Gedichte des Expressionismus
Der Begriff Expressionismus wurde 1911 zuerst in der Malerei verwendet. Während des Ersten Weltkriegs setzte er sich auch als Bezeichnung für bestimmte Gruppen von Literaten durch. „Der Expressionismus will den metaphysisch fundierten Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben erneuern, der in der vorangegangenen Epoche aufgelöst wurde.“ (Frank Krause, Literarischer Expressionismus, Wilhelm Fink Verlag 2008, S. 25) Der Expressionismus hatte seine Hochphase im Zeitraum von 1910 bis 1920. Die Expressionisten fühlten, dass etwas verloren gegangen war und begehrten auf gegen die Scheinrealitäten von Realismus und Naturalismus. Sie rechneten die gesellschaftlichen Entwicklungen exponentiell hoch und setzten das Geistlose neben das Groteske, das Schrille neben das Hässliche, die Katastrophe neben das Niedliche. Alles war gleich wichtig, alles war zusammenhanglos. Der berühmte Reihungsstil war geboren, heute auch als Fernsehen bekannt. Es gab natürlich noch viel mehr an Experimenten und Ausdrucksformen, doch für die ganze Vielfalt der Stile und Autoren bräuchte es mindestens ein dickes Buch. Auf dieser Seite kann ich nur einige Musterexemplare des Expressionismus bringen.

Am Anfang das Ende
Dieses Gedicht steht am Beginn der bekannten Expressionismus-Sammlung Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus. So soll es auch hier den Anfang machen. Es zeigt den expressionistischen Reihungsstil, bei dem die Verse Einzelbilder liefern, die auf den ersten Blick kein zusammenpassendes Gesamtbild ergeben.

Lesetipp:
Neben expressionistischen Weltuntergängen bietet das poetische Stacheltier auch modernere Gedichte zum Thema Weltende – Oh, wie ist das schööön ... . Die grotesken Gedichte beim Lyrikmond dürften den Dachdeckern dieses Gedichts Konkurrenz machen.

Noch ein expressionistisches Ende
Dies ist so etwas wie die „extended version“ von Alfred Lichtenstein zum Gedicht von Jakob van Hoddis. Ganz deutlich ist die Anspielung im letzten Vers.


Richtung Krieg
Auch dieses expressionistische Gedicht zielt aufs Ende, doch ist das Ende unverkennbar kriegerischer Natur. Der Erste Weltkrieg hat einige Spuren im Expressionismus hinterlassen.


Jugend im Expressionismus
Der Expressionismus war eine Literatur der jungen Dichter. Aufbegehren, Aufbruch der Jugend sind daher wichtige Themen. Wo die Jugend dann gelandet ist, kann man an den Sterbejahren erkennen.


Jugend im Expressionismus II
Nicht zu wissen, wohin mit der ganzen Energie der Jugend, auch das ist nichts Neues und kehrt immer wieder. Die Expressionisten haben die intensive jugendliche Beschäftigung mit sich selbst nur in Literatur gegossen.


Jugend im Expressionismus III
Generationenkonflikt würde man heute zum Gedicht von Oskar Kanehl sagen. Erfunden haben diesen Konflikt die Expressionisten aber kaum.

Lesetipp:
Mehr zum Thema Väter und Söhne mit neueren Gedichten.

Jugend im Expressionismus IV
In diesem expressionistischen Gedicht wird ein sehr seltenes und auffälliges Reimschema genutzt, also mit der Form gespielt. Inhaltlich ist es jedoch ein Rückgriff auf das beliebte Wander-Thema der Romantik, sprachlich aber natürlich nicht so „lieblich“ umgesetzt.


Großstadt im Expressionismus
Die Großstadt war ein beliebtes Thema der Expressionisten. Hier ballte sich zusammen, was die Zeit hervorbrachte.


Ein poetologisches Gedicht
Ein poetologisches Statement gibt Ernst Stadler ab. Doch ist es wirklich gegen die Form gerichtet? Die Expressionisten haben formal experimentiert, doch enthält z.B. die Expressionismus-Sammlung Menschheitsdämmerung nach einer Auswertung von Wolfgang Kayser (Geschichte des deutschen Verses, S. 56) noch einen Anteil von 56% gereimter Gedichte.


Expressionistische Idylle
Ohne Reim geht’s auch. Das ist noch eine der einfacheren Möglichkeiten, Formzwänge abzustreifen, doch auch inhaltlich wird etwas abgestreift.

Lesetipp:
Das Gedicht deutet ganz zart in Richtung der Lyrikmondseite mit Schwarzem Humor.

