Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Großstadtgedichte

Die Großstadt ist mangels Großstädten noch nicht lange Thema in der Lyrik, und da bekanntlich auch früher schon früher alles besser war, ist der Blick der Dichter sehr kritisch und die Sehnsucht nach Natur und Land groß.

 
 

Ein Gedicht über Autos

In diesem Gedicht geht es ganz unzweifelhaft um Autos, großstädtisch viele Autos, wobei das Beste an ihnen zu sein scheint, dass man sie ganz schnell vergessen kann.

Georgi Kratochwil · geb. 1979

DA!

Autos, Autos, Autos, Autos, Autos,
Autos, Autos, Autos, Autos, Autos,
Autos, Autos, Autos, Autos, Autos,
Autos, Autos, Autos, Autos, Autos,
Autos, Autos, Autos, Autos, DA!
Ein Mensch!
Zwei Beine, die gehen.
Zwei Augen, die sehen.
Und ich
seh’ keine Autos mehr.

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Die Versprechungen der Großstadt

So ist das in der Großstadt: Wenn man nicht dran denkt, kommt es zu einer vielversprechenden Begegnung. Aber so ist das auch in der Großstadt: Versprechungen lösen sich in nichts auf.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Sack

Ich
ging meiner Wege,
sie
stand am Parkautomaten und
drehte sich plötzlich zu mir um
und lächelte.
Na sowas, dachte ich,
eine Frau lächelt mich an,
eine wunderschöne Frau lächelt mich an.
Mir wurde leicht
und ich breitete die Arme aus
und flog auf das höchste Gebäude der Stadt.
„Hätten Sie vielleicht einen Euro für mich?“
Und stürzte ab
als Sack.

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Mensch vs. Auto

Das ist ein ewiger Kampf in der Stadt: Mensch gegen Auto. Oft genug ist der Mensch zweiter Sieger, doch in diesem Großstadtgedicht: Triumph!

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Verkaufswert

Ich bin der einzige Fußgänger
an dieser Kreuzung.
Der Verkehr braust an mir vorbei.
Doch dann –
für wenige Sekunden:
Rot
an allen Ampeln.
Mehrere hunderttausend Euro
stehen still,
nur ich,
der ich als einziger
keinerlei Verkaufswert habe,
gehe über die Straße.

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Gedicht aus dem Handy-Zeitalter

In Zeiten des Handys hört man viel, versteht aber nicht immer alles, was nicht am Denkvermögen, sondern an der sprachlichen Vielfalt einer Großstadt liegt. Zum Glück ist für alles Wichtige Deutsch immer noch die geeignete Sprache.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Die Ehrenrettung der deutschen Sprache

Als Nutzer des öffentlichen Personennahverkehrs
sind wir es gewohnt
– zumal im Zeitalter tragbarer Fernsprechgeräte –
die Unterhaltungen anderer Fahrgäste mitzuhören.
Nicht,
dass wir es darauf anlegten,
manch einer bevorzugt gar,
sich durch Kopfhörermusik abzuschotten,
doch leider
beherrschen junge Menschen oftmals nicht
den rechten Ton
für das Gespräch in der Öffentlichkeit,
und die Älteren hören nicht mehr so gut,
weshalb sie dem Drang nachgeben,
lauter zu kommunizieren.
Die Internationalität unserer Großstadt
ist ein Vorteil.
Wir hören zwar mit,
doch verstehen nicht,
welche Banalitäten Fremdsprachige von sich geben,
insbesondere wenn das oft gebrauchte Türkisch
zur Anwendung kommt.
Eine gewisse Befriedigung verschafft es uns,
wenn junge Türken immer wieder deutsche Wendungen
in ihrer Rede verwenden müssen,
sobald die Sprache auf Schule und Beruf kommt.
Andrerseits hören wir es ungern,
wenn türkische Mütter das Deutsche nur verwenden,
um ihren Kleinkindern Befehle wie
„Lass das!“
oder
„Schluss!“
zu erteilen.
Denken wir doch an unsere Sprache
lieber als an eine des poetischen Zauberworts
als an die des Kommandotons.
Zweifellos hätte der junge Türke,
der in der Straßenbahn, die Richtung Hauptbahnhof fuhr,
telefonierte,
keine Probleme gehabt,
sich auf einem Kasernenhof verständlich zu machen.
Obwohl er völlig unaufgeregt in sein
sogenanntes Handy
sprach,
hörte man ihn durch den ganzen Wagen.
Seine Lautstärke war enervierend.
Da half es auch nicht,
dass er sich ausschließlich des Türkischen bediente.
Natürlich sagte niemand etwas.
Zum Glück sagte niemand etwas,
denn sonst hätten wir nicht gehört,
wie er sagte:
„Ich liebe dich.“

