Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Gedichte zum Nationalsozialismus

Was als tausendjähriges Reich begann, hat tatsächlich nur zwölf Jahre geschafft, aber die haben sich gedehnt. Es schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis endlich Schluss war mit der Herrschaft von Kleinbürgern und -kriminellen, die auf großen Mann machten. Die Verwüstungen zu tilgen, die der Nationalsozialismus in Europa hinterließ, brauchte viele Jahre. Noch länger brauchte es, die geistige Verwüstung zu beseitigen. Dieser Prozess ist immer noch nicht abgeschlossen, wie das Wiedererstarken von geistig Eindimensionalen in Deutschland zeigt.

Ähnlich wie der Erste Weltkrieg hat die Zeit des Nationalsozialismus viele Gedichte hervorgebracht, Lyrik kann auch eine Art Fluchtort sein. Aber selbst Gedichte für die Schublade waren damals gefährlich. Eine überraschende Durchsuchung, und ein Gedicht konnte ein Todesurteil bedeuten. Es hat während dieser Zeit allerdings auch viele Lobeshymnen gegeben, an die sich danach niemand mehr erinnern wollte und hier wird das auch nicht passieren. Stattdessen kommen jene zu Wort, die den Nationalsozialisten nicht genehm waren, die verfolgt, eingesperrt und getötet wurden.

Dabei sind vor allem Gedichte berücksichtigt worden, die es zwar in Bücher geschafft haben, die mittlerweile meist nur noch antiquarisch erhältlich sind, aber noch nicht im Internet verfügbar waren. So werden hier also vor allem Gedichte zum Nationalsozialismus zu finden sein, die in Vergessenheit geraten sind, denn das war eine Spezialität der Nazi-Herrschaft: Menschen und ihre Werke ins Vergessen zu schicken. Auch der Umgang im Nachkriegsdeutschland mit denen, die sich nicht angepasst hatten, war nicht vom Feinsten. Wie immer im Leben kommt es anders als gedacht und die Gedichte der Opfer dieser Zeit sind nach 80 Jahren wieder lebendig und erinnern daran, was möglichst ist, wenn Ungeist regiert.

 
 

Zum Geleit

Vorab eine kurze Zusammenfassung der Geschichte von Nationalsozialismus und Lyrik, bei der sich herausstellt, dass tausend Jahre recht kurz, während diese kurzen Gedichtdinger recht langlebig sind.

Hans-Peter Kraus · geb. 1965

zwölf jahre gedichte geschriem

aufe flucht wurn gedichte geschriem
im knast wurn gedichte geschriem
im kz wurn gedichte geschriem
nur inne amtsstum nich
da schriemse totenscheine

die dichter un henker sin alle hin
die gedichte
gibs immanoch

Urheberrechtshinweis

 
 

Vor 33

Dieses Tucholsky-Gedicht stammt aus dem Jahr 1931, also bevor es wirklich mit dem Nationalsozialismus losging im Sinne einer staatlichen Macht. Und vorausschauend empfiehlt der Dichter: Seid nett zu ihnen.

Tucholsky: Rosen auf den Weg gestreut

Dieses Gedicht im Textformat

 
 

Mal was über Adolf

Die Frage bei diesem Gedicht ist: Wie kann so ein Jungspund von Dichter den Adolf durchschauen, wenn Millionen anderen das nicht gelang?

Hermann Kükelhaus · 1921-1944

Der Spuk

Es steht im Zeichen seiner Macht,
Dass er die Tauben sehen macht,
Die Blinden macht er hören.

Und als er alles so gekehrt,
Dass keiner sah und niemand hört,
Ließ er sich Treue schwören.

 
 

Nazi-Propaganda

Propaganda – das konnten sie, doch wenn man anfängt, seine eigene Propaganda zu glauben, dann geht es bös aus.

Berthold Viertel · 1885-1953

Alter Propagandafilm

(Nürnberger Parteitag)

Der Garant des Friedens,
Da stand er,
Damals noch feisten Angesichts,
In seinem Kraftwagen,
Die Hand ausgestreckt –
Und die Jugend jubelte!
Sie jubelte, die Jugend,
Die er in den Krieg senden wird.
O Kraft und Freude in den Gliedern
Zukünftiger Krüppel!
O Vertrauen in den Augen
Später blind Geschossener!

