Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

2 - Richtig reimen

Reime sind Ohrensache, sie gehen wunderbar ins Ohr und es zählen wirklich nur die gesprochenen Laute, nicht die Schreibweisen. Also reimt Mai auf frei und auf high (das gh erzeugt keinen Laut, warum auch immer) oder Stadt auf satt auf hat. Auch wichtig: Die Lautgleichheit beginnt erst ab dem Vokal, der Konsonant davor sollte sich unterscheiden, Maus reimt nicht so dolle auf Maus, auch wenn die beiden Mäuse das vielleicht gerade anders sehen.

Eher möglich, und selbst bei den alten Meistern akzeptiert, sind Reime mit leicht unterschiedlichen Vokalen: Städte – rette, schön – sehn, Tür – hier. Beim ersten Reim wird der lautliche Unterschied eigentlich nur von Leuten bemerkt, die eine Sprechausbildung haben, die anderen beiden Reimlaute unterscheiden sich etwas deutlicher, sind aber schon oft verwendet worden, also: Gewohnheitsrecht, wenn man sparsam damit umgeht.

Andersherum gibt es ein Problem, wenn die Schreibweise des Vokals gleich ist, aber die Aussprache unterschiedlich: Stadt und Rat. Das eine a wird kurz, das andere lang gesprochen. Diese Art eines Reims ist zwar möglich, solltest du aber vermeiden.

Traditionell ist für den Reim der Schluss entscheidend. Mäuse auf Läuse geht, aber Mäuselöcher auf Läusenester funktioniert nicht. Da ist zu viel Unterschied nach dem Gleichklang. Auch die Betonung spielt eine wichtige Rolle. Die Reimwörter können verschieden lang sein, doch der Vokal, ab dem der Gleichklang beginnt, muss in der letzten betonten Silbe liegen. Abendsonnenschein reimt auf Dichterlein, aber nicht auf Dasein. Im ersten Fall kann man die Schlusssilben jeweils betont lesen, aber das Dasein würde ziemlich leiden, wenn man es auf der zweiten Silbe betont. Das geht nicht richtig ins Ohr, und Reime sind nun mal Ohrensache.

Reime können auch aus mehreren Wörtern gebildet werden. So schrieb ein Herr Rückert vor langer Zeit:

Tief im Walde saß ich,
Und die Welt vergaß ich …

Der Reim beginnt beim a von „saß ich“. Diese Silbe ist betont und alle Laute danach gleich zu „vergaß ich“, also: Reim. Eine kleine Änderung und der Reim ist hin:

Tief im Walde saß nur ich,
Und die Welt vergaß ich …

Hier scheitert der Reim gleich doppelt. Der Einschub von „nur“ verhindert die Lautgleichheit nach dem betonten Vokal und gleichzeitig wird nun das „ich“ in der ersten Zeile betont, „saß“ ist also gar nicht mehr die letzte betonte Silbe. Dass „ich“ noch mal in der nächsten Zeile kommt, man also einen depperten ich-ich-Reim hätte, funktioniert auch nicht, denn einmal ist das „ich“ betont, einmal nicht. Die zweite Silbe von „vergaß“ klaut die Betonung.

Ich glaube, am besten spendiere ich nun eine Definition des Reims, denn Schwarz auf Weiß ist nun mal das, was außer den Ohren wirklich zählt in der Lyrik:

Ein Reim ist die Lautgleichheit zweier Wörter oder Wortgruppen ab dem Vokal der letzten betonten Silbe.

Warum ist es wichtig, so eine Definition zumindest mal gelesen zu haben? Nun, ich habe still und heimlich etwas vorbereitet: Dreiergruppen. Drei Wörter, eins davon reimt nicht wirklich auf die anderen beiden. Und ich habe mir diese Beispiele nicht ausgedacht, sondern sie aus Gedichten genommen, die tatsächlich zu einem Lyrikwettbewerb eingeschickt wurden, was deren Erfolgschancen geringfügig schmälerte. Also, welches der jeweils drei Wörter verursacht Ohrenprobleme?

1
direkt
Versteck
keck

2
Bein
daheim
allein

3
Fenster
Tänzer
Gespenster

4
beliebt
geschieht
verriet

1: Bei „direkt“ ist ein t zu viel. Der Reim zwischen den anderen beiden Wörtern funktioniert problemlos, weil „Versteck“ auf der zweiten Silbe betont wird (zu Betonungen mehr im nächsten Kapitel).

2: Hier stört das m von „daheim“. Dass „allein“ eine Silbe mehr als „Bein“ hat, ist wiederum kein Problem, weil das Wort auf der zweiten Silbe betont wird.