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Stille in der Großstadt

Auch in der Stadt gibt es Orte der Stille, selbst da, wo man sie vielleicht niemals vermuten würde.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

die Stille ...

die Stille
in der Straßenbahn voller Menschen
Montagmorgen

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Straßenbahnjustiz

Das Gedicht fängt harmlos an, aber dann: Eine unschuldig scheinende Bemerkung und der Prozess beginnt – Kafka lässt schön grüßen.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Volkes Stimme

Als dem alten Mann in der Straßenbahn
ein Sitzplatz angeboten wurde,
lehnte er ab mit den Worten:
„Nein, bitte nicht, ich bin Marathonläufer,
trotz meines Alters.“
Er wurde natürlich sofort
beim Fahrer gemeldet, der ihn
an der nächsten Haltestelle
unter dem zustimmenden Gemurmel
der übrigen Fahrgäste der Bahn verwies.
Drei Schüler stimmten dazu
einen höhnischen Chor an:
„Aufwiedersehn!
Aufwiedersehn!
Aufwiedersehn!“
Und sie bekamen johlenden Beifall
aus der Menge. Marathonläufer
haben grundsätzlich nichts
in einer Straßenbahn zu suchen.

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Wo man Liebe findet

Liebe findet man in der Großstadt an den dafür unverdächtigsten Orten, man muss nur genau hinschauen, wie dieses Gedicht zeigt.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Liebe

Drei Grauhaarige sitzen
am Zeitungstisch der Bibliothek.
Zwei lesen die lokalen Blätter,
einer schläft, den Kopf auf die Arme gelegt,
die Hände zu Fäusten geballt.
Auf den Fingern seiner rechten Hand
ist jeweils ein Buchstabe tätowiert:
L | O | V | E

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Unterwegs in der City

Was man sieht, wenn man in der Stadt unterwegs ist, das ist sehr unterschiedlich: Männer gucken Frauen, Frauen gucken Schaufenster. Und was davon übrig blieb, schildert dieses Gedicht.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Mädchen mit Flügel

Heute war ein warmer Sommertag,
Brust-raus-Schaulaufen in der City.
Junge, schwarzhaarige Männer verschlangen
gut portionierte Kugeln im Doppelpack,
verhängten Todesurteile,
ohne mit der Wimper zu zucken.
Merkwürdig,
all diese gutaussehenden Mädels,
ich hab sie gleich wieder vergessen.
Erinnern kann ich mich nur an eine:
Sie sah nicht besonders aus,
doch nicht wirklich hässlich.
Ihre Kleidung war zu warm
und kein bisschen modisch.
Aber sie hatte diesen Blick,
diesen Blick eines Vogels
mit gebrochenem Flügel.

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Straßenbahngedicht

Wer nicht auf sein Handy starrt, sieht und hört in der Straßenbahn interessante Dinge, z.B. einen Beitrag zur Völkerverständigung.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Wie in den alten Zeiten

In der Straßenbahn unterhalten sich
zwei Mütter
über ihre Babys
in gebrochenem Deutsch.
Und wie in den alten Zeiten
ersetzen Blicke und Lächeln
die Wörter,
die fehlen.