Dies hier, zwischen den Riesenflaggen,
War ein modernes Ballett
Gleichförmiger Massenbewegung
Sprechchöre der Arme und Beine.
Die Kamera wich zurück, zurück –
Und ameisenklein ging der Führer
Zwischen gewaltigen Truppenkarrees rechts und links,
Zwischen gewaltigen Menschenmaschinen,
Die ein Blick von ihm in Bewegung setzt.
Sein tiefer, unersättlicher Blick,
Der massenmörderisch auf der Jugend weidet,
Ein kleinbürgerlicher Lämmergeier.

Er wird sprechen!
Schon steht er auf dem Rostrum, brüllt –!
Er ist das Brüllen des Schweigens unter ihm,
Der brüllende Volksbetrug,
Der brüllende nächste Weltkrieg:
Als wäre alles Brüllen der in den Tanks Verbrennenden
In ihm vorweggenommen.
Brüllen mit überspannten Stimmbändern,
Brüllen dicht an der Heiserkeit,
Brüllen, das die Gesichter einer betörten Jugend
Andächtig macht.
„So brüllt nur noch Gott“,
Denken die pausbäckigen Kinder
Einer Zeit am Abgrund.
„Das Brüllen wird uns hinübertragen!“
Aber es trägt sie in den Abgrund.
„Wir werden siegen durch dieses Gebrüll!“
Und sie werden –
Aber dann werden sie untergehen.

 
 

Übers Schweigen

Wenn die Propaganda schweigt, ist das ein gutes Zeichen für alle, die noch bei Verstand sind, selbst Hitler hat irgendwann die Klappe gehalten.

Rudolf Leonhard · 1889-1953

Pause

In manchen Tagen
fallen im Radio die Nachrichten aus;
dann wissen wir: es brennt was im Haus,
und es hat eine Stunde geschlagen.

Das wird besser klar
in diesem Verstummen
als im wortreich schwiemelnden Kommentar
oder im Trommelbrummen.

Wir hören in diesem Schweigen
knarren die Speichen am Zeitenrad;
wir können allen zeigen,
was die Stunde geschlagen hat.

 
 

Widerstand

Noch voller Hoffnung klingt dieses Widerstandsgedicht und letztlich liegt es ja auch nicht falsch, nur die Opfer, die gebracht werden müssen, um das Morgen zum Heute zu machen, sind gewaltig – der Dichter wurde am 10.05.1944 in Wien hingerichtet.

Roman Karl Scholz · 1912-1944

Rebellen des Morgen

Ihr seid die Herren des Heute!
Alles, was war, ist zertrümmert.
Unsere Freiheit genommen.
Und auf den Nacken der Völker
lastet das Joch eurer Willen.
Sklaven nur sind sie
zwischen den Mauern des Fronens:
hinter den Pflügen,
an den Maschinen
und mit dem Denken der Hirne
dient ihre Dumpfheit
euren Plänen.

Wir aber künden
euch den Gehorsam,
kühne Rebellen:
Führer, die ohne Gefolgschaft,
furchtlos die Fahne entfalten,
mutig euch Zwinger verachten
und eure Henker verachten.

Ihr seid das Heute!
Heute wird Gestern.
Wir sind das Morgen!
Morgen wird Heute.
Hinter uns stürmen die nächsten Geschlechter
besseren Zeiten entgegen.
Und wenn wir fallen, steigt stolzer das Banner
auf in das Leuchten
kommenden Tags,
straff von dem Geisthauch des Schicksals;
siegreich enttönt unser Schlachtschrei
jüngeren Kehlen,
ewiger Urruf der Besten:
Freiheit!

 
 

Judenverfolgung

Von den vielen grausigen Kapiteln der nationalsozialistischen Geschichte ist das systematische Töten der Juden das grausigste. Da hilft nur: Lakonie.

