Gedichte aus dem Leben 1
Es müssen nicht immer die großen Themen der Menschheit sein, die in einem Gedicht verarbeitet werden. Oft reicht es, sich umzuschauen, das Leben um einen herum bietet genug Gelegenheiten für Gedichte. Diese Gelegenheiten beim Schopfe zu packen, das haben die Dichter dieser Seite unternommen.
Wenn die Welt noch in Ordnung ist
Es gab mal eine Uhrzeit am frühen Morgen, zu der die Welt noch in Ordnung war. Aber die ist in Vergessenheit geraten, also richtet man sich nun nach der Müllabfuhr:
Richard Barth · geb. 1954
Abfallpoesie
Taunass glänzt die Straße
löchrig geborgen
zwischen vergessenen Fassaden
Die ersten offenen Fenster
wollen den sichtbaren Teil
des Himmels
hören das Krachen der Bahn
Motoren Kindergeschrei Katzenkampf
Türenschlagen Stimmen Lachen Klappern
und ungewollte Düfte kommen und
die ganze Welt
Hellorange biegt die Kehrichtabfuhr
um die Ecke
hält rumpelnd vor den Abfallsäcken
in Reih und Glied
voller Erwartung bereit
im glitzernden Perlentropfenmeer
Geübt gegriffen verschwinden sie schnell
im gefräßigen Vehikelbauch
bekommen ein fröhliches Lied gepfiffen
von einem braunen Gesicht
Schon geht es weiter
um die nächste Ecke
schon ist alles vorbei
nur das Lied ist noch zu hören
leise schwebt es
über der taunass glänzenden Straße
löchrig geborgen
zwischen vergessenen Fassaden
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Ein Gedicht über Regelmäßigkeit
Klingt das nicht sehr vielversprechend: ein Gedicht über Regelmäßigkeit? Nun, richtig ins Leben hineingegriffen, kann man da durchaus etwas draus machen:
Franziska Schöning · geb. 1990
In dieser hektischen Zeit ...
In dieser hektischen Zeit
Kann man ja
Über jede Konstante im Leben froh sein
Bei mir ist das zum Beispiel
Wöchentlich
Die E-Mail von der GMX Vorteilswelt
Hoffentlich melden sich meine Kinder
Später auch so regelmäßig
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Gedicht über einen Ruhetag
Wer die Ruhe weghat, den kann selbst ein Gewitter nicht erschüttern an einem Ruhetag:
Christoph Röhnisch · geb. 1991
Fabienne
Die Dorfsirenen heulen
Der Wettermann hat uns nicht geprellt
Ein Sturmtief zerrt an den Bäumen
wirft Kugelblitze ins offene Feld
In der Badewanne sitzend
mir gegenüber mein Vertrauter C. Nagl
Nüscht sag ich
aber auch nüscht ham wa heut getan
Er reagiert – wenn ich das Wasser heißer dreh
kommt vielleicht noch Dampf ausm Hahn
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Ein Regengedicht, dem etwas fehlt
Das Gedicht schildert eine Situation. Warum tut es das? Weil etwas nicht stimmt in dem Bild, das das Gedicht zeigt. Ob diese Unstimmigkeit etwas zu bedeuten hat, müssen die Leser selbst entscheiden. Den einen mag dieses Gedicht aus dem Leben etwas sagen, den anderen nicht.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Ein älteres Paar
Zwei Gesangbücher
in der linken Hand des Mannes, der
den aufgespannten Regenschirm hält.
Die Frau hat sich bei ihm eingehakt,
und so gehen sie,
doch es regnet nicht.
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Gedicht aus dem Leben von Tauben?
Ein ganz und gar triviales Gedicht aus dem Leben zweier Tauben. Es enthält keinerlei Symbolik, verschlüsselte Botschaften oder dunkle Andeutungen, aber es ist auf keinen Fall ein Gedicht aus dem Leben zweier Tauben.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Zwei Tauben auf der Straße
Eine Taube jagt
eine Taube
ein Stück
die Straße
hinab.
Ein Auto kommt.
Die Tauben fliegen
fort.
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Tägliche Katastrophen
Man macht sich ja keinen Begriff, welche Katastrophen rundherum täglich passieren. Das ist wahrscheinlich auch besser so, sonst würden wir mit angehaltenem Atem durchs Leben gehen, und das ist möglicherweise nicht gesund.