Wilder Expressionismus
Hier geht’s noch mit Reim, aber sonst sehr unregelmäßig zu. Das Gedicht nähert sich der Prosa an, eine Geschichte wird erzählt.


Text und Titel
Der Titel des Lichtenstein-Gedichts lässt den heutigen Leser ein Gedicht im Stile Gottfried Benns erwarten. Auch damals dürfte sich mancher Leser gefragt haben, was der Titel mit dem Text zu tun hat. „Beim Essen einer Brennnesselsuppe“ hätte besser gepasst. Leser-Erwartung zu enttäuschen war auch etwas, das die Expressionisten nicht selten geübt haben.


Horror im expressionistischen Gedicht
Hier das genaue Gegenteil des Lichtensteinschen Lungen-Ansatzes, aber immer noch mit eingebauter Leser-Enttäuschung. Der Sonnenuntergang wird zum Horror-Ereignis.


Expressionistische Klage
In diesem Gedicht werden viele expressionistischen Merkmale zusammengefasst. Die Regellosigkeit der Form, die Kritik an den Zuständen der Zeit, die Hoffnung auf die Jugend.

Lesetipp:
Dies ist ein Ausschnitt aus Ernst Tollers Schwalbenbuch. Allerdings hat Toller in diesem Buch nicht nur expressionistisch gedichtet. Es ist eine Sammlung von Gedichten sehr unterschiedlicher Couleur, die sich nach dem richten, was die erlebte und in Versen erzählte Geschichte verlangt.

Ein Anti-Lied
Ein Volkslied der etwas schrägen Sorte ist dieses Mailied von Max Hermann-Neiße. Singbar wäre es, aber der Inhalt schlägt sich auf die Anti-Seite.


Verlorenheit in der modernen Welt
Bei diesem Gedicht kommt etwas von der Verlorenheit der expressionistischen Dichtergeneration in der modernen Welt zum Ausdruck. Typisch ist hier das Abgleiten aus einer realistischen Darstellung.


Ein expressionistisches Modellgedicht
Dieses Gedicht ist noch mal ein Modellbeispiel für den Expressionismus. Die Entfremdung von der bürgerlichen Welt drückt sich in der unverbundenen Reihung der Bilder und ihrer unorthodoxen Darstellung aus.

Lesetipp:
Eine Interpretation des Gedichts liefert das Poetische Stacheltier.

Richtung Dada
Dieses expressionistische Gedicht weist bereits Richtung Dada, denn der Unsinn hört langsam auf sinnig zu sein: „Gick! Gack!“


Expressionismus-Imitat
Das Imitieren expressionistischer Gedichte ist ein Spaß für die ganze Familie. Der Zeilenstil und mangelnde inhaltliche Zusammenhang sind ideal für kollaborative Texte, wo jeder seine Ideen dazuschmeißt. Reime zu finden, kann auch lustig sein, vor allem wenn man inhaltlich weit auseinanderliegende Wörter wählt. Einzig das Metrum, das die Expressionisten noch fleißig geübt haben, ist ein Hindernis, aber wenn man Parallelsatzbauten nutzt, sollte das überwindbar sein.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Abendidyll
Ein dürrer Junge spielt mit einem Bein.
Ein Arzt kaut mit Behagen Sägespäne.
Die Hure liegt im Wochenbett allein.
Der Pfarrer bang betastet seine Zähne.
Ein Kutschpferd wiehert einen groben Fluch.
Ein Polizist beäugt im Bad die Leiche.
Der Dichter heult gerührt ins eigne Buch.
Das Meer hüpft fröhlich über alle Deiche.
Linkadresse zu diesem Gedicht: www.lyrikmond.de/gedichte-thema-4-58.php#2744

Expressionismus-Parodie
Das folgende Gedichts parodiert einige expressionistische Eigenheiten, zum Beispiel hatte Georg Trakl (ein österreichischer Expressionist) eine Vorliebe für die Farbe Purpur und eine extravagante Bildersprache. Auch der Reihenstil ist hier wieder ziemlich präsent.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Herbstwalzer
Purpurne Zitronen platzen im herbstlichem Walzer,
ein Vogel steht auf verdorrtem Bein.
In grausamen Winden verklingen obszöne Flüche,
ein Biber nagt an Mutters goldenem Schrein.
Bald fallen wieder Totengräberflocken
und jeder Fleischwolf stirbt für sich allein.
Linkadresse zu diesem Gedicht: www.lyrikmond.de/gedichte-thema-4-58.php#1572

Hinweis: Mehr Expressionismus findet sich bei den vergessenen Expressionisten und in den Großstadtgedichten.