Alfred Kerr · 1867-1948

Das Schlimmste

Die Juden haben unbestritten
Von allen Verfolgten das Schlimmste gelitten:
Nicht weil sie politisch verschworen sind –
Nur weil sie halt geboren sind.

 
 

Gedicht aus dem Ghetto

Dieses Gedicht setzt sich damit auseinander, warum – bis auf wenige Ausnahmen – Gewalt nicht gegen Gewalt gesetzt wurde.

Georg Mannheimer · 1887-1942

Das Lied vom Ghetto

Sie haben mich ins Ghetto gesperrt
wie in den Stall das Vieh.
Sie haben mich an den Haaren gezerrt
und mancher nach mir spie.
Sie haben mir den Rock zerfetzt,
sie stießen mich in den Rhein.
Sie haben mich mit Hunden gehetzt,
und mancher warf den Stein.
Sie drückten mir ein Dorngeflecht
in die Stirn, bis das Blut entwich.
Die letzte Magd und der letzte Knecht
hatten mehr Recht als ich.
Der letzte Knecht und die letzte Magd
spieen nach mir wir sie.
So haben sie mich – Gott sei es geklagt –
ins Ghetto gesperrt wie Vieh.

Warum ich nicht der Schmach gewehrt?
O, kläglich ungleiches Gefecht!
Sie stahlen mit dem Recht das Schwert,
sie stahlen mit dem Schwert das Recht.
Den Schlag, den einer von uns trug,
galten allen, Israels Geschlecht.
Den Schlag, den einer von uns schlug,
er ward an allen gerächt.
Nein, eh der Schlag zurückgegeben,
nein eher sei mein Arm verdorrt:
Der Schlag träf aller Brüder Leben.
Gott hüte mich vor Brudermord!
Warum ich nicht der Schmach gewehrt?
O, kläglich ungleiches Gefecht:
Sie stahlen mit dem Recht das Schwert,
sie stahlen mit dem Schwert das Recht.

 
 

Sonett der Verfolgung

Das Sonett würde man sicher am wenigsten erwarten, wenn sich ein Dichter mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auseinandersetzt und dennoch sind nicht wenige zu diesem Thema geschrieben worden.

Bruno König · 1900-1944

Die Alten

Wir leben hier am Orte der Gehetzten,
Wo Schicksalsläufe, Wirken und Beginnen
Zu formenlosem Elendsgrau gerinnen.
Wir leben in der Welt der Ausgesetzten.

Wir haben uns schon fast am Ziel gesehen,
Da rief man uns und kam, uns aufzustören.
Wir mussten in ein Leben wiederkehren,
Das wir nicht wollen, das wir nicht verstehen.

In grauen Staub versickert unsre Klage,
Von Heim und Welt getrennt durch Steingemäuer.
Zu leicht befunden auf des Schicksals Waage,

Verbüßen wir in diesem Fegefeuer
Die kargen Reste unsrer bangen Tage
Und zahlen dem Jahrhundert unsre Steuer.

 
 

Flucht und Schicksal

In Zeiten, in denen Chaos und Gewalt regiert, ist es oft nur eine Kleinigkeit, die Leben rettet oder vernichtet, zehn Minuten können eine Ewigkeit bedeuten.

Rudolf Leonhard · 1889-1953

Vielleicht

Das hat nur an zehn Minuten gehangen,
an einer Rast,
das Schiff wär mit mir abgegangen,
sie hätten mich nicht noch einmal gefasst.

Dann säße ich drüben im weiten Land,
in Mexiko,
den strömenden Tagen zugewandt,
und könnte so

eine richtige Zigarre rauchen
und Zucker in richtigen Kaffee tauchen
und Menschen sehn und Zeitung lesen,
nahe allem Wabern und Wesen,

und statt allnächtlich
zwölf lange Stunden doch nicht zu ruhn,
könnt ich beträchtlich
mit den Andern was raten, was tun;

wenn ich nicht etwa, nach Abenteuern,
in andern Ländern von ungefähr
mit andern Fiebern, bei andern Feuern
in einem andern Gefängnis wär.