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Einmal durch die Stadt

Es gibt zu viele Menschen und zu wenig Kaninchen. Das scheint die Botschaft des folgenden Großstadt-Gedichts zu sein, obwohl gerade Kaninchen in einem besonders fruchtbaren Ruf stehen.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Zwei Kaninchen

Eine Million
sechshundert
achtundzwanzigtausend
vierhundert
sieben und
dreißig Menschen
hasteten in der Fußgängerzone
an mir vorbei.

Auf der Rückfahrt
habe ich zwei Kaninchen gesehen.

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Tierisches Großstadtgedicht

Entweder stammt dieses Gedicht aus einer Großstadt in einem fernen Land oder aus einem Traum. Obwohl: Plüsch wäre auch eine Lösung.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

Großstadtmorgen ...

Großstadtmorgen
ein Tiger schläft
im Straßendreck

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Rilke über die Städte

Kein gutes Haar lässt erwartungsgemäß Rilke am Leben in der Stadt: Die Städte sind Mordbrenner, die Menschen verlieren ihre Mitte.

Rilke: Die Städte aber wollen nur das Ihre ...

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Millionenstadt persönlich

Mit einer Millionenstadt persönlich unterhält sich das lyrische Ich in diesem Gedicht und nimmt kein Blatt vor den Mund ob der Bösartigkeit dieser Person.

Max Haushofer · 1840-1907

Die Großstadt bei Nacht

Was schreist du mir zu, Millionenstadt,
aus deinen verworrenen Straßen?
Bist hungrig oder bist du satt?
Willst grollen oder spaßen?
Es flimmert elektrische Lichterflut
durch deine Gassen und Plätze.
Millionenstadt, das steht dir gut,
du alte, gefährliche Metze!
Ich kenne dich schon, wie gefräßig du bist!
Deinem Lande entsaugst du sein Bestes!
Ziehst alles an dich mit Gewalt und List
und dem Glanz unaufhörlichen Festes!
Deine Winkel, die sind aller Sünden voll,
und tausend Gesichter vereinst du!
Bald branntweintrunken, bald liebestoll,
bald jauchzest du, bald weinst du!
Verzweiflung durchwandert jede Nacht
deine verfluchtesten Schwellen
und drängt von deinen Brücken sacht
ihre Opfer in Stromeswellen!
Versuchung durchwandert Tag für Tag
deine Höhlen und deine Paläste
und bringt zu deinem Prunkgelag
Diebstahl und Mord als Gäste.
Dein Herz ist grausam und wieder mild –
dein Auge voller Hoheit und Tücke!
Durch deine Adern fiebert wild
die Hetzjagd nach dem Glücke.
Dein Mund ist heiß und nimmersatt,
deine Arme, sie rudern und ringen –
du große, finstre Millionenstadt,
was willst du noch alles verschlingen?

 
 

Expressionistisches Gedicht über die Stadt

Die Entindividualisierung und Vermassung ist einem Dichter eh ein Graus, die Großstadt macht sogar einen Gottesdienst daraus.

Heym: Der Gott der Stadt

Dieses Gedicht im TextformatZur Interpretation des Gedichts Der Gott der Stadt

 
 

Noch ein expressionistisches Gedicht über die Stadt

In diesem Gedicht wird die Großstadt sozusagen gevierteilt, was einige unschöne Einzelheiten zum Vorschein bringt.

Oskar Kanehl · 1888-1929

Die Stadt

I
Wie geile Tiere aneinander gedrängt,
steinerne Kasernen.
Aus einem Dachstuhl
steigt ängstlich und ungehörig
die Sonne.
Aufgespießt von einem Fabrikschornstein
und rußgeschändet
fällt sie zurück.
Maschinenlärmbetäubt
und stauberstickt
starben die Seelen
in Nacht.

