Gedichte unterwegs 1
Ein Dichter ist wie ein Arzt immer im Dienst. Auch unterwegs oder gerade unterwegs sammelt er Eindrücke, um sie in Gedichten zu verarbeiten. Dabei spielt die Geschwindigkeit keine Rolle. Ob zu Fuß, mit der Bahn oder dem Flieger, die Gedanken sind bekanntlich frei und laufen bei Dichtern in den merkwürdigsten Bahnen. Einige Zielankünfte wurden hier gesammelt.
Revolution zu Fuß
Autokorsos machen keine Revolution. Wer eine Revolution will, muss sich zu Fuß auf die Straße wagen, und dann ist es nicht mal ein kleiner Schritt zur Revolution.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Die nächste Revolution
Wer zu Fuß geht, sieht mehr.
Das habe ich gewusst.
All die Radfahrer,
Motorradfahrer,
Autofahrer
kommen weiter,
sehen weniger,
weil fokussiert
auf ihre kreuzenden Wege.
Nun habe ich eine bahn-
brechende Entdeckung gemacht:
Wer stehen bleibt, sieht noch mehr.
Und ich meine nicht
an einem Aussichtspunkt
oder weil etwas Aufmerksamkeit erregt.
Nein,
anlasslos stehen bleiben
und sich umschauen.
Sie werden Details entdecken,
die Sie nie zuvor gesehen haben,
auch wenn Sie den Weg schon
hundertmal gegangen sind.
Die Welt wird eine andere.
Stehen bleiben
ist die nächste Revolution.
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Allein unterwegs
Wenn man denkt, man ist allein unterwegs, dann denkt man nicht weit genug zurück. Allerdings könnte auch ein bisschen Vorausdenken nicht schaden, wie der Schluss des Gedichts zeigt.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Nie wieder allein
Ich gehe allein
im Regen auf einer Landstraße.
Weit und breit
niemand zu sehen.
Doch wenn ich zurückdenke:
Da sind die Straßenarbeiter,
die der Teermaschine folgen
und den dampfenden Teer verteilen,
die Dampfwalze, die ihn plattmacht,
der Mann mit dem Bauarbeiterhelm,
der die Verantwortung trägt.
Die Arbeiter schreien den Mann auf der Walze an,
die Walze ist zu nah dran,
der Walzenmann schreit zurück,
der Mann mit dem Bauarbeiterhelm schüttelt den Kopf,
gibt Anweisungen und ich hab gedacht,
ich wäre allein
im prasselnden Regen,
allein
mit dem Van-Gogh-Kornfeld,
allein
mit dem Gedanken an den Regenschirm,
der zu Hause im Schirmständer steht.
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Kurzer Ampel-Aufenthalt
Ein Ampel-Verbrechen wird in diesem Gedicht von unterwegs geschildert. Das Verbrechen an sich ist nicht überraschend, überraschend ist, wer sich dazu zusammengetan hat.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Komplizen
Wir stehen an der Ampel,
die Autos rauschen an uns vorbei.
Da ist das letzte.
Ich gehe über Rot,
nach kurzem Zögern
kommt die Krähe mit.
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Singende Straßen
Auch ganz unten hat man was zu trällern. Denkt man gar nicht dran, wenn man unterwegs ist.
Leo Heller · 1876-1941
Lied der Straßen
Wir dienen dem Glück, wir dienen der Pein.
Wir fühlen nichts, unser Herz ist aus Stein.
Wir sind die Straßen.
Wir glänzen im Licht, wir liegen in Nacht.
Wir tragen das Elend, tragen die Macht.
Wir sind die Straßen.
Das Jauchzen des Lebens, des Todes Schrei,
An unsern Ohren klingt es vorbei.
Wir sind die Straßen.
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Gedicht mit Licht
Wenn es unterwegs düster ist, dann hilft oft eine Kleinigkeit und damit sind keine Glühwürmchen gemeint. Wer nicht drauf kommt, Gedicht lesen hilft:
Samira Schogofa · geb. 1958
Und auf einmal ist alles anders
Abgenutzte Gesichter
in einsamen Straßen
ohne Licht.
Hat dein Blick
mir gerade
mitten auf der Straße
das Du angeboten?
Ich schwebe
lichtdurchwogt
über der Stadt.
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U-Bahn-Gedicht
Ein Gedicht über das Leben im „eisernen Leib“, denn auch dort gibt es Leben, wenn man dem folgenden Gedicht glauben darf, zumindest bis zur Endstation.
Waltraud Gelder · geb. 1966
Massenisoliert (U-Phobia 2)
schnell
schneller voran
nicht lange halten
weiter
weiter
gefüllt der eiserne Leib mit Leibern
Fremde zusammengepfercht
in hektischer Anonymität
verhaltenes Atmen
keine fremden Silben verschlucken
niemanden kennenlernend
wissen wollen
wer da ist
Blicke verschämt ignorieren
falls Neugier
erschmeckt und entdeckt
war alles nur Irrtum
Spiel der Langeweile
am Weg
nicht einsteigen
bitte alles aussteigen
Endstation
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U-Unterwegs
Mit ein bisschen Phantasie wird selbst eine U-Bahnfahrt ein Abenteuer, auf das man gerne verzichten würde.