 
 

Gedicht aus dem Lager

Was das Zusammenpferchen von Menschen in Lager mit ebendiesen Menschen macht, schildert im Detail das folgende Gedicht.

Rudolf Leonhard · 1889-1953

Entlarvung

Manche sind mit prangendem weißem Kragen
ins Lager gekommen;
das hat sehr bald ein Ende genommen,
schon im Wagen
war die Wäsche verschmutzt.

Manche haben sich noch in den ersten Tagen
die Schuhe geputzt;
das hat sehr bald ein Ende genommen,
die Lichter im Leder sind schnell verglommen,
jetzt steht nur noch Schlamm.

Der Kamm
ist überflüssig bei den verschmutzten Haaren.
Man rasiert sich auch nicht jeden Morgen:
es gibt nicht genug Klingen zu borgen.

Viele suchen aus den Tagen, da sie frei waren,
in Hangen und Bangen
die Haltung zu bewahren;
es ist in den Klumpen und Schlangen
nicht lange gegangen.

Jetzt zeigen die Fetten ihr Fett
und die Magern ihr Skelett,
die Unsauberen sind krätzig
und die Schwätzer geschwätzig.

Hier besteht keine List,
jeder ist, was er ist.
Man weiß nicht recht, wie das geschah – –
wir sind einander zu nah.

Nur das Bewusst-Sein hält:
hier fällt
jede Maske.

 
 

Dunkelheit

Der Nationalsozialismus gilt als dunkle Epoche, doch in diesem Gedicht geht es ganz konkret um Licht oder nicht als Machtdemonstration.

Rudolf Leonhard · 1889-1953

Hass

Vor einer Stunde begann es zu nachten;
wir haben wieder kein Licht bekommen.
Da ist in uns der Hass erglommen
gegen die, die uns so tierisch verachten.

Die uns wie Tiere ins Dunkel sperren,
ins Dunkel schmeißen, wenn wir uns regen.
Es gibt kein Licht. Wir müssen uns legen,
die Decken um unsern Hass her zerren.

Wir gehen schlafen mit unserm Hass,
der wird im Schlafe Wurzel schlagen
und unterm Traume wachsen wie Gras
und nach dem Traum
wie ein Riesenbaum
große rote Früchte tragen.

 
 

Zug ins Ungewisse

Meistens ist einem nicht bewusst, dass die Zukunft ungewiss ist. Auf der Flucht erscheint es genau andersherum, nichts ist gewiss, die Räder rollen zum unbekannten Ziel.

Alfred Krüger · 1887-1953

Schicksalszug ...

Schicksalszug,
Der mich in die Nacht enttrug.
Räder gleiten, Räder rollen ...
Bin ich nicht schon längst verschollen?
Keine Heimat. Welches Grauen,
Ziellos in das Nichts zu schauen.
Keine Hand, die nach mir tastet
Und an meinem Herzen rastet –
Wie ein Fahrzeug ohne Steuer,
Dunkel drohen Abenteuer.
Räder gleiten, Räder rollen ...

 
 

Gedicht aus der Emigration

Ordentlich gewürzt mit Klassenkampf kommt dieses Emigrantenlied daher, auch ein Schlussaufruf à la „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ fehlt nicht.

Albert Ehrenstein · 1886-1950

Emigrantenlied

Das war der Frieden: du hattest Ruh,
Arbeit hienieden – im Himmel stempelst du.
Dann sind die braunen Wuthunde gekommen
Und haben ein Reich, ein zweites, ein drittes genommen.
Kein Kampf – man hat sich dumpf ergeben,
Schöner als Zwangsrobot schien: im Freien leben.
Aber der Freiheit Licht
Findest du nicht,
Man hat längst in elender Länder Gossen
Sie unverdrossen auf der Flucht erschossen.

