht langsam genug gehen,
diese Droge
zu Gemüte zu führen.
Ich im
Mittelpunkt.
Wie sie mich
aufs Treppchen heben,
das immer zu
hoch war für mich aus dem Stand.
Erst der Tod macht mich leicht.
Neuerdings wohnt er
auf meinem Heimweg.
So wie er
dasteht, überlebt er
mich lässig. Kein Schwein kommt
gegen ihn an.
Ganz Hamburg nehme ich gut und gern
mit ins Grab.
Doch diese schwarzblanke Marmorfassade,
Ölzweig im Schilde,
wird das letzte Wort
behalten. Sie will mich kennen lernen
als Leiche. Starrt sie mir nach? Macht
sie sich schon an mich ’ran? Am Nachbarn
hat sie sich bereits vergriffen. Wie
komme ich morgen bloß live dran vorbei?
Jahrelang hab ich den Sargladen übersehen,
da lebte ich
ewig.
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Lesetipp:
Mehr Texte von Frederike Frei: www.frederikefrei.de
Vergänglichkeit im Spiegel
Dieses Gedicht schweift von der Vergänglichkeit im Spiegel ab in Richtung schöner Erinnerung.
Dietmar Füssel · geb. 1958
Erinnerung
Du siehst im Spiegel
dein altes, verlebtes Gesicht.
Es ist schon lange
faltenstarr.
Du lauschst
deinem eigenen Schweigen.
Deine Worte
sind Handelsware.
Du riechst
deinen eigenen Geruch.
Es ist der Geruch
alter Männer.
Du spürst und berührst
deine welkende Haut.
Wie warm und weich
war die ihre!
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Lesetipp:
Mehr von Dietmar Füssel auf seiner Website www.dietmarfuessel.com.
Vergänglichkeitsgedanken denken
Wenn die Welt so langsam trübe wird, ist es Zeit, sich gedanklich vorzubereiten: Die Vergänglichkeit ist unaufhaltsam und jeder stirbt für sich allein.
Samira Schogofa · geb. 1958
Genug
Im stillen Rückwärts
wird das Licht allmählich diesig.
Verwaiste Schatten schleichen lautlos
durch Tage, die
nun heimlich welken.
Dein Greisenherz schrumpelt.
Verstohlen schaust du himmelwärts
und stellst dir vor:
du stirbst allein.
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Entropisch vergänglich
Alles fällt – auseinander, und kein Halten und kein Stehen. Und keiner weiß weiter, so will das Gedicht es sehen.
Martina-Riccarda Niklis · geb. 1966
Entropie
Wir sind alle hier.
Zur gleichen Zeit.
Berühren uns flüchtig.
Und keiner weiß.
Wir sehen uns alle.
Im gleichen Moment.
Vergessen uns dann.
Und keiner weiß.
Wir denken an uns.
Vermeintlich für immer.
Und suchen die Namen.
Die jemand uns gab.
Und keiner weiß.
Wir treiben zusammen.
Und weg von einander.
Am gleichen Tag.
Und haben nicht mehr.
Und keiner weiß.
Wir Blätter.
Wir Halme.
Wir Staub.
Wir Wind.
Und keiner weiß.
Keiner weiß.
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Lesetipp:
Mehr von und über die Dichterin: www.oswords.de.
Nachdenken über Vergänglichkeit
Hugo von Hofmannsthal sucht beim Thema Vergänglichkeit die Verbindungen zu anderen Menschen, zu sich selbst und seinen Ahnen.

Vergänglichkeitstrümmer
Mit Bildern, die an Gedichte des Barock erinnern, wird in diesem Gedicht der Sieg der Natur über die Vergänglichkeit menschlichen Strebens geschildert.
Rolf Wolfgang Martens · 1868-1928
Zwischen des moosbewachsenen Marmortrümmern ...
Zwischen des moosbewachsenen Marmortrümmern
weiden Schafe.
Auf grünen Stängeln
nickt Mohn.
Um die zerbröckelnden Strebepfeiler der verfallnen Kathedrale
faulen Froschtümpel.
Hier oben
stand das Schloss.
In seinen Kerkern
spielen Eidechsen im Sonnenschein!
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Vergänglichkeit eines Hauses
Lange Zeit sieht ein Haus so aus, als ob ihm die Vergänglichkeit nichts anhaben könnte. Wenn’s dann aber doch bröckelt, geht es noch schlimmer zu Ende als beim Menschen, denn das Skelett bleibt stehen.
Leo Sternberg · 1876-1937
Das Haus
Ich habe mich nicht gebaut,
Ich habe mich nicht zerstört,
Habe vielen gedient,
Mir nie gehört.
Es zog manches Fest durch den Saal –
Wie hat das oben gelacht!
Unten drunter saß
Aber doch die Nacht.