II
Menschen wie Madengewimmel.
Ohne Schlaf. Eile! Eile!
Geschäft und Büro und Fabrik.
Hohle höhnende Augen,
brillenverdeckelt.
Fliegende Fleischlappen
an krüppligen Knochengerüsten.
Brustlose Frauen,
in Korsettpanzern hängend.
Schwangere.
Krankheit, Gier und Genuss.
Peststinkendes Elend.
Parfümierte Völlerei.
Verkommende Gotteskinder,
gehätschelte Abraummenschen.
Automobilhupen. Letzter
Schrei eines Überfahrenen.
Auflauf. Polizei.
Radfahrerklingeln.
Schnell vorüber. Ein Toter ist nichts.
Arbeit, Hunger.
Zerpresste Lippen.
Hunger, Arbeit.
Ein Sperling am Pferdekot.
Geld! – Geld! – Geld!

III
Drehorgel.
zweiter Hof.
Frühe Verdorbenheit.
Mädchengesichter, spitz
und wie blaugewordene Milch;
mit dicken gierigen
Lippen, Blutspur im Schnee.
Knaben, noch schulpflichtig,
zu früh zu Arbeit gehetzt
und Verbrechen.
Drehorgel.
Schieber der Minderjährigen.
Pass auf, du – mir wird
– wenn Mutter kommt ...!
Drehorgel
Bettelnder Aufblick.

IV
Auf dem Pflaster, drüber und drunter
eilen geschäftige
Triebwagenwunder.
Brückengewölbe sind wuchtig gespannt
über breite schmutzige Wasser:
eine eroberungskühne menschliche Hand.
Steil in den Himmel
sticht Schlot an Schlot
wie ein Kriegslager gegen Gott.
Zäh und gehärtet in langer Glut
beherrscht ein trotzig Gehirn
Menschenblut.

Lesetipp:
Auch beim Lyrikmond: Aktuellere gesellschaftskritische Gedichte

 
 

Ein Großstadtgedicht von Morgenstern

Es ist nicht bekannt, wie viel die Berliner Christian Morgenstern für die folgende Hommage gezahlt haben, aber wahrscheinlich waren sie schon damals am Rande der Pleite, sonst wäre das Gedicht länger geworden.

Morgenstern: Berlin

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Noch ein Gedicht über Berlin

Auch in diesem Großstadtgedicht kommt Berlin gar nicht schlecht weg, obwohl am Ende klar festgestellt: Berlin ist nicht die Antwort.

Elisabeth Seidel · geb. 1995

Berlin

Du bist ein toller Gastgeber,
umgibst mich mit Musik
im Tausch gegen mein Zeitgefühl.

Du bist ein nicht endendes Gespräch
mit Fremden und Bekannten.
Ein bunter Faden, verwebt in Begegnungen,
bildet deinen Klangteppich.

Du suggerierst mir Antworten
auf nicht gestellte Fragen,
ich möchte dir nachjagen
und weiß doch, es ist trügerisch,
denn die Antworten liegen in mir,
nicht in dir.

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Berlin vom Café aus gesehen

Gemütlich im Café sitzen und sich das bunte Treiben in Berlin anschauen, das könnte ja ganz lustig sein, aber: Expressionismus verpflichtet – zu Pest und Eiter.

Boldt: Auf der Terrasse des Café Josty

Dieses Gedicht im Textformat

Lesetipp:
Mehr Gedichte zu Berlin hat das Poetische Stacheltier im Angebot, einige davon sind Internetpremieren aus den wilden 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts.

 
 

Gedicht über Hamburg

In diesem Großstadtgedicht spricht die Stadt über sich selbst, über ihr Werden und diese komischen Touristen, die die Stadt in Scharen heimsuchen.