Finja Schäfers · geb. 2001
Bahn-Wahn
Ich steige hinab
in die Unterwelt der Stadt
U-Bahn eben
Mitte des Bahnsteigs
Will nicht geschubst und
von quietschenden Rädern zerschnitten werden
und in den Nachrichten landen als
Toter
Niemand bläst Kaugummiblasen
Kaugummi landet auf dem Boden
Zwischen den Kippen und dem
Gerippe der Wünsche anderer Leute
und wird zertreten
Alles cool
Erdbeben
Die Bahn kommt und ich
steige ein, hab
Herzrasen, weil irgendein
Kerl seine Reisetasche loslässt
und sich schwerfällig
weiter weg allein in einen Vierer setzt
Hab einen sechsten Sinn
für Gefahren, die keine sind
Ich starre die Tasche an und
schwitze blutende Gedanken
Will nicht zerfetzt werden
wenn die Bombe hochgeht und
alles in die Luft jagt
Ich würde ja nicht mal fliegen
denn wir sind ja
unter der Erde
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Der Reisende wider Willen
Über einen Reisenden wider Willen berichtet dieses Gedicht aus Nürnberg, obwohl diese Geschichte auch in jeder anderen Stadt mit Straßenbahn hätte passieren können. Da steckt bestimmt was dahinter!
Wolfgang Wurm · geb. 1972
Leider
Fährt ein Falter
Zweimal, dreimal
Mit der Straßenbahn
Durch ganz Nürnberg
Hin und zurück
Hin und zurück
Fliegt wieder
Und wieder
Mit ganzer Kraft
Gegen dasselbe Fenster
Hin und zurück
Hin und zurück
Hin und zurück
War das schon
Die ganze Geschichte
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Überleben im Bus
Wie man die tägliche Weltreise zum Arbeitsplatz im 21. Jahrhundert überlebt, demonstriert das folgende Gedicht.
Patrick Schlegel · geb. 1993
Busfahrt
Grauer Himmel, dunkle Stadt
Mit der Donnermühle
Über Straßen nass und glatt
Durch die feuchte Kühle
Beide Ohren präpariert
Klare Stimmen klingen
Für den Außenlärm blockiert
Solln ihn übersingen
In den Händen liegt mein Licht
Mit den schwarzen Kanten
Die vor meinen Augen dicht
Eine Welt umranden
Ein Gerät um zu entfliehn
In das Netz der Netze
Sich die Zeichenketten ziehn
Durch so viele Sätze
Sich die Wirklichkeit verliert
Schöne Farben stechen
Wenn hier drin die Zeit gefriert
Kann ich sie durchbrechen
Stunden schmelzen fort wie Eis
In des Lichtes Wärme
Das als Brennstoff leitet leis
Strom durch Kabeldärme
Letztlich ist erreicht das Ziel
Geh mit der Kolonne
Stell auf Pause kurz mein Spiel
Blass die echte Sonne
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Allerkürzeste Romanze unterwegs
Wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, kommt es zu vielen Blickbegegnungen. Ein Lächeln kann da Berge versetzen. Der Berg in diesem Gedicht schrumpft aber allerschnellstens zum Maulwurfshügel.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Die Hauptsache
Die Stufen klappen auf.
Ich steige aus der Straßenbahn.
Die junge Frau an der Haltestelle lächelt
mich an? Warum, ach nein.
Sie lächelt den Typen hinter mir
an. Hm.
Na gut.
Hauptsache
sie lächelt.
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Nebenbei-Tragödie
Auch Kleinighkeiten sind unterwegs wichtig, wie z.B. nicht verteilte Zeitungsstapel an einer Haltestelle:
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Kleine Tragödie
Die Zeitungsstapel liegen immer noch
im Wartehäuschen an der Haltestelle.
Deshalb also
hat sie am Donnerstag dort gesessen
und geweint.
Er ist tatsächlich
nicht mehr gekommen.
Den Job dürfte er auch los sein.
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Ein traumhafter Zug
Im Zug da lässt sich’s träumen von alten Zeiten. Versuche das keiner am Steuer eines Autos. Doch auch eine Zugfahrt hat Nachteile, wie der Schluss dieses Gedichts enthüllt.
Barbara Kiray-Hüholt · geb. 1956
Im Zug
Häuser, Gärten, Straße, Wälder,
Wiesenlandschaft, Straße, Felder,
Häuser, Wälder, Felder, Felder ...
Und dann stehst du wieder dort am Rain.
Noch kein Begriff von Zeit engt deine Kindertage ein.
Die Grille, die den kleinen Händen stets entflieht,
singt mit dem Bach im Feld ihr monotones Lied.
Gleich hinter dir: der alte Wald mit seinen Blätterkronen,
in dem für dich allein die Räuber und die Wölfe wohnen
und Farne sich in kühlen, unerforschten Schatten wiegen.
Hier willst du träumen, auf den weichen Moosen liegen.
Mit trocknen Ästen baust du Höhlen zum Verkriechen,
siehst Käfern zu, lauschst Vögeln, kannst die Erde riechen.
Die Sonne sprüht in langen Streifen durch das satte Laub,
fängt flirrend in den warmen Strahlen Staub.
Und dann schaust du zum Feld und siehst ein gelbes Meer,
der Wind spielt seicht im Raps, trägt Blütenduft -
„Entschuldigung, ist hier noch frei?“
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