Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Kurze Gedichte zum Nachdenken 1

Die kurzen Gedichte auf dieser Seite kommen nicht über etwa acht Zeilen hinaus. Gerade in der größtmöglichen Verknappung lässt sich manch ein Knalleffekt unterbringen, der zum Nachdenken anregt. Kurze Gedichte zum Nachdenken von Klassikern wie Goethe und Hölderlin bietet die folgende Seite.

 
 

Kurze Anweisung zur Menschheitsliebe

Ein kurzes Gedicht über die Menschheit, die als Ganzes gesehen nicht viel Liebe verdient hat.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Der Nanking-Auschwitz-Express

Es gibt nur eine Möglichkeit die Menschheit zu lieben:
Geh ihr aus dem Weg,
lies keine Geschichtsbücher
und schmeiß endlich den verdammten Fernseher raus.

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Die schlimmsten Tiere
Es gibt zwei Punkte, warum sich Menschen den Tieren überlegen fühlen: Erstens, wir sind die Guten, können uns einfühlen in andere, haben Mitleid, sind manchmal sogar altruistisch. Zweitens, wir haben ein Intellekt, das allen Tieren überlegen ist, wir sind rational. Sicher, Tiere haben Fähigkeiten, die uns abgehen, aber die zwei Punkte reißen es raus. Wir immer, wenn man sich überlegen dünkt, endet das, bekommt man einen Faustschlag ins Gesicht: Das Einzige, in dem wir allen Tieren überlegen sind, ist das massenhafte, sinnlose Töten. Da geht jedes Gefühl, jede Rationalität, problemlos über Bord.

Auschwitz ist jedem in unseren Breiten bekannt, vor allem als industriell organisierte Tötungen. Die chinesische Stadt Nanking kennt man wohl weniger als Symbol menschlicher Massentötungen. Während in Auschwitz das Morden bürokratisch abgewickelt wurde, eher anonym ablief, setzten die Japaner in der besetzten Stadt Nanking 1937 auf traditionelle Methoden der persönlichen Gewalt von Soldaten gegen unbewaffnete Zivilisten.

Letzteres wurde dokumentiert (mit vielen Fotos, auch Massenmörder lieben PR) in dem Buch Die Vergewaltigung von Nanking. Die Rede ist von über 200.000 Toten, wohlgemerkt in einer besetzten, nicht in einer umkämpften Stadt. Die Art der Tötungen kann man nur bestialisch nennen, obwohl menschlich eigentlich richtiger wäre, Tiere machen so etwas nicht. Da wurden Enthauptungswettbewerbe veranstaltet, Bajonettübungen an lebenden Menschen durchgeführt und natürlich alle denkbaren und undenkbaren Varianten der Vergewaltigung exerziert.

Die Verbindung Nanking-Ausschwitz ist ein Testament dessen, zu was Menschen fähig sind. Und sage keiner, das liegt lange zurück, ist heute nicht mehr möglich. Seit wann lernen wir aus der Geschichte? Es gibt tatsächlich nur einen Weg, die Menschheit zu lieben.

 
 

Kurze Geschichte

Ein kurzes Gedicht über eine kurze Geschichte, die doch so unendlich lang erscheint.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Seifenblase

Auf der Spüle
eine Seifenblase,
schillert,
platzt.
So viel zur Geschichte der Menschheit
in diesem Universum.

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Gedicht über Wasser und Worte

Wer Worte verwässert, will Wahrheit wenden, könnte man denken, ist aber ganz falsch. Die wahre Beziehung zwischen Worten und Wasser wird in diesem kurzen Gedicht zum Nachdenken dargelegt.

Emanuel Mireau · geb. 1974

Wenn deine Worte wie Wasser sind ...

Wenn deine Worte wie Wasser sind,
dann sind sie klar und fließen.
Sie glätten alle Widrigkeiten,
sie überströmen jedes Hindernis,
sie brauchen keine Gewalt,
sie fließen rein und klar,
selbst dann,
wenn du nicht mehr bist.