George A. Goldschlag · 1896-1934

Hamburg

Ich bin die Stadt. Ich bin aus Stein lebendig
Wie ihr aus Fleisch und wie der Baum aus Holz.
Ich aber wuchs aus meiner Form unbändig,
Ich wurde eigenwillig, eigenhändig,
Mich wie ein Weichtier wandelnd, unbeständig
Und mit der Willkür eines Trunkenbolds.
Bald flocht ich, auf gehäuften Reichtum stolz,
Durch meine breite Straßenflucht inwendig
Die Politur des Glases und des Golds.
Bald zog ich arm und bettelhaft zerfetzt
Des Nebels Mantel fröstelnd um die Fronten,
Die ihren Mörtel nicht mehr halten konnten,
Von allem Schmutz der Schmutzigen benetzt
Und wie von fremden, kalten Horizonten
Aus Not und aus Verlegenheit zuletzt
Auf dieses Hafens schlechten, unbesonnten
Abhub und Kehricht aus dem Weg gesetzt.
Für viele Fremde bin ich nur der Markt.
Kaum einer achtet, ob ich ihm gefalle,
Und für die Hastigen, Gehetzten alle
Bin ich notdürftig nur und abgekargt
Ein Hafenkai und eine Bahnhofshalle,
Und sie verweilen, wie ein Auto parkt.

Noch andere kommen, um mich zu beäugen.
Sie möchten sich von meiner Gegenwart
Mit ihren eigenen Augen überzeugen,
Und das Geringste bleibt mir nicht erspart.
Sie buchen als gewissenhafte Bucher
Kunsthalle, Uhlenhorst und Hafenfahrt,
Wo Lessing schrieb, wo Brahms geboren ward,
Sie treiben mit der Zahl der Stunden Wucher,
Sie stöbern durch die Steine, Stück für Stück,
Und lassen mich so ausgeleert zurück
Wie ein Museum hinter dem Besucher.

 
 

Zwischenmenschliches in der Großstadt

In der Anonymität der Masse reicht, wenn man diesem Gedicht glauben darf, schon ein Blick, um wieder etwas Himmel zu sehen.

Werfel: Menschenblick

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Flüchtigkeit des Großstadtlebens

Die flüchtige Blickbegegnung ist ein typisches Merkmal des Großstadtlebens. Tausende Augen berühren den Großstadtmenschen, doch der Kontakt reißt sofort wieder ab.

Tucholsky: Augen in der Großstadt

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Lesetipp:
Das Thema Vergänglichkeit gibt es beim Lyrikmond auch ohne Großstadt.

 
 

Romantik in der Großstadt

In zwei Skizzen stellt der Dichter ein Stückchen Romatik dem seelenlosen Großstadtleben gegenüber.

Fritz Droop · 1875-1938

Die Industriestadt

Ketten klirren, Menschen hasten;
Mörderisch ist die Schlacht der Lasten, ...
Keine Seele wird geschont.

Doch ein Licht fällt in den Jammer:
Irgendwo ist eine Kammer,
Wo die Liebe wohnt.

 
 

Zu Hause in der Stadt

Auch ein Großstädter hat Heimatgefühle, wenn er in „seine“ Stadt zurückkehrt. Stahl und Beton und massenhaft Leute sind eben auch schön – im Auge des Betrachters.

Fred von Zollikofer · 1898-1937

Heimkehr in die Stadt

Ich kehre von langer Reise
Zurück in die große Stadt,
Die auf geheime Weise
Stürmend und zärtlich leise
Mein Herz entzündet hat.

Zementen hat sich erhalten
Im Morgen und in der Nacht
Ihr Dasein und ihrer Gestalten
Wechselndes Treiben und Walten,
Von Zeigern und Zeiten entfacht.

Nah über Netzen und Schienen
Weht noch ein junger Traum,
Dem ihre Abende dienen,
Steigend aus Stahl und Maschinen
Blüht er im dämmernden Raum.

Suchend in fremden Gesichtern
Finde ich Sterne und Klang
Wie in den Stunden von Dichtern.
Magisch, aus flutenden Lichtern
Strömt noch ein früher Gesang.