3: Dem „Tänzer“ fehlt zwar kein Bein, aber ein t, um mit den anderen Wörtern zu reimen. Die unbetonte Vorsilbe „Ge-“ ist wieder ohne Belang. „Fenster“ und „Gespenster“ sind ab der betonten vorletzten Silbe lautgleich.

4: Jeweils die letzte Silbe wird betont, der Reim ist also nur einsilbig. Aber: „beliebt“ macht sich wegen des zusätzlichen b als Reim unbeliebt. Das h in „geschieht“ ändert nichts am Laut: ein langes i, die Schreibweise ist egal.

Probleme gehabt? Macht nichts. Viel zu einfach? Auch egal. Das war eh nur zum Aufwärmen. Auf geht’s zur zweiten Etappe:

1
röcheln
lächeln
hecheln

2
besticht
kriecht
dicht

3
braten
starrten
Staaten

4
tränkt
drängt
sengt

1: Die Laute ä und e sind besser reimbar als ö und e, was prinzipiell zwar akzeptiert wird, doch wenn du die Wahl hast, dann lieber hecheln als röcheln.

2: Hier fällt der Fehler schon in der Schreibweise auf, ein langes i (ie) zieht den Kürzeren, wenn genug Auswahl mit kurzem i besteht. Die zusätzliche Silbe bei „besticht“ ist wieder bedeutungslos, weil die zweite Silbe betont wird.

3: Der Unterschied zwischen „starrten“ und „Staaten“ ist offenkundig. Es ist jedoch nicht völlig unmöglich, ein r als verschluckten Laut zu bringen, also „starten“ wäre vielleicht gangbar, würde aber bedeuten, die Leserinnen zu einer etwas flauen Aussprache zu zwingen.

4: Auch hier würde eine Dichterin eine nicht ganz hochdeutsche Aussprache verlangen, um „tränkt“ reimbar zu machen. Der Sprung von ä zu e ist hingegen kein besonderes Problem, obwohl Leute mit Theateraussprache das sicher anders sehen, aber es hat sich nun mal eingebürgert, diese leichte Unreinheit zu akzeptieren.

Zur Abrundung noch eine letzte Testreihe, dann solltest du reimfit sein:

1
bestehen
wegsehen
Vergehen

2
niemand
gerannt
verwandt

3
Berge
Herberge
Särge

4
Herz
Schmerz
himmelwärts

1: In diesem Beispiel verhindert die Betonung von „wegsehen“ den Reim, denn der müsste dann dreisilbig sein, weil dieses Wort bereits auf der ersten Silbe betont wird, die anderen beiden aber erst ab der zweiten.

2: Auch bei zweisilbigen Wörtern kann es Probleme geben. Das Wort „niemand“ wird wie so oft bei deutschen Wörtern auf der ersten Silbe betont, die anderen beiden Wörter jedoch aufgrund der Vorsilben „ge-“ und „ver-“ auf der zweiten Silbe. Der Reim ist also nur einsilbig.

3: Der Reim auf „Herberge“ wäre sozusagen ein Doppelfehler. Erstens wird Herberge auf der allerersten Silbe betont, kommt also gar nicht als Reim zu den anderen beiden Wörtern in Betracht. Zweitens, wenn man es gegen den Strich betonte, wäre es nur ein identischer Reim (Konsonant vor -erge ist gleich) zu „Berge“. Da identische Reime etwas flau klingen, sollten sie eh nur in Spezialfällen angewendet werden.

4: Mit dem Reim „Herz“ auf Schmerz“ ist offiziell alles in Ordnung, nur wurde er mindestens schon 3665 Mal verwendet, daher ist „himmelwärts“ ein besserer Reim auf „Herz“. Gleiches gilt für Herzen und Schmerzen. Auch den Reim solltest du nur bringen nach Absolvierung eines Marathonlaufs.

Zum Schluss die Frage, die du ähnlich nach jeder Regel stellen könntest: Macht das wirklich so viel aus, wenn du mal einen Reim baust, der nicht so ganz sauber ist? Natürlich nicht. Das Entscheidende ist: Du musst dir bewusst sein, dass dein Reim eigentlich nicht den traditionellen Vorgaben entspricht. Kannst du das vor dir rechtfertigen, ok. Ob dir Leserinnen das abkaufen, ist wiederum eine andere Frage. Dafür sind die Chancen am besten, wenn eine Abweichung von der Regel auch einen inhaltlichen Bezug hat und nicht auf einem verschämten „Mir fiel nichts Besseres ein“ beruht.