Maike Suter · geb. 1966
hinab
mit letzter Kraft
versuchte er sich festzuklammern
doch es war nur eine Frage der Zeit
bis er abstürzen würde
das Metall war so glatt
und er wurde immer schwerer
schon begann er den Halt zu verlieren
tief unter ihm die weiße Fläche
das musste Schnee sein
davon hatte er reden hören
vielleicht würde er weich genug fallen
vielleicht
dann aber packte ihn wieder die Angst
er fing an zu zittern
rutschte ab
und fiel
hinab
in die Tiefe
bis ihn das glänzende Weiß jäh stoppte
aber es war kein Schnee
der Aufprall war hart
er spürte wie es ihn zerriss
langsam
glitt er auf ein schwarzes Loch zu
warf einen letzten Blick nach oben
wo er zu seinem Erstaunen
sich selbst am Metallrohr hängen sah
plötzlich begriff er alles
den ganzen fatalen Kreislauf
seine eigene Bedeutungslosigkeit
und in dem Augenblick
als ihn die Dunkelheit verschlang
löste sich oben der nächste
Tropfen vom Wasserhahn
und fiel
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Kommentar:
Mehr zur Dichterin auf ihrer eigenen Website.
Fernsehgeständnis
Das lyrische Ich im folgenden Gedicht legt ein volles Geständnis seiner Fernsehuntaten ab:
Frederike Frei · geb. 1945
Abend, teuer
Man liest nicht mehr,
schreibt eine, die
gelesen werden will.
Der Satz schafft Platz.
Buchstaben lockern
sich, fallen aus.
Ohne Biss mümmeln
Hirne vor sich
hin. Alles sitzt da,
steht da, sieht fern. Was soll
ich sagen von Jahren,
die ich am Teletropf hing,
von Tagen, an denen ich
lieber Leute zum Bildschirm
einließ als zur Tür.
Meine beiden Leben, das
schwarze und weiße, gab’s
endlich in Farbe, seit ich
mit dieser Beziehungskiste
verabredet war, um nicht . . .
unglücklicher zu werden
übers Wochenende. Ich lebte
von Luft und BAT VIII und
suchte mich auf jedem Kanal.
Bilder hetzten die Lider,
drangen in Höhlen,
pumpten Augäpfel auf,
Entleibte nahm ich für voll,
starr stand der Wald, Krieg
war mit Händen zu greifen.
Sein oder Nichtsein, das war
keine Frage. Tausend Jahre sind
vor dem Bildschirm ein Tag.
Ich blieb stehen wie Uhren
in Katastrophen. Nichts hatte
ich in der Hand, geschweige
einen Stift.
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Einkaufsgedicht
Selbst beim Einkaufen fällt ab und zu ein Gedicht mitten aus dem Leben ab, man muss es nur denken.
Timo Bahrs · geb. 1992
Traumfabrik
„Warum sehen Sie heute wieder so erschöpft aus?
Okay, das war eine rhetorische Frage.
Ich weiß es:
Jeden Tag Produkte zu scannen mit der immergleichen Armbewegung schlägt auf das Gemüt.
Alkohol an Alkis,
Zigaretten an Raucher,
Süßigkeiten an viel zu fette Menschen,
welche sich genauso betäuben wie Sie und ich.
Es tut mir leid. Ich möchte Sie deswegen in den Arm nehmen.“
Doch dachte ich das nur und bezahlte an der Kasse den Schokoriegel. Dabei lächelte ich nicht einmal.
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Erkenntnis
Manchmal kann man etwas über sich selbst lernen, indem man andere Menschen beobachtet.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Am Teich
Das alte russische Ehepaar
steht schon seit einer halben Stunde
am Teich
und schaut den Entenküken zu,
so wie ich.
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Aus dem Landleben
Das wahrlich aufregende Leben auf dem Lande schildert das folgende Gedicht.
Thomas Glatz · geb. 1970
Oberostendorf
Im Feld kauert ein Landwirt und erschlägt einen Flurschädling
Mit der hohlen Hand.
Ein kleiner Bach macht zagpläppernd Geräusche.
Ein Hahn ruft zur Zubettgehzeit wie andernorts der Muezzin.