Ich kehre von weiter Reise
Heim in die Arme der Stadt.
Unter mir donnern die Gleise,
Und das Gefühl deckt weise,
was uns verwandelt hat.

 
 

Feierabend in der Stadt

Impressionen aus der Großstadt am Feierabend von vor über 100 Jahren bietet dieses Gedicht. Dass es seit jener Zeit große Fortschritte gegeben hat, erkennt man an der Ladenschlusszeit. Schluss um sieben, davon können viele Verkäuferinnen heute nur noch träumen.

Stadler: Abendschluss

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Großstadtimpressionen

Etwas trüb sind die Impressionen aus der Großstadt in diesem Gedicht, aber zumindest der Schluss ist versöhnlich.

Hans Ehrenbaum-Degele · 1889-1915

Eins ans andere schwach und morsch gelehnt ...

Eins ans andere schwach und morsch gelehnt
Hocken Häuser grau am Straßenrand.
Holperpflaster sinkt in gelben Sand.
Fernen Kieferwäldern zugewandt,
Ist die Stadt verebbend ausgedehnt.

Kohlenwagen, Leierkastendrehn,
Bauplatz, Gärtnereien, endlos Planken.
Wolken, die am Ruß der Essen kranken,
Treiben fort in traurigem Verwehn.

Armut fault aus Kellerlukenmund.
Jedem Kind, das gliederschwach begegnet,
Sind die Haare zottig wie verregnet
Und die Augen trüb und tief und wund.

Und die Fraun gehn schwanger ohne Stolz
Und mit faltigen, vergrämten, bleichen Angesichten,
die sich alle gleichen.
Grau und traurig muss der Tag verstreichen.
Ganz gelassen falln zuletzt die Leichen
In den schwarzlackierten Kasten Holz.

 
 

Natur in der Großstadt

So ganz lassen kann der Mensch anscheinend nicht vor der Natur und so entstehen seit vielen Jahren auf den Balkonen kleine Naturoasen.

Lissauer: Balkons in der Vorstadt

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Großstadtfrühling

Selbst in Beton und Stein zieht der Frühling ein, was eine schlechte Nachricht für Betonköpfe und steinerne Herzen ist – auch ihr werdet weich.

Seidel: Frühlingsbote

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Lesetipp:
Mehr Frühlingsgedichte ohne „Stadt und Stein“.

 
 

Kleinvieh in Großstadt

Den Blick fürs Kleine hat der Dichter in diesem Großstadtgedicht nicht verloren, auch wenn er den Leser erst mal durch zwei Strophen städtischer Hektik lotst.

Hoffmann: Straßenbild

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Kommentar:
In diesem Gedicht wird der reimlose Blankvers genutzt. Ein jambischer Vers mit fünf Hebungen. Dass in der allerersten Zeile die Hebung auf der ersten Silbe liegt, ist dazu kein Widerspruch, sondern eine durchaus gebräuchliche Akzentverschiebung.

 
 

Gedicht über Großstadtverkehr

Ganz schön was los in der Großstadt im Verkehr, könnte man sagen, wenn es nicht immer das Gleiche wär’:

Claudia Ratering · geb. 1961

Takt

Wagen für Wagen
fahren heran
Wagen für Wagen
halten nun an

und warten.
Warten.
Stille.
Grün.

Wagen um Wagen
fahren nun an.
Wagen um Wagen
brausen voran

und vorbei.
Vorbei.
Vorbei.
Rot.

Wagen für Wagen
fahren heran
Wagen für Wagen
halten nun an

und warten.
Warten.
Stille.
Grün.

Wagen um Wagen
fahren nun an.
Wagen um Wagen
brausen voran

und

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Kommentar:
Dieses Gedicht war einer der 12 Finalisten aus über 1600 Einsendungen für das Gedicht des Jahres 2018.