Wir kennen Straßengraben, wenig Häuser, viele Lager.
Wir enthinken hager-fremder Klinken Schnallendrücker,
Selbstmörderische Selbstentrücker – der Heimatstube,
Munkeln, fluchen und suchen im Abgrund Wohngrube:
Uns hebt man aus im Dunkeln
Schon das Heldenmassengrab.
Inzwischen irren wir von Tür zu Tür, Land auf, Stadt ab.
O Erde – alte Menschenfalle,
Wer hat uns alle verbannt in die Verbrecherkolonie?
Staat? das ist Stacheldraht!
Armut ist Hochverrat.
O Saat! Knecht schuftet früh und spat.
Der aller Arbeit Not
Im Kot und Kummer lernte,
Nicht ihm gehört die Ernte.
Ernährt mit Schweiß und hartem Schimmelbrot,
Beißt er ins Gras, dann hat er Land – im Tod.

Die Massen rüsten nicht, um euch zu rüsten:
Tyrannen, die sich geil vor Mannen brüsten,
Prassend entrüsten ob der Nachbarn tierwildem Wüsten –
Doch alle Herren sind wie die!
Rüstungsgewinn! Wehr ohne Ehr! Kein Krieg!
Heißt ihrer feigen Selbstsucht Sieg.
Drum ist beschieden uns schon im weißen Frieden
Des Hasses Melodie,
Der Liebe Massenschlächterei.
Millionen Menschen hetzt Grenzwächterei,
Einheimisch ist nur mehr die Fremdenpolizei.
Wer seine Heimat unterwegs im Straßenstaub verloren,
Wer sein Vaterland durch Naziraub verloren –
Kein Passpapier? Zurück mit dir!
Visum ins Nichts! Hier bist du nicht geboren!

Für den Raub der unerreichbaren Reichen
Stündlich Myriaden Leichen.
Warum die stummen Völker sinken, fallen?
In Arbeitsschlachten weiß man die Armen still zu killen.
Des Handels Wucher, Frohn jagt sie aus süßem
Frieden in zu frühen Sarg. Aus der Genossen
Roter Asche sind blaue Bohnen hochgeschossen
ins Blut chaotischer Nationen.
Feuer! Und es gibt heute Krieg, blitzt morgen Sieg –
Die Waffen sind für euch, für euch geschaffen.
Erdrosselt endlich eure Drohnen!
Nur so könnt ihr im ewigen Frieden wohnen.
Kapital kapituliert. Faschismus wird faschiert.
Imperien totalitär kastriert. Nationalismus sozialisiert.
Das dritte Reich zerschellt am vierten Stand.
Und dann wird Rat, es werden rote Räte –
Es werde diese ganze Erde
Ein mütterliches Vaterland!

 
 

Sprache des Dritten Reichs

George Orwell hat in 1984 vorgeführt, wie man Sprache zur Herrschaft nutzt. Die Nazis brauchten dieses Buch nicht, waren vielleicht sogar Vorbild, denn die völlige Verdrehung der Sprache war bereits lange zuvor ihr Element.

Rudolf Leonhard · 1889-1953

Wörterbuch der Lüge

Der Wolf war ein Wolf und das Lamm ein Schaf,
der Mohn hieß Mohn und der Weizen Weizen;
ob Freund, ob Feind, man sah, wen man traf,
man brauchte nicht die Finger zu spreizen.

Da kamen zur Herrschaft die Meister der Lüge,
schieläugig, lippentriefend; die kannten
das Wortgeschwulst und die Winkelzüge,
zu hüllen der Wahrheit harte Kanten.

Nun trägt der Wolf ein Lämmerfell;
der Ausbeuter, der Mehrwert einschafft,
heißt Arbeitsführer; sein Geprell,
die Ausbeutung, heißt Volksgemeinschaft.

Gemeinnutz nennen im Heimatland
hochstaplerisch rohe Genießer,
was ihre Gier zu fressen fand,
im Wahnwitz wirdgewordner Spießer.

Wer aber im Lande die Freiheit will
und Recht und Glück will für alle schaffen,
der sei ein Verräter, schrein sie schrill,
dem muss man den Kopf vom Rumpfe raffen.

Sie geifern Verleumdung in die Welt,
die Lüge ist ansteckend geworden;
wer in die braunen Netze fällt,
verfällt dem Morden der braunen Horden.

Völkische Belange heißt man die Sucht,
die andern Völker zu unterjochen;
was Unkraut hieß, das nennt man Frucht;
Ehrenwort heißt: – dies Wort wird gebrochen.