Es glänzte die Sonne herein,
Es glimmten die Sterne herein,
Was ins Fenster geht:
Ein bisschen Schein.
Jetzt ohne Tür und Dach –
Ich sehe wohl weiter umher,
Keine Seele aber wohnt
Auch im Innern mehr.
Durch die Scharten der Wand noch ein Wind
Hier heraus und dort herein!
Wie bald und auch das
Wird gewesen sein.
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Lebenslauf
Auch wenn der Titel etwas Anderes andeutet, geht es diesem Gedicht nicht um eine Naturbeschreibung aus Rügen. Vielmehr wird ein Naturbild genutzt, um über die Vergänglichkeit zu sinnieren.
Friedrich Adler · 1857-1938
Auf Rügen
Unten schäumt das Meer empor,
hier zu meinen Füßen
springt ein Quell aus moosigem Tor,
froh, den Tag zu grüßen.
Und die junge Welle blitzt
auf im Sonnenstrahle,
überstürzt und überhitzt
hastet sie zu Tale.
Fast mit einem einzigen Blick
kann ich übersehen
ein vollendetes Geschick,
Werden und Vergehen.
Lange oder kurze Bahn,
arme oder reiche –
In dem weiten Ozean
ist die Ruh’ die gleiche.
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Nächtliche Vergänglichkeitsgedanken
Nachts sind nicht nur alle Katzen grau, sondern manchmal auch die Gedanken. Karl Kraus zeigt dies in einem auch formal streng durchkomponierten Gedicht.

Kommentar Karl Kraus:
Man ermesse aber die ungewollte Monotonie, den Gräuel einer Ödigkeit, die entstünde, wenn in diesem Gedicht die Schlusszeile in einem Reim auf „vergeht“ abwechselte. Doch vor der Möglichkeit solcher Abwechslung sichert es der durchwaltende Wille, hier nur wiederholen und nicht einklingen zu lassen; der einzige Reim, aus dem es besteht, dreimal gesetzt: „wende – Ende“ gibt die ganze Trübnis des Gedankens, welcher die Dissonanz: Tag, Frühling, Tod – entspricht.
(Aus: Karl Kraus, Der Reim, in: ders., Gedichte und Aufsätze zur deutschen Sprache, Bremen 2013, S. 42)
Vergänglichkeit im Spiegel II
So ein Spiegel ist eine nützliche Sache, man kann dort mehr sehen als man gemeinhin annimmt, in diesem Gedicht sogar, was man nicht sehen kann.
Wolfgang Borchert · 1921-1947
Weg
Ich seh in einen Spiegel – –
und bin so jung.
Dämmerung
wird sein,
wenn morgen ich in meinen Spiegel sehe,
Kerzenschein,
wenn hinter mir der bleiche Bruder steht.
Und dann – –
an irgendeinem Tage
ist der Spiegel leer.
Ich stand und sann
und flüsterte die Totenklage
meiner Jugend, schwer – – –
Gib mir mein Lachen!
Gib mir den Frieden wieder,
kalter Spiegel.
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Vergänglichkeit und Zeit
Ein nicht einfach zu erfassendes Verb nutzt Otto Pick, um einen Gegensatz zwischen der Zeit und unserer Vergänglichkeit aufzubauen.
Otto Pick · 1887-1940
Wie lange noch ...
Die Zeit entstirbt so dir wie mir,
Wie lange noch bestehn wir hier?
Was gibt uns Mut zu Wort und Tat?
Ist, dass wir sind, nicht schon Verrat
Am Gang der Zeit, die uns nicht braucht,
Die ohne uns ins Leere taucht,
Wie sie uns jetzt herunterreißt,
Den Frommen wie den Feuergeist.
Die Zeit entstirbt. Wir sind noch hier ...
Rafft’s mich nicht fort, so gilt es dir.
Was unser war, Leid, Schmerz und Glück:
Vorbei, vorbei ... Ins Nichts zurück.
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Die Lebenswelle
„Alles fließt“, sagten die alten Griechen und das lyrische Ich in diesem Gedicht möchte auf seiner kleinen Welle mitschwimmen, auch wenn das Ende im Meer unausweichlich ist.
Adam Kuckhoff · 1887-1943
Vita undae
Tu wie du willst, meine Welle:
Trage mich langsam, trage mich schnelle!
Aber – trage mich!
Führ mich durch sanfte, blumige Wiesen,
magst durch schäumende Schluchten fließen.
Aber – fließe!
Einmal braust doch der Sturm daher.
Einmal, ja, einmal –
Welle, o Welle! Schon seh ich das Meer!
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Vergänglichkeit in Daktylen
Der Leben vergeht noch viel schneller, wenn es in Daktylen gelebt wird, wie dieses Gedicht über die Vergänglichkeit eindrucksvoll zeigt.
