Gedichte übers Reisen
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er viel erzählen, sagt man. Aber wie sieht’s mit dem Dichten aus? Doch, auch das gibt es, und davon will ich hier erzählen. Reisen als Massenphänomen ist eine ziemlich neue Sache. In früheren Zeiten gab es nur wenige, die sich das Reisen erlauben konnten und auch keine Furcht vor den Strapazen hatten, denn selbst wenn man nicht zu Fuß gehen musste, eine Kutschfahrt über Stunden und Tage war kein Vergnügen.
Immerhin: Goethe hat es bis nach Italien geschafft. Das Land, wo die Zitronen blühen, war lange Zeit das Sehnsuchtsreiseziel der Deutschen. Der Unterschied zum Tourismus heute: Italien hat Goethe verändert, während man in modernen Zeiten eher auf das Gleiche nur in sonniger Verpackung aus ist. Selbst das Abenteuer, eine andere Sprache zu lernen, steht bei der Reisevorbereitung weit unten auf der Liste.
Große Reisefreunde waren auch die Romantiker, zumindest in ihren Gedichten. Das literaturtheoretische Stichwort heißt Entgrenzung. Reisen war für sie eine Möglichkeit, über das Übliche hinauszuwachsen, das Leben zu romantisieren.
Doch wie üblich in der Poeterey: Nicht alle singen die gleiche Melodei. Es wurden Gedichte nicht nur zum Lobe des Reisens geschrieben, wie etwa Hast du Lust mir mir zu reisen von Andreas Kleingrothe oder Ausfahrt von Joseph Viktor von Scheffel, es gab durchaus auch Hohn und Spott durch die Jahrhunderte, zu nennen wären reisen bildet von Wilfried Ihrig und Der Kuckuck und die Lerche von Friedrich von Hagedorn. Selbst der moderne Massentourismus, der zu Zeiten von Ludwig Thoma noch in den Kinderschuhen steckte, muss sich die Ironie der Sommeridylle gefallen lassen.
Also alles wie gehabt, alles eine Sache der Perspektive, wie Anastasius Grüns Gedicht Zwei Heimgekehrte eindrucksvoll demonstriert, denn was es zu erzählen gibt, ist Ansichtssache.