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Gedicht über das Denken

Dieses Gedicht will anstiften zum Denken über das Denken, das Ich und das Nicht-Denken. Die Zusammenhänge sind vielleicht gar nicht so, wie man intuitiv meint.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Wenn du denkst ...

Wenn du denkst,
denkst du,
dass du deine Gedanken denkst.
In Wahrheit denken
deine Gedanken dich.
Wer bist du,
wenn du nicht denkst?

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Preisfrage

Preisfrage aus einem Spiel ohne Regeln, hier als kurzes Gedicht zum Nachdenken oder zum Nichtdenken.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Du stehst auf einer weißen Ebene ...

Du stehst allein auf einer weißen Ebene
unter einem weißen Himmel,
deine Gestalt wirft keinen Schatten,
die Aussicht ist in jeder Richtung die gleiche,
keinerlei Anhaltspunkte an allen Horizonten.
In welche Richtung gehst du?

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Ein kurzer Dialog zum Nachdenken

Dieses Gedicht mag nicht sehr tiefsinnig sein, aber die Art, wie der Dichter etwas zu Bewusstsein bringt, ist bemerkenswert.

Stephen Crane · 1871-1900

Ich sah einen Mann den Horizont verfolgen ...

Ich sah einen Mann den Horizont verfolgen;
Herum und herum im Kreis rasten sie.
Mich beunruhigte dies;
Ich sprach zu dem Mann:
„Es ist vergeblich,
Sie können niemals“ –

„Sie lügen“, rief er
Und rannte weiter.

Übertragen aus dem Englischen von Hans-Peter Kraus

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Kommentar von Hans-Peter Kraus zur Übertragung:
Das Original findet sich bei archive.org als Ausschnitt aus dem Buch The Black Riders and Other Lines. „accosted“ aus Zeile vier, das wörtlich „ansprechen“ heißt, habe ich anders übertragen, weil „Ich sprach den Mann an“ einen für mein Empfinden nicht zum sprachlichen Niveau des Textes passenden Binnenreim erzeugt hätte. Das „I said“ in der fünften Zeile wurde damit überflüssig, zumal die sich verjüngende Struktur des Textes durch „sagte ich“ wesentlich gestört worden wäre.

 
 

Wüstes Gedicht

In der Wüste hat man viel Zeit zum Nachdenken und in diesem kurzen Gedicht hilft sogar eine geheimnisvolle Stimme mit, wenn auch nach ihrer Art sehr dunkel.

Stephen Crane · 1871-1900

Ich ging durch die Wüste ...

Ich ging durch die Wüste.
Und ich rief,
„Ach, Gott, nimm mich fort von hier!“
Eine Stimme sagte, „Es ist keine Wüste.“
Ich rief, „Gut, aber –
Der Sand, die Hitze, der leere Horizont.“
Eine Stimme sagte, „Es ist keine Wüste.“

Übertragen aus dem Englischen von Hans-Peter Kraus

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Von oben

Von oben aus gesehen, erscheint die Welt ganz anders, als wenn man mittendrin im Geschehen ist. Es gibt ganze Berufe, die sich sich aus dieser anderen Weltsicht speisen. Es gibt da allerdings auch ein Problem.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Wenn man auf einem Turm steht ...

Wenn man auf einem Turm steht,
wenn man allein auf einem Turm steht,
wenn man allein auf einem Turm steht, gebaut auf einen Berg,
dann erscheinen die Menschen und ihr Treiben
nichtig und klein.
Doch bevor man sich darob erhaben fühlt,
gilt es eines zu bedenken:
Wie erscheint den Menschen dort unten jemand,
der allein auf einem Turm steht, gebaut auf einen Berg?

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Nachdenken über ein Glas

Man kann über ein Glas nachdenken? Ja, das hat eine lange Tradition, wg. Inhalt. Nur eins wurde dabei bisher vergessen, siehe Gedicht.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Glas

Die einen sagen:
Das Glas ist halb voll.