Richard von Schaukal · 1874-1942
Wir
Leiden und Scheiden,
Schwinden und Gehn,
Lassen und Meiden,
Sinken, Verwehn:
nirgend nur weilen,
nimmer noch Ruh,
wallen wir, eilen,
Dunkel, dir zu.
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Was bleibt?
Nachdem die Vergänglichkeit in diesem Gedicht besinnlich, aber nicht übermäßig originell abgehandelt wird, bekommt man immerhin die Antwort auf die Frage „Was bleibt?“.
Alfred Scholtz · n. bek. um 1900
Abschluss
Die Jahre kommen und gehen,
Und eh’ wir’s uns versehen,
Ist unser Haar erbleicht.
Nur ferne Glocken hallen
Und welke Blätter fallen.
Bald ist’s erreicht!
Wo blieben die seligen Stunden?
Entflohen, verflossen, entschwunden!
Und wir, wir merken’s kaum ...
Die alten Bilder verblassen,
Und Leben, Lieben und Hassen
War nur ein Traum.
Und auch die Träume – sie schwinden
Und ziehen mit den Winden
Ins blaue, ferne Land ...
Nur eins bleibt uns allen
Von unserm Erdenwallen:
Drei Hände Sand.
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Rückblick
Der Blick zurück ist ein Blick in den Spiegel der Vergänglichkeit, und wie immer wenn man in den Spiegel guckt, muss man sehr tapfer sein, was man dort sieht.
Toni Schwabe · 1877-1951
Wenn ich nach rückwärts seh ...
Wenn ich nach rückwärts seh,
mach ich die Augen zu –
alles, was hold und schön,
fand seine Todesruh.
Heimat und Haus sind leer,
alles ist abgebrannt.
Nicht Sinn, nicht Hoffnung mehr –
auch du bist abgewandt.
Hör ich den Finkenschlag,
duftet das Frühlingsgrün,
ist noch der hellste Tag
wie ein Verblühn.
Geh ich durch weites Land
im Sonnenschein,
dunkel ruft’s hinter mir:
Du bist allein!
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Wohin wir wandern
Die Wanderung zwischen Sein und Nichtsein wird in diesem Gedicht reimend dargestellt. Dabei fällt ein Reim besonders auf. Der allererste, der sich ein bisschen zu oft wiederholt, als dass wirklich eitel Sonnenschein herrschen kann, und dann an entscheidenden Stellen wieder auftaucht
Emil Alphons Rheinhardt · 1889-1945
Wanderschaft
Wir wandern die Straße allein und zu zwein
In den jungen lachenden Tag hinein.
Da stehen die lichtgrünen Birken am Rain
Und die Felder erglänzen im Sonnenschein.
Und immer neue fluten heran
Und heben voll Liedern ihr Pilgertum an.
Die Schar ist so groß und der Reihen so dicht,
Wir schauen uns an und kennen uns nicht.
Wir gehen zu zwein und gehn wieder allein,
Und da vor uns wächst ein seltsamer Schein.
Trüb ballt sich der Staub; wir zögern den Schritt
Und bangen eigen: wir müssen mit.
Nun senkt sich die Straße hinab ins Tal.
Da bräunt sich der Wald und das Bunte wird fahl.
Voran gehen Scharen mit schleichendem Schritt;
Ein Grauen fasst uns: wir müssen mit.
Dann geht es gen Abend. Von den Höhen fällt Rauch.
Wir drängen uns nahe: „Freund, graut es dich auch?“
Und der zittert wie ich und wie du und wie wir.
Da schreit plötzlich einer: „Wir gehen ja irr!“
Die vor uns sind Schatten. Zuweilen bebt
Es durch uns, wenn dort einer ein Lied anhebt;
Ein Lied von dem seligen Wandertag.
Das klagt im Gedenken. Das Herz geht zag.
Wir schauen zurück und sind schmerzhaft wach;
Da drängen sie hinten unzählbar nach.
Und drängen von oben mit ihrem Gewicht.
Da hinten ist’s immer noch blendend licht.
Wir gehen in Reihen allein und zwein,
Und das Grausen frisst uns ins Herz hinein:
Jetzt holen wir die da vorne ein.
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Vom Vergehen vieler Dinge
Da sind die Lieder, die Liebe, der Glaube und alle vergehen während eines Menschenlebens. Vielleicht kann man daraus etwas lernen, auch wenn man kein Buddha ist.
Jerzy Zulawski · 1874-1918
Entschwunden
Einst wollte ein Lied mir im Herzen erschallen;
Ich hab es in Worten an mich nicht gebunden:
Es ist mir die Feder der Hand jäh entfallen ...
Das Lied ist entschwunden ...