Das Gute liegt so nah
Schrieb Goethe, und wer bin ich, Goethe zu widersprechen. Daher wird in diesem Gedicht viel gereist, aber letztlich erweist sich eine Sehenswürdigkeit in der Nähe als viel interessanter.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Die Entdeckung der Welt
Über mir der Flieger in Richtung Süden,
der Reisebus fährt in die City,
die Radlergruppe zum See.
Und die Autos mit den fremden Kennzeichen
fahren kreuz und quer.
Ich glaub, ich geh wieder zurück.
Vorhin hab ich vorm Haus
ein neues Pflänzchen entdeckt,
das sich durch eine Ritze zwischen
den Gehsteigplatten gekämpft hat.
Das könnt ich mir näher anschauen.
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Am Ziel
Wenn man lange unterwegs ist, sieht man am Ziel die tollsten Sachen. Kann man mal sehen, dass sich Reisen doch lohnt.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
nach vier Stunden Bahnfahrt ...
nach vier Stunden Bahnfahrt
zwei Schmetterlinge
umkreisen einander
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Am Ziel 2
Reisen bildet, so sagt man, und tatsächlich ergeben sich ganz neue Perspektiven:
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
nach langer Wanderung ...
nach langer Wanderung
das trockene Brot
schmeckt
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Halb so schlimm
Das Zugunglück in diesem Gedicht ist halb so schlimm. Es geht um das Unglück, ein Reiseziel vor der Nase haben, aber trotzdem nicht zu reisen.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Zugunglück
Jedes Mal,
wenn ich auf dem Bahnsteig stehe,
und an Gleis 5
wird der Zug nach Hamburg durchgesagt,
betrachte ich neidisch
die Leute an Gleis 5
und sage mir:
„In Hamburg war ich schon lange nicht mehr.
Da wollte ich auch mal wieder hin.”
Und der Zug nach Hamburg fährt ein,
verdeckt mir die Sicht,
und er fährt ab,
und die Leute sind weg,
und ich stehe da.
Jedes Mal.
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Ein abenteuerliches Gedicht
Reisebuchungen sind auch ein großes Abenteuer. Da könnten zwei Wüstenratten ein Lied von singen, wenn sie denn singen könnten, und überhaupt haben sie ganz andere Probleme.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Abenteuerreise
Zwei Wüstenratten wandern
über den Meeresboden.
„Irgendwas stimmt hier nicht“,
sagt die eine,
„meine Füße sind feucht.“
„Mit deinen Füßen
ist alles in Ordnung“,
sagt die andere,
„aber schau mal nach oben,
irgendwer
hat die ganzen Vögel gerupft.“
„Ich glaube“,
sagt daraufhin die erste,
„unsere nächste Reise buchen wir
bei einem anderen Veranstalter.“
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Zweierlei Reisen
Bei Reisen denkt man an Urlaub, doch es gibt auch eine andere Art zu reisen, die bei Deutschen früher recht beliebt war. Man nennt sie Flucht.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Reisende
Alte, reiche Männer, die auf Reisen,
schlagen durch die Länder tollste Schneisen,
zücken an den Grenzen goldne Pässe,
zeigen Frauen ihre Glitzer-Fresse.
Männer, arm und jung, die flüchtend reisen,
müssen stetig Lauterkeit beweisen,
doppelt, dreifach prüft man ihre Pässe,
mucken sie, dann gibt’s was auf die Fresse.
Keine Grenzen kennt das Geld,
Armut starrt auf hohe Mauern.
Reiche an die Wand gestellt,
sind natürlich zu bedauern.
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Reisen wird teurer
Wenn die Züge schon nicht pünktlich sind, dann wenigstens die Preiserhöhungen. Wobei: Die haben, wenn man’s recht bedenkt, große Vorteile.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Die Bahn hat die Preise erhöht, hat die Preise schon wieder erhöht.
Das ist nur gerecht.
Die Fahrten werden ja auch
immer länger.
Wenn ein Zug laut Fahrplan
zwei Stunden für eine Strecke braucht,
und erst nach zweieinhalb Stunden ankommt,
dann entstehen zusätzliche Kosten.
Überstunden müssen bezahlt werden,
der Energieverbrauch steigt,
der Verschleiß ist größer,
25 % drauf, Minimum.
Da ist eine geringfügige Preiserhöhung
um ein paar Prozentchen
noch sehr human.
Wäre die Deutsche Bahn immer pünktlich,
müssten die Preise tatsächlich gesenkt werden.
Und bei niedrigeren Preisen
würden mehr Leute Bahn fahren.
Die Folge:
Überfüllte Züge.
Und?
Fahren Sie gern in überfüllten Zügen?
Sehen Sie!
Also:
Preise rauf,
mehr Verspätungen,
uns geht’s gut.
Alle machen Gezeter,
wir nicht!
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Eine ganz besondere Reise
Diese Reise, unscheinbar und klein, ist möglicherweise keine Reise in ferne Länder, sondern ins Metaphorische. Da soll es auch schön sein, sagen die Dichter.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Du bist auf der Reise ...
Du bist auf der Reise.
Du kannst nicht umkehren.
Du kannst keine Abkürzung nehmen.
Du kannst nichts tun, außer:
reisen.
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Kritik der reinen Reise
Das ist die berlinerische Variante von „Reisen bildet“, in der ganz nach Berliner Art zartfühlend leichte, ganz leichte Zweifel am Bildungsgehalt von Reisen geäußert werden.
Wilfried Ihrig · geb. 1953
reisen bildet
wenn ick nie jereist wär
wüsst ick jetzt nich
det reisen doof macht
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Einladung zum Reisen
Eine Einladung zum Reisen per Gedicht. Da können eigentlich nur fundamentalistische Stubenhocker widerstehen.
Andreas Kleingrothe · geb. 1985
Hast du Lust, mit mir zu reisen
Hast du Lust, mit mir zu reisen?
Willst du mit mir an der Hand
Los und dann gezielt entgleisen
In ein unbekanntes Land?
Hast du Lust, die Welt zu fragen,
Was sie für uns übrig hat,
Ohne hochgeklappten Kragen
Schlendern durch die fremde Stadt?
Hast du Lust und hörst auch Hummeln
Um dich summen, „Sieh dich um,
Sieh das Weite, sieh das Tummeln,
Sieh und sei das Publikum“?
Hast du Lust, verblüfft zu werden,
Welche Vielfalt sich uns gibt?
Grenzenlos ist der auf Erden,
Der das Kennenlernen liebt.
Hast du Lust, mit mir zu reisen?
Komm und nimm mich an die Hand.
Farben, Klänge, Lebensweisen
Warten hinterm Tellerrand.
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Urlaub sogenannter
Was Leute im Urlaub machen, ist sehr verschieden. In diesem Gedicht wird eine Strandurlaubsvariante exerziert.
Daniela Esch · geb. 1981
nachts am strand
in gespannter erwartung,
der geist von lust verdorben.
davongeschlichen, pochendes herz. eilen.
an burgen vorbei,
in unachtsamkeit zu ruinen zertreten.
trümmerhaufen von krabben besetzt. eilen.
ohne ring, der finger so leer,
leise versteckt im hotel.
moral mit in den koffer gepackt. eilen.
aus muscheln ein herz geformt,
im nasskalten sand.
initialen darin, unleserlich. warten.
auf unserer strandliege, allein,
zerrissenes aluminium, mit oreocreme beschmiert.
einsames glas einer sonnenbrille. warten.
einem schwarm mutierter fische gleich,
schwimmen wolken am himmelszelt,
gespiegelt im meer. warten.
dazwischen delphinus helle sterne,
in rautenförmiger konstellation.
ein zeichen poseidons dankbarkeit. warten.
nicht mehr.
du auf mir, ich verloren in dir,
wir im rausch der wellen, ineinander versunken. kommen.
körper von brandung umspült,
eiskalte gischt.
schaum auf der haut. kommen.
bass dröhnt,
elephant beach feiert.
ya ya ya coco jambo, ya ya yeah. kommen.
gestöhnte erlösung,
in treuelosigkeit vereint.
ein letztes mal diesen sommer. kommen.
zurück zur monotonie,
zuhause, in sehnsucht, entfernt.
bis zum nächsten jahr. warten
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Lesetipp:
Mehr von und über die Dichterin: vollwortkost.wordpress.com