Die anderen sagen:
Das Glas ist halb leer.

Was aber sagen die
mit den Scherben in der Hand?

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Gedicht übers Sein

Ein paar zwiespältige Gedanken über die erste Person Singular liefert das folgende Gedicht.

Georgi Kratochwil · geb. 1979

bin

vergess ich mich
so bin ich glücklich
denk ich an mich
bin ich es nicht

bin ich herr
bin ich sklave
bin ich nichts
bin ich teil

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Nachdenkliche Frage

Grübel, grübel ... könnte man zu diesem Kurzgedicht sagen. Die Sache mit dem Ich-Sein ist anscheinend nicht so einfach wie gedacht, wenn man Vergangenheit und Zukunft hinzudenkt.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Du bist nicht ...

Du bist nicht, wer du gestern warst.
Du bist nicht, wer du morgen sein wirst.
Wie kannst du sein, wer du gerade bist?

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Ameise zum Nachdenken

Dieses Gedicht präsentiert eine Ameise zum Nachdenken über Weltbilder, vielleicht auch über Wahrnehmung und überhaupt über Dinge, die wir nicht sehen, weil zu groß oder zu klein.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Das Weltbild der Ameise

Wenn die Ameise
begriffe, dass ich sie beobachte,
ihr Weltbild wäre zerstört.
Wer weiß,
wie lange meins noch hält

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Gedicht mit Grund

Grundlosigkeit kann man diesem Gedicht bestimmt nicht vorwerfen, allerdings ist der Grund auch noch nicht gefunden. Darüber könnte man nachdenken.

Georgi Kratochwil · geb. 1979

Grund

Gib mir einen Grund,
einen einzigen Grund,
auf dem ich stehen kann,
von dem ich sehen kann.

Ich schau in die Tiefe,
ich seh keinen Grund,
nur die Leere
von Milliarden über Milliarden Jahren.

Gib mir einen Grund,
einen einzigen Grund,

bitte.

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Nachdenken über Sprache

Eigentlich ist Sprache blind. Mit Ausnahme von lautmalenden Wörtern gibt es keinen Zusammenhang zwischen den Buchstabenzusammensetzungen und ihrer Bedeutung. Doch wenn man dieses Gedicht lautlich analysiert und versucht ganze Sätze aus den Versen zu bilden, ergeben sich Zusammenhänge, über die man nachdenken könnte.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Kurze Geschichte des Universums

geboren
gelebt
gestorben
vergessen

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Eine Frage zum Nachdenken

Eine interessante Frage stellt das nächste Gedicht. Der Titel allerdings ist eine Irreführung, er lügt sozusagen, um die Wahrheit zu sagen.

Georgi Kratochwil · geb. 1979

Science Fiction

Du sitzt
auf einem sterbenden Planeten
in einem sterbenden Sonnensystem
in einer sterbenden Galaxis
in einem sterbenden Universum
fest.
Findest du einen Grund,
aufzustehen?

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Haarfeines zum Nachdenken

Kleine Ursachen können gewaltige Wirkungen haben. Würde man stets daran denken, wäre Leben fast nicht möglich. So muss ein sehr kurzes Gedicht reichen, sich mal wieder bewusst zu werden, wie sehr man von haarfeinen Details abhängig ist, um die Sache dann – zu vergessen.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Riss

Ein Riss haarfein.
An jenem Tag
dachte niemand ans Sterben.

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Für die Wissenschaft zum Nachdenken

Ein kleiner Hinweis für Wissenschaftler, die hoch und weit hinaus wollen, dass es möglicherweise ganz in der Nähe noch einiges zu entdecken gibt.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Einmal Universum und zurück

Ich höre ihn giggeln.

