Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Gedichte jenseits des Lebens 1

Was kommt nach dem Leben? Das ist eine Frage, die Menschen seit Jahrtausenden beschäftigt. Die Hoffnung, dass da noch was kommt, stirbt im wahrsten Sinne des Wortes zuletzt. Natürlich haben sich auch die Damen und Herren Dichter spekulativ mit dem Jenseits beschäftigt. Auf dieser Seite finden Sie einige der Phantasien, zu denen sich Dichter bei der Frage „Wie wird es sein, wenn ich tot bin?“ aufgeschwungen haben.

 
 

Todesfall

Kurz, aber schmerzlos ist dieses Gedicht mit einer Aussicht auf das, was jenseits des Lebens kommt.

Emanuel Mireau · geb. 1974

dein tod

du fällst
in schwarzlose schwärze
in grundlosen grund
du kommst nie an
und deshalb
nie wieder

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Letztes Gedicht

In Japan ist es für einen Dichter üblich ein letztes Gedicht kurz vor seinem Tod zu schreiben: das Todesgedicht. Hier übt einer schon mal und befindet sich perspektivisch halb im Jenseits.

Georgi Kratochwil · geb. 1979

Todesgedicht

Ich war hier.
War ich?

Ich bin weg.
Bin ich?

Und komm nie wieder.
Nie?

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Paradiesische Vorstellung

Alles ganz anders als gedacht: Kein Wandeln im Garten Eden, sondern ein Verwandeln in den Garten Eden.

Emanuel Mireau · geb. 1974

Im Paradies

Ich bin ein Grashalm
Kein Grashalm ist Ich
Es gibt kein Ich
Nur ein Wir
Halm an Halm
Auf unendlicher Ebene
Kein Reden mehr
Nur Wiegen im Wind
Unsere Wurzeln
Verbinden uns
Wir fühlen mehr
Als wir sind
Es ist Licht
Es ist Dunkel
Es ist Licht
Tautropfen glitzern
Auf unseren Halmen
Wieder wiegen wir uns
Im Wind
Im Licht
Es ist gut

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Stimme aus dem Grab

Grabsteine können mitunter geschwätziger sein, als die Verblichenen meinen, wenn sie ganz unschuldig ihre Lebensdaten der Welt präsentieren lassen.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Auf einem großen Grabstein

    Prof. Dr. Ludwig Kirchhoff       Ich war hier
            1888-1968                Nun nicht mehr

Direktor der städtischen Kliniken    Erinnert euch
            1933-1954                Gefälligst

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Die andere Seite

Emily Dickinsons Gedicht thematisiert die Neugier auf das Jenseits, doch es bleiben Zweifel, ob es dort wirklich so dolle ist.

Emily Dickinson · 1830-1886

Der Gang aus einer bekannten Welt ...

Der Gang aus einer bekannten Welt,
Zu einer, die ein Wunder scheint,
Ist wie das Unglück eines Kinds,
Das Aussicht nur vom Hügel hat.
Dahinter beginnt das Zauberwerk
Und alles ist dort unbekannt,
Aber belohnt das Geheimnis die Tat,
hinauf zu steigen ganz allein?

Übertragen aus dem Englischen von Hans-Peter Kraus

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Kommentar von Hans-Peter Kraus zur Übertragung:
Im Original gibt es einen Reim von Vers zwei zu vier und sechs zu acht. Diese Verse sind auch um einen Versfuß verkürzt. In diesem Fall habe ich mich jedoch dafür entschieden, den Inhalt möglichst nah am Original zu übertragen, statt die formalen Details zu bewahren.

 
 

Jenseits des Wissens

Wissen zu wollen, was einen jenseitig erwartet, ist ein alter Menschheitswunsch, der sich mangels glaubwürdiger Zeugen bisher nicht erfüllt hat, doch was wäre wenn?

Sarina Stützer · geb. 1966

Weg ins Unbekannte

Niemand kehrt zurück
Zu berichten
Wie viel leichter
Wäre es wenn
Das Ziel bekannt
Wäre und
Wie viel
Schwerer

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Von Schlaf zu Schlaf

Die Nähe von Schlaf zu Tod hat eine lange Tradition, Thanatos und Hypnos waren Brüder in der griechischen Mythologie. In diesem Gedicht werden jedoch Schlaf und Traum und Tod verwirrend gemischt, verwirrend wie das Leben.