Sie nennen Völkerverständigung
stets steigendes Feilschen, Fordern und Hadern,
und treiben die Nichteinmischung
mit Tanks, Kanonen und Bombengeschwadern.

Die Gräuel sind nicht, was sie da tun;
für sie und alle käuflichen Schwätzer
und alle, die woll’n in der Lüge ruhn,
ist, wer die Wahrheit spricht, ein Hetzer.

Und für die Welt heißt heute Vertrag,
wohin Besiegte einst nicht der Sieg stieß;
und Friede, mit einem Zungenschlag,
der Waffenlärm, der immer Krieg hieß.

 
 

Von den Vorteilen des Ablebens

Die Lebenden werden die Toten beneiden, so hieß es oft um Zusammenhang mit einem Atomkrieg. Das, was der Nationalsozialismus veranstaltete, scheint nicht weit weg davon zu sein.

Berthold Viertel · 1885-1953

Die uns den Rücken kehren

Die genug von Mensch und Menschheit haben,
Unbekümmert, wo sie begraben,
Einer Mörderwelt den Rücken kehren,
Die sich nicht mehr flüchten, nicht mehr wehren,
Die, dem Menschenfischernetz entkommen,
In die Bucht des Todes sind entschwommen,
Die verstummt sind, keinen mehr zu fluchen,
Wo sie sich versteckten, hilft kein Suchen,
Die bei unserem blutigen Pfänderspiel
Nicht mehr warten, wem das Los zufiel,
Keiner Vorschrift fürderhin entsprechen,
Keines Briefes Siegel mehr erbrechen,
Keine Zeitung mehr in Zukunft lesen,
Nichts macht ihnen Sorgen, nichts macht Spesen,
Nicht mehr Menschen dieser, jener Klasse,
Kinder keines Landes, keiner Rasse,
Die kein Muttermal der Folter vorbestimmt,
Denen keiner mehr das Recht zu lieben nimmt,
Keiner vorschreibt, wo, auf welchen Plätzen,
Welchen Bänken sie sich rechtens setzen,
Keiner grübelt mehr, wie sie beschämen,
Keiner kann sie mehr in Schutzhaft nehmen,
Von den Kindern keiner sie entfernen,
Keine Sprache müssen sie mehr lernen,
Keinem werden sie das das Brot beschränken,
Wenn sie an ein Mittagessen denken,
Keiner hindert mehr, was sie erstreben,
Ach, auf keines Kosten mehr zu leben,
Zweifeln nicht, ob ihr Produkt begehrt sei,
Ob das alles denn das Atmen wert sei,
Nicht zu stolz mehr sein, nicht zu bescheiden,
Ja, man muss sie manchesmal beneiden.

 
 

Vorausgedacht

Über die Zeit des Nationalismus hinausgedacht ist dieses Gedicht eines Emigranten. Seine Lebensdaten verraten: Er hat’s nicht mehr erlebt.

Guido Zernatto · 1903-1943

Heimkehr

Weinet, denn wir werden wiederkehren
Und es wird nichts mehr so sein.
Fremde aus der Fremde gehn wir weise
Und verzichtend immer wieder auf die Reise,
Ach, es wird gewiss nie mehr so sein.

Weinet, denn wir werden wiederkehren
Und kein Mensch wird mehr so sein,
Dass wir ihm im Schweigen etwas sagen.
Unser Schicksal ist das ewige Fragen
Und das Tragen. Denn es muss getragen sein.

Weinet, denn wir werden wiederkehren
Und wir werden Menschen sein.
Aber zwischen Mensch und Menschen liegen
Welten. Und nicht: – wer wird einmal siegen? –
Ist die Frage – – Wer wird menschlich sein?

Weinet, denn wir werden wiederkehren,
Jugendwege wiedersehn.
Und dort gehen wieder junge Leute
Wie einst wir. Doch dieses neue Heute
Fürchte ich – – wir werden’s nicht verstehn.

Nur das Land, das unverwandelbare,
Wird in Liebe um uns sein,
Wird uns mit geheimen Kräften halten,
Und sein ewiges Gesetz wird walten,
Und wir werden in der Heimat sein.