Bei der Suche nach Leben im All,
bei der ängstlichen Frage, ob es
da draußen Lebensformen gibt,
die dem Menschen überlegen sind,
haben die Wissenschaftler völlig
vergessen, eine Mission
in die Bordsteinritze zu schicken.
Dorthin,
wo der Löwenzahn blüht.

Hörst du ihn auch giggeln?

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Nachdenken über Leben und Tod

Die Fragen nach Leben und Tod, das sind die großen – könnte man meinen, doch wenn man genauer darüber nachdenkt, schwinden alle Unterscheidungen und damit alle Fragen.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Alles ändert sich ...

Alles ändert sich.
Lebendes ändert sich.
Totes ändert sich.
Und Lebendes wird Totes
und Totes Lebendes.
Warum dann
noch unterscheiden?
Was ist dann
noch zu fürchten?

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Der schreckliche Titel

Eine der meistgefürchteten Formulierungen bei einem Gedicht wurde hier als Titel verwendet. Was hat sich der Autor nur dabei gedacht? Ah, noch eine.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Interpretieren Sie dieses Gedicht

Jeder Mensch
ist
      ein Mensch.

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Lautes Gedicht

Ein lautes Gedicht muss kein Lautgedicht sein, obwohl es in diesem Gedicht ein gewisses Verwandtschaftsverhältnis gibt. Die Hauptsache ist: Die Lautstärke stört nicht beim Nachdenken.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Der Schrei

Der Schrei bestand
aus nur einem Laut:
A.
Ein sehr, sehr, sehr
langes A.
Er war allein auf dieser Welt.
Wer da schrie, verschwand,
und die ganze Welt verschwand.
Es gab nur diesen Schrei.
Er war ein Kind seiner Zeit.

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Nachdenk-Virus

Das Virus, das alle zum Nachdenken brachte, weil es Gewissheiten einstürzen ließ, hat möglicherweise nicht so viel Wirkung wie gedacht.

Frank Giesenberg · geb. 1964

Corona-Vision

Wir müssen ein Feuer entfachen,
und anders und besser es machen,
so lautet im Dunkel der Krise
die Jedermanns-Expertise.

Kaum sind die Wolken verzogen,
macht auch der Wunsch einen Bogen:
Man packt für den Urlaub die Sachen
und spart sich das Menschheitserwachen.

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Kommentar:
Dieses Gedicht gewann einen der drei Hauptpreise beim sechsten Lyrikmond-Wettbewerb.

 
 

Ein nachdenklicher Zweizeiler

Und hier ein Plädoyer für schweigende Biologielehrer. Aber vielleicht steckt hinter diesem Spruch auch mehr, müsste man mal drüber nachdenken.

Hugo von Hofmannsthal · 1874-1929

Erkenntnis

Wüsst ich genau, wie dies Blatt aus seinem Zweige herauskam,
Schwieg ich auf ewige Zeit still: denn ich wüsste genug.

 
 

Noch ein nachdenklicher Zweizeiler

Auf kürzest mögliche Weise wird mitgeteilt, dass mancher Treffer nicht mehr heilt.

Hugo von Hofmannsthal · 1874-1929

Worte

Manche Worte gibt’s, die treffen wie Keulen. Doch manche
Schluckst du wie Angeln und schwimmst weiter und weißt es noch nicht.

 
 

Die andere Perspektive

Hier wird die Ich-Perspektive aufgebrochen und eine Perspektive angeboten, die erschreckend oder erhebend ist, denn selbst wenn man nichts zu sein scheint, ist man mehr als man meint.

Morgenstern: Aus stillen Fenstern

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Nachdenken über die Menschheit

Über die Menschheit denkt man besser nicht nach, sonst könnte man zu dem Schluss kommen, dass sie nur aus einem viel zu großen Haufen von Egoisten besteht, woran dieses Gedicht, wenn auch vergeblich, noch mal erinnert.

Weigand: Menschheit

Dieses Gedicht im Textformat

Link: Gedichte über den Menschen beim Poetischen Stacheltier