Es neigten sich einstens zum Kusse mir Lippen;
Ich hab nicht die Wonne der Küsse gefunden,
Denn als ich verlangend an ihnen wollt nippen,
Sind sie mir entschwunden ...
War einer verwunschnen Prinzessin begegnet;
Doch eh ich mich ihr in Liebe verbunden,
Entschwand sie im Dunkel, das öd und verregnet,
Und ist mir entschwunden ...
Mich lehrte einstens Mutter fromm beten;
Ich habe gar oftmals den Trost drin gefunden,
Doch bald ward mein Glauben vom Leben zertreten
Und ist mir entschwunden.
(Aus dem Polnischen übertragen von Lorenz Scherlag)
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Vergänglichkeit akzeptieren
Alles geht den Bach runter: Das ist das vorherrschende Vergänglichkeitsgefühl. Aber: Man kann Vergänglichkeit auch als Loslösung von all den Wirren des Lebens betrachten oder mit anderen Worten gesagt: cool werden.
Ernst Preczang · 1870-1949
Der Alte
Er hörte es seit vielen Jahren,
Wie um ihn her die Sense klang,
Und wie ein lautes Volk von Staren
Dem Sommer Abschiedslieder sang.
Die Kinder jauchzten um die Frucht
Und schmausten von den vollen Zweigen –
Er sah die Sonne auf der Flucht
Und lächelte in mildem Schweigen.
Die Wiesen grau, der Himmel grau.
Feucht stieg sie auf in schweren Düften:
Er sah die weiße Nebelfrau
Die nassen Schleier tötend lüften.
Und wenn der Sturm und wenn das Wetter
Sich heulend an dem Fenster brach,
Dann schaute er dem Flug der Blätter
Mit seinen stillen Augen nach.
Dann drängte sich um ihn ein Schwarm
Von bangen, ängstlich-scheuen Kleinen;
Er nahm sie alle in den Arm
Und lächelte zu ihrem Weinen.
Und sagte: Eines Tages seid
Ihr so wie ich von allem Bangen,
Von aller dunklen Furcht befreit,
Und tränenlos sind eure Wangen ...
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Trotz Vergänglichkeit
Noch mal wird die Vergänglichkeit in diesem Gedicht akzeptiert, doch es geht noch weiter, weil es eben immer weitergeht.
Herbert Eulenberg · 1876-1949
Der Triumph des Lebens
Ich weiß, dass ich dies alles lassen muss,
Und sag es mir, selbst in den hellsten Stunden:
Nur kurze Zeit bin ich hier angebunden,
Dann treib ich wieder in dem großen Fluss,
Der ohne ein Beginnen, Ziel und Schluss
In seinem Kreislauf wogt, im ewig runden,
Und was ich hier gedacht, geschaut, empfunden,
Vertilgt wie nichts des Todes kalter Kuss.
Und doch, besinn ich recht dies dunkle Sterben,
So schein ich mich in ihm nicht zu verlieren:
Wir waren schon und blühn in unseren Erben,
Und ob wir lachend noch die Tafel zieren,
Ob wir am Boden liegen bei den Scherben:
Das Blut hört niemals auf zu triumphieren.
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Gedicht kurz vor der Nacht
Ein Gedicht darüber, dass man erst spät, vielleicht zu spät, weiß, wer mehr Mühe wert gewesen wäre.
Jakob Haringer · 1898-1948
Erkenntnis
In der Jugend glaubten wir, dass sie uns liebten,
Aber sie trugen bitter und haben alle versagt.
Ach, wie litten wir Jahre, weil uns die Lieben betrübten,
Und der Morgen war schon bangend vom Heute umklagt.
Waren wir gläubig und tapfer und unerfahren,
Dass man so spielte mit uns und das Herz noch dümmer gemacht!
Später, vor Torschluss, ach später in weißen Haaren
Wissen wir plötzlich, wer damals uns bleibendes Glück gebracht.
Da stehn sie dann da, hold, die Mädchen, die kaum wir beachtet,
Und lächeln noch selig aus dem versunkenen Land.
Jetzt, wo es dunkel wird, wo es schon leise nachtet,
Sind wir zu ihnen in heißer Liebe entbrannt.
Nicht nur die Frauen – die Freunde und Kameraden,
Die uns treu und gut, zu spät ach grüßen sie fern.
Wo mögen sie schlafen, und fanden auch sie keine Gnaden,
Und frieren sie einsam und fanden auch sie keinen Stern ...
Ist das schon Alter, weil man nun weiß, was uns groß war –
Ist das noch Jugend? weil es das Herz noch verweint ...
Wo doch ein dunkles Schicksal stets unser Los war –
Oder ist’s nur der Toten Liebe, die uns spät nun vereint?
Linkadresse zu diesem Gedicht: www.lyrikmond.de/gedichte-thema-5-128.php#2209