Himmelszeichen, Jahreslauf und Erde
Bleiben und sie werden sein.
Heilt das einmal, was in uns zerrissen?
Nur das Herz sagt gegen bessres Wissen
Ja. Vielleicht wird’s wieder ähnlich sein.

 
 

Was von Deutschland übrig blieb

Viel blieb nicht übrig, als die Nazis mit Deutschland durch waren, aber doch genug, um die Bedeutung des Lebens ohne Hass und Gewalt wiederzuentdecken.

Berthold Viertel · 1885-1953

Ode an Deutschland

I
Zertrümmertes Land!
Zu Narben geschrumpfte Städte!
Denkmäler, zu Schutt geschlagen!
Aber auch die Brand- und Schädelstätte
Ist ein Mal des Gedenkens
Bösen Ausgangs, böseren Beginns.
Die Wüste ruft euch auf
Zu neuer, gesünderer Pflanzung!
So halte Zerstörung Schule
Mit den verstört Überlebenden!

II
Unvergiftet sind euch Brunnen im Land geblieben,
Wascht mit dem klaren Wasser die Augen der Kinder,
Dass sie sehend werden,
Deren Eltern blind gewesen!
Holt Heilkraft auch aus spät bekehrten Herzen!
Entzündet im zugigen Aschenherde des Hasses
Die erloschene Flamme der Liebe!
Bald blühen wieder die Apfelbäume.

III
Noch sind viele betäubt
Vom selbstverschuldeten Unglück.
Falsche Hoffnung missriet,
Noch keimt die wahre verborgen.
Hört endlich auf die lang verschmähten Warner!
Entdeckt und ehrt
Eure wahren Märtyrer!
Entsühnt euch
Von den Verbrechen der verwüstenden Epoche,
Die ein langsam grauender Tag
Euch wieder zur Arbeit erweckt,
Und das Brot und die Milch euch bedeuten:
Ihr bliebt am Leben!

 
 

Nach dem Nationalsozialismus

Danach waren Stiefel außer Mode, wie dieses Gedicht eindrücklich zeigt, denn Stiefel waren zum Marschieren da und marschieren ist keine gesunde Gangart.

Rudolf Leonhard · 1889-1953

Städte und Stimmen

Auf diesen Straßen allen
sind sie mit ihren Stiefeln gegangen.
Verflucht seien die Stiefel!
Die Straßen sollen gesegnet sein.

An allen Bäumen haben mit Pracht und Prangen
die runden reifen Früchte gehangen.
Die Früchte sind von den Bäumen gefallen,
die Stämme stürzten zersplittert ein.

Beginnen die blassen Kinder zu singen:
Wir hören immer die Stiefel klingen.
Die Straße zerklaffte, Loch an Loch.
Wir hören die Stiefel immer noch.

Über Trümmerstraßen läuft neuer Schein;
verflucht sollen die Stiefel sein!

Wie viele sich vor den Stiefeln versteckten,
wie viele unter den Stiefeln verreckten;
auf Trümmer, auf Straßen läuft neues Licht;
die aber in den Stiefeln steckten,
geschwollen, gedunsen, grob, schneidig, gemein –
Du, der du kommst, zeig mir dein Gesicht:
Warst du es nicht auch? Warst du es nicht?

Ihr auf den Straßen: Habt acht, habt acht!
Fragt straßenlang, schreit: Was hat diese Bande
aus diesem wunderbaren Lande
gemacht –!

Kinder aber, in zitternden Haufen,
blass, Kinder singen und kommen gelaufen.
Die Straßen gehn, die Welt will sich wenden,
wir sehn den Schimmer,
nie mehr soll ein einziger,
soll ein
Mensch unter Stiefeln verenden,

verflucht, verflucht seien die Stiefel;
die Straßen, die Steine, die Tauben, die Rinder,
die Früchte, die Bäume,
die wirkenden Träume,
die Kinder, die Kinder
sollen immer gesegnet sein.

Zu HaikuHaiku: Kurzgedichte aller Art