Reiselied mit Refrain
Ein Loblied aufs altmodische Reisen hat Herr von Scheffel verfasst. Aber auch damals gab es schon „all-inclusive“.

Kommentar:
Das Gedicht ist auch eine Reise durch selten gesehene metrische Landschaften. Scheffel nutzt den Amphibrachys, ein Versfuß, bei dem von drei Silben die mittlere gehoben ist. Das bedeutet aber auch, dass z.B. beim Wort Berggipfel die Betonung von der ersten auf die zweite Silbe verschoben werden muss, eine Tonbeugung. Was beim Amateur häufig mangelnde Disziplin ist, macht hier den Vers musikalischer, weil die zweite Silbe durch verstärkte Betonung die erste niederkämpfen muss.

Reisen und Heimkommen
Aus der Reihe „Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe“ stammt dieses Gedicht übers Reisen und vor allem übers Heimkommen.


Übers Geldausgeben auf Reisen
Dieses Reisegedicht widmet sich dem wirtschaftlichen Aspekt des Reisens, genauer gesagt dem Geldausgeben anderswo. Gekauft wird letztlich eine banale Erkenntnis.


Ein Gedicht übers Reisen als Brief
Ein Brief aus dem Urlaub, man merkt, dieses Reisegedicht hat schon einige Jahre auf dem Buckel. Heute ist eine SMS das Maximale an Urlaubsschreibwut


Hugo von Hofmannsthal übers Reisen
Eine etwas seltsame Mischung von Gefahr und Faszination des Reisens bietet dieses Gedicht.


Gedicht über Tourismus
Und hier ein Rückblick auf die Frühzeiten des deutschen Massentourismus’, als man noch im Land blieb, um sich im Kreise der Familie dem Alltagsleben zu entziehen.


Ein Ringelnatz-Gedicht übers Reisen
Große Pläne sind Bestandteil mancher Reise, wie dieses Gedicht übers Reisen bzw. Nichtreisen zeigt.

Kommentar:
Ein Reim ist dadurch definiert, dass ab einem betonten Vokal alle Laute gleich sind. Man kann also „Ameisen“ nicht auf „reisen“ reimen, weil die Betonung eigentlich auf dem A von Ameisen liegt und dann zwei unbetonte Silben folgen, während reisen eine betonte und eine unbetonte Silbe hat. Um dennoch zu reimen, muss man bei Ameisen die Betonung auf die zweite Silbe verschieben. Tonbeugung nennt sich das, und so etwas in der ersten Zeile beim Reimwort machen zu dürfen, dafür muss man mindestens Ringelnatz heißen.

Urlaubsabschied
Abschiedsstimmung weht durch dieses Gedicht, denn auch der schönste Urlaub geht einmal zu Ende. Zeit zum Kofferpacken und Bilanz ziehen.


Gedicht über Reisen und Bildung
Kurz vor Schluss eine Lästerei übers Reisen, das den Ruf hat zu bilden.


Anti-Urlaubsgedicht
Selbst der Erholungswert von Reisen ist nicht einwandfrei erwiesen, wie diese Gedichtlästerei übers Reisen zeigt.