Eine Wetterfahne knattert.
Ein roter alter
Eimer steht am Wegesrand.
Mehr gibt es nicht zu sagen.
Erst wieder übernächstes Jahr.
Da wird der Obst- und Gartenbauverein
runde 100 Jahre alt.
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In den Spiegel schauen
In den Spiegel zu schauen, wird nicht nur rein physikalisch – um beispielsweise Essensreste an der Backe zu entdecken –, sondern auch metaphorisch empfohlen zur Selbsterkenntnis. In diesem Gedicht führt das eine zum andern.
Martin Wolkner · geb. 1980
Sich selbst glauben
Er sah in den Spiegel.
Sein Gegenüber betrachtete ihn
mit einem merkwürdigen Blick,
der fragend, eher zweifelnd war.
„Vertraust du mir?“,
fragte er sein Gegenüber.
„Glaubst du alles, das ich sage?“
Sein Gegenüber musterte ihn
erst finster, dann schlich sich
ein mysteriöses, vielsagendes Lächeln
auf die Lippen seines Gegenübers,
denn er wusste ihn einzuschätzen.
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Lesetipp:
Mehr von und über den Dichter: wolkner.com
Was war, was wird
Wenn was war, wahrlich wehe war, wird was wird, wirklich wunderbar. So ungefähr lässt sich dieses Gedicht aus dem Leben zusammenwassen.
Johannes Hülstrung · geb. 1993
schlaf der gerechten
ich weiß nicht was
ich alles noch
vor mir habe denn
ich kann ja nicht
hellsehen aber
ich kann sagen was
ich alles schon hinter
mir habe und
ich will echt nicht
angeben aber da waren
krasse sachen dabei
und trotzdem erwache
ich erst mit
der mittagssonne
ich schlafe den
schlaf der gerechten
und während
ich so traumlos
daliege denke
ich was soll
jetzt noch kommen
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Ohne Worte
Die Sehnsucht nach einem Leben ohne den üblichen Wortlärm kommt im folgenden Gedicht zum Ausdruck.
Beate Münchenbach · geb. 1971
Stumme Gespräche
Stumme Gespräche
Mit Zeichen statt Klang
Blicke
Lächeln
Lippenspiel
Stumme Gespräche
In Trubel und Lärm
Gesten
Minen
Augenschein
Das gellende Kreischen zerschneidet die Luft
Der Sohn und die Mutter in giftigem Streit
Im Eck grölt das Mädchen am Telefon
Die Brandung aus Stimmen ertränkt mein Gehör
Zwei Menschen verbunden in stummem Sein
Geborgen im Raum ihrer eigenen Welt
Ich würde gern hören den tonlosen Ton
Hab Sehnsucht nach stillem Verstehn
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Gedicht über einen Blick zurück
Ein Gedicht über eine alltägliche Begegnung: Eine Frau, die das Leben arg mitgenommen hat, begegnet zwei Müttern. Was wird passieren?
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Stehen geblieben
Gestützt auf den Krückstock
ist sie mühsam zwei Schritte gegangen
und dann stehen geblieben.
Sich am Zaun festhaltend
schaut sie den beiden Müttern
mit ihren Kinderwagen
hinterher –
und lächelt
verzehrt.
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Das antike Griechenland in Ballerinas
Wer genau hinschaut, wer ganz genau im Leben hinschaut, der entdeckt die alten Griechen sogar in Ballerinas. Zum Beweis folgendes Gedicht:
Chandal Nasser · geb. 1958
Mythologisch
junge Frau strumpflos
in Ballerinas
weiße gesittete Beine
wie zum Leben
erwachte griechische Säulen
aus beiden Fersen
schauen Pflasterstreifen
zwei Millimeter heraus
Achilles hin oder her
Menschenhaut ist verwundbar
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Gedicht über Hausbau
Wer eine Reise tut, hat viel zu erzählen, aber kein Vergleich zu jemandem, der ein Haus baut. Selbst wenn alles gut geht, kann’s doch noch schief gehen.
Guido Zernatto · 1903-1943
Das Haus
Wie kannst denn du wissen, was alles zuerst,
Bevor noch der Grund ausgehoben,
Zu tun war. Der Baumeister machte den Plan,
Wir stritten uns viel: An dem Haus ist nichts