 
 

Mit der Bahn durch die Großstadt

Welch grandiosen Abenteuer erlebt man, wenn man mit der Bahn durch die Großstadt fährt? Keine besonderen. Na, wenn das nicht neugierig auf dieses Großstadt-Gedicht macht, dann weiß ich auch nicht.

Karin Monteiro-Zwahlen · geb. 1962

Großstadt-Ballade

I.
Irre durch einen Urwald
von glatten Bahnsteigen
Rolltreppen und Bahngleisen
ich glaube
ich würde
hier nicht einmal
schreibend überleben.

II.
Ein Zug fährt ein
geschlossen steht auf den Waggons
es steigen Wesen aus
alle sprechen mit einem Handy
daran erkennt man
dass es Menschen sind.

III
Dort gibt es zwei
die küssen sich
auf der Rolltreppe
wie altmodisch
möglicherweise haben die
noch ein Gefühl.

IV.
Mein Zug fährt ein
aus der falschen Richtung
meine ich
aber wahrscheinlich
habe ich nur die
Orientierung verloren.

V.
Im Zug kabeln sich
die Menschen wieder an
man könnte glauben
ihr Herzblut
kommt aus der Steckdose.

VI.
Wir kreuzen uns mit
einem Lichterzug
zwei Satelliten auf
einer computergesteuerten Bahn
wir teilen das Weltall
und haben nichts
miteinander zu tun.

VII.
Aus irgendeinem Lautsprecher
verkündet eine Konservenstimme
die Namen der Stationen
in verschiedenen Sprachen
von denen ich
keine verstehe.

VIII.
Auf irgendeinem kleinen Bahnhof
taumele ich in die Nacht
aber erst als ich wieder Sterne sehe
weiß ich, dass ich
bin.

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Lesetipp:
Mehr von und über die Dichterin bei mundiscript.

 
 

Bahnhofsgedicht

Eine sehr genügsame Art, sich das Land in die Stadt zu holen, schildert das lyrische Ich in diesem Stadtgedicht.

Salus: Ausflügler

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Lesetipp:
Aktuellere Gedichte von unterwegs, ob zu Fuß, mit der Bahn oder sonstwie.

 
 

Stadtflucht

Die Sehnsucht nach Land und Natur ist in diesem Gedicht ungebrochen. Doch es bleibt zunächst bei der Absichtserklärung.

Lichtenstein: Der Ausflug

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Brief aus der Großstadt

Dass die Stadt psychologisch merkwürdige Folgen für einen Menschen haben kann, zeigt das folgende Briefgedicht an einen guten Freund.

Guido Zernatto · 1903-1943

Liebesbrief an ein Pferd

Ich bin, mein lieber Schimmel,
in einer großen Stadt.
Von jenem blauen Himmel,
der uns geleuchtet hat
auf vielen, vielen Ritten,
ist hier kein Fleck zu sehn
und es ist niemals Erde,
worauf die Menschen gehn.

Sie gehn auf harten Steinen
und auf glattem Asphalt.
Ich möchte manchmal weinen
nach Wiese, Acker, Wald.
Ich möchte wieder einmal
mit dir im Freien sein
und über die Wiesen traben
bis spät in den Abend hinein.

Wie waren wir zusammen!
Gemeinsam Weg und Ziel!
Wir sprangen im Herbst durch Flammen,
wir schwammen Sommers für Spiel,
wir stampften im vorigen Winter
hinauf ins obere Tal,
wir waren am See und im Hochwald,
auf den Almen ein anderes Mal.

Wie soll ich dir das alles sagen?
Ich schreibe – es ist dumm!
Niemanden kannst du tragen,
niemand legt das Saumzeug dir um.
Wer weiß, ob ich noch einmal
zum Pferdestall hingeh
und ob ich dann noch alles
wie einst im Lichte seh.

Lesetipp:
Über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier hat’s beim Lyrikmond eine eigene Seite.

Link: Kurze Großstadt-Gedichte bei HaikuHaiku