Peter Bornhöft · geb. 1936

Lebenslang

Am Ende erwachen wir
aus unserem Traum
und wissen nicht
wo wir sind
wo wir gewesen sind
noch immer im Schlaf
in einem anderen Schlaf

Wir erinnern uns kurz
an blühende Bäume
geliebte Gesichter
die Katze
das Sommerlicht
die Märchenbücher
Morgenvögel
die Kinder
und nichts ist tot –

dann sinken wir langsam
auf den Grund zurück

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Kommentar:
Dieses Gedicht gewann einen der drei Hauptpreise beim sechsten Lyrikmond-Wettbewerb.

 
 

Zurückgekommen

Wenn einer von jenseits des Lebens zurückkehrt, ist das sicher die allermerkwürdigste Erfahrung. So wundert es nicht, dass jener Lazarus eine Bitte hat.

Michael Wenzel · geb. 1953

Lazarus

Verwirrt vom Licht auf den Augen, weiß ich wohl alleine nicht,
ob ich in der traumlosen Nacht ein Klumpen Fleisch war,
an dem sich die Grenze zwischen Sein und Leere verwischt,
oder der Wunsch eines Zauberers, eine Stelle in einer Schriftrolle,
ein Wahn oder wieder nur Worte, wie Anfang und Ende.
Ich kann darauf nichts antworten, versuche den Stimmen
derer, die mich umgeben, zu genügen.
Ich gehe versteckten Vorlagen nach,
finde aber nur die der Nacht und der Schatten.
Fast alle wollen mich umarmen, meine Schultern umfassen,
obschon ich nicht herauskomme aus mir, in eigener Haut.
Danach treten sie zurück, mit weiten Augen,
als hätte Kälte in ihr Gesicht geatmet.
Ich sitze da, im dämmrigen Zimmer,
lasse die Binden durch die Hände gleiten,
schaue in eine Ecke, ohne die ablaufende Zeit zu erahnen.
Die Zunge erkennt nicht den Geschmack von Fisch und Brot,
die Kehle nicht den des Weines, zum Freudenfest gereicht.
Müde bin ich, tiefmüde bis ins Innerste.
Sie flüstern einander zu: er schläft wie ein Toter.
Ich höre nicht die Lieder, den Schrei des Hahns,
rieche nicht den Apfel und das Salz des Meeres,
scheine nicht Regen noch Sterne zu kennen,
noch die seltsamen Gesten der Wesen, die mir ähneln.
Ich denke an Dinge, die keine Gestalt haben, nur Ahnung.
Ich bin wie eine Schote, aus der die Erbsen fielen,
wie ein Lamm, das ausgeweidet am Haken hängt.
Ich warte auf den, von dem sie sagen, er habe mich
gerufen, bei meinem Namen. Ich habe eine Bitte an ihn.

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Noch mal die andere Seite

Nur einen Blick auf die andere Seite werfen, aufs Jenseits, das ist ein uralter Wunsch der Menschheit, der hier in einem Gedicht auf naive Weise thematisiert wird.

Rolf Wolfgang Martens · 1868-1928

Ich möchte wissen, bestimmt wissen ...

Ich möchte wissen, bestimmt wissen,
was hinter der großen schwarzen Mauer ist.

Das alte fromme Tantchen
erzählt bunte Geschichten.

Niemand hat dahinter gesehn!

Versuch ich’s, hinüber zu klettern,
und bind ich auch alle Leitern zusammen,
ich komm nicht weit!

Und will ich durchs Tor,
durch das einzige,
so schreckt mich der große, unerbittliche Engel
mit dem Flammenschwert.

 
 

Das Jenseits und der Tod

In einem Selbstgespräch werden verschiedene jenseitige Möglichkeiten durchgespielt, doch allein es fehlt der Glaube, dass der Tod nicht alles nimmt.

Otto zur Linde · 1873-1938

Ihr sagt: dann fliegt als ein Schmetterling ...

Ihr sagt: dann fliegt als ein Schmetterling
Deine Seele über deinem Grab im Frühling.
Nein, nein, der Tod will nicht betrogen sein.
Ihr sagt: dann singt als eine Amsel im Baum
Deine Seele süßen seligen Sehnsuchtstraum.
Nein, nein, der Tod will nicht betrogen sein.
Ihr sagt: allen Toten ist ein Thule erblüht,
Wohin die Flottille der seligen Seelen zieht.
Nein, nein, der Tod will nicht betrogen sein.
Ihr sagt: aus deinem Sarg und aus deinem Leib
Blüht eine Blume, wächst ein Strauch,
Wehrt sich ein Baum auf und kommt an die Sonne herauf.
Nein, nein, der Tod will nicht betrogen sein.
Ihr sagt: auf deinem Stein
Graben wir dir deinen Nachruhm ein?
Nein, nein, der Tod will nicht betrogen sein.

 
 

Stimme aus dem Jenseits

In diesem Gedicht spricht nur ein einzelner Toter, aber er hat Wichtiges über Leben und Tod mitzuteilen.

Mühsam: Der Tote

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Erinnerungen eines Toten

Etwas diffus und durcheinander sind die Erinnerungen eines Toten in diesem Lebenslied. Dies liegt vor allem an der Karriere des jeweiligen Mittelverses einer Strophe.

Werfel: Ein Lebenslied

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Ein expressionistisches Gedicht über den Tod

Die Zeit kurz nach dem Ableben erforscht dieses Gedicht aus expressionistischer Sicht. Dabei gelingt es dem Dichter aus meiner Sicht, die Balance zu halten zwischen expressionistischen Eigenarten und der Vermittlung eines Gefühls vom Tod eines Menschen.

Hans Leybold · 1892-1914

Der Tod des Menschen

Er hatte auf einmal kein Gesicht mehr.
Wo das sonst war, war nun eine weiße Fläche.
Seine Augen waren hinter die Schädelwand gerutscht.
Die Hände lagen unter seinen Füßen: man wusste
nicht, wie sie dorthin gekommen waren.
Seine Stimme war unter den Tisch gefallen; hatte
dort gescheppert, wie ein Tonteller; und war
dann plötzlich zerbrochen, mit einem letzten Klang.
Eine unvermutete Zigarre rauchte sich selbst auf.
Blies blaue Dünste.
Die krochen schweigsam in die getilgten Nasenlöcher des Menschen.
Da bissen sie sich fest; kratzten unnervige Wände. – –

Des Menschen Seele aber stolperte schon in paradiesischen Feldern.
Keine Windmühle störte seine nichterhoffte Aussicht.
Der Blick war weit und groß und grün.
Insekten tanzten golden.
Äcker brannten.

 
 

Der Toten Zuhause

Ein eigenartiges Gedicht über die ehemaligen Zimmer der Toten hat Franz Werfel hier geschrieben. Auffällig die sich klanglich nicht recht einfügende Schlusszeile der Strophen und auch inhaltlich bietet das Gedicht einige merkwürdige Einblicke ins Totsein.

Franz Werfel · 1890-1945

Litanei von den Zimmern der Verstorbenen

Die ausgestoßenen Toten,
Sie liegen auf Lauer umher.
Die Luft ist voll Wiederkehr,
Doch ihr Heim bleibt ihnen verboten.
Die Tische, die Bänke, die Schränke,
Ihre Habe beherrschen nun wir.
Und berührt unsere Hand ihr Klavier,
Fühlt der Klang, welche Lauscher er kränke ...
Oh erbarmt euch der Toten! Bald sind wir bei ihnen.

Man hat ein wenig geweint
Und geraschelt mit Kränzen und Maschen.
Doch wer starb, ist schon morgen ein Feind.
Das Haus wird geputzt und gewaschen.
Sie räuchern, sie klopfen, sie bohnen,
Der Tote wird aus den Stuben gestaubt,
Und es ist ihm nicht einmal erlaubt,
Im Schatten seines Bettes zu wohnen.
Oh erbarmt euch der Toten! Bald sind wir bei ihnen.

Ich öffne ein ältliches Buch,
Da zerbrechen die Zeilen und knicken.
Eine Vase geht plötzlich zu Bruch,
Und die Uhr hetzt mit stichelndem Ticken.
Des Lehnstuhls harrende Mulde,
Sie höhlt sich so leer und verwaist,
Und der Ausdruck des Diwans beweist,
Dass ich ihn den Verstoßenen schulde.
Oh erbarmt euch der Toten! Bald sind wir bei ihnen.

An der Tür ein kurzes Geschell!
Kein Besuch ist draußen zu finden.
Doch, schließt man auch ängstlich und schnell,
Findet’s Zeit, herein sich zu winden.
Was folgt uns ins Zimmer aus finsterem Flur?
Was wittert am Boden mit Näherstreben,
Was sucht eine arme Schnauzevoll Leben
Auf seiner eigenen verwaschenen Spur?
Oh erbarmt euch der Toten! Bald sind wir bei ihnen.

Der lungernde Vagabund
Darf niedersitzen zu seiner Grütze.
Und der räudigste Hungerhund,
Er säuft und spiegelt sich in der Pfütze.
Doch wo soll der goldne Magnat
Seine badeverwöhnten Glieder nun dehnen?
Und die Spiegel, nach denen die Frauen sich sehnen,
Grinsen vor Leere, wenn eine naht.
Oh erbarmt euch der Toten! Bald sind wir bei ihnen.

Ja, wir erben und üben Verrat!
Wir haben sie ausgebeten.
Nun sind sie die Lumpenproleten
In Gottes verborgenem Staat.
Und vielleicht bedeutet der Zeit
Brandwolke, das All-Erbosen,
Die Rache der Obdachlosen,
Denn der Tod ist ein riesiger Neid!
Oh erbarmt euch der Toten! Bald sind wir bei ihnen.

 
 

Jenseits vom Ende

Eine Betrachtung der Jenseitserfahrung aus den Niederlanden. Interessanterweise ist nirgendwo ein Gott zu sehen.

Abraham van Collem · 1858-1933

Dies wird das Ende sein ...

Dies wird das Ende sein: ein weißes Tuch,
das meinen Leichnam vor der Welt versteckt,
die Hände gefaltet lieg ich ausgestreckt,
ich bin weit fort und irgendwo zu Besuch.

Ich muss dort lesen ein unendliches Buch
mit Seiten von marmornen Zeichen überdeckt,
und jedes Kapitel hat einen verblassenen Effekt;
dort aus dem Winkel steigt ein Dunkelgeruch.

Ich würde ja gerne, aber dieses Licht,
dies zart geliebte Licht will mich verlassen;
so zugig und düster-stolz sind diese Hallen.

Ich löse mich auf, verliere Gewicht um Gewicht,
die Spinnen wollen an meine Augen fassen,
ich fühle mich auseinanderfallen.

Übertragen aus dem Niederländischen von Hans-Peter Kraus

Urheberrechtshinweis

 
 

Jenseits-Vision

Ein leeres Haus ist nichts für phantasievolle Gemüter, denn die Phantasie erschafft nicht nur Leben.

Herbert Eulenberg · 1876-1949

Das leere Haus

Ins leere Haus trat ich, ein Buch zu holen,
still ging ich durch der Zimmer lange Reihe,
wie tot lag alles und voll eigner Weihe,
Sinn und Bezug auf uns schien fortgestohlen.

Der Boden knarrte unter meinen Sohlen,
gebannt stand alles sonst in seiner Reihe.
Ein Spielzeug hing dort ohne Kinderschreie,
im Kasten schliefen ungenutzt die Kohlen.

Da überflog mich jäh ein großes Grauen,
als ich das stumme Buch jetzt wollte fassen:
Ich selbst war als ein Toter anzuschauen,

wie Nebel wollte alles mich verlassen.
Im Nichts stand ich und ohne ein Vertrauen
und ohne wen zu lieben, wen zu hassen.

 
 

Gedicht über die Auferstehung

Dies ist ein sehr pragmatisches Gedicht jenseits des Lebens: Diogenes im Nirwana, dessen Auferstehung sehr unscheinbar und doch völlig zufriedenstellend ausfällt.

Alfred Scholtz · n. bek. um 1900

Des Fleisches Auferstehung

Nun steig’ ich hinab in die die ewige Nacht
Aus des Daseins flutender Sonne.
Leb’ wohl nun, du leuchtende Blütenpracht!
Lebt wohl nun, ihr Tage der Wonne! –
  Sie legen mich in den finstern Schrein
  Und putzen mich aus – und sargen mich ein,
  Als letztes Kapitel vom Menschensein:
     Diogenes in der Tonne! – –

Und wunschlos ruh’ ich dort unten aus
Von des Lebens Festen und Fasten.
Und über mir rollet dahin mit Gebraus
Des Lebens ruhelos Hasten.
  Verschlafen kann ich nun Lust und Leid;
  Versunken für mich ist Raum und Zeit ...
  Nirwana in alle Ewigkeit!
     Ein traum- und wunschloses Rasten! ...

Es taumelt weiter der Erdenball
In seinem wirbelnden Drehen,
Und wechselt ewig im Weltenall
Das Werden mit dem Vergehen.
  Das Würmchen, das der Erde entsprießt,
  Der Nebel, der in Tau zerfließt,
  Das Stäubchen, das die Sonne grüßt,
     Das ist mein Auferstehen.

 
 

Die blassen Toten

Dass Tote recht blass wirken, ist allgemein bekannt, doch auch in den Gedanken der Lebenden verblassen sie allmählich, sind also kaum der Rede wert, folglich muss man ein Gedicht darüber schreiben.

Arthur Ernst Rutra · 1892-1942

Die Toten

Ach, sie sind
wie blasse Gedanken,
hingeträumt in irrende Welt –
letzten Geschehens blind
hintastendes Schwanken,
das müde in eigne Schwere fällt.

Und sie sind
ein letztes Verweilen,
ein Ruhen an Grenzen,
wenn Leben beginnt –
sind Wunden, die schmerzlos verheilen,
Sterne, die morgen verglänzen.

Link: Gedichte über das Jenseits beim Poetischen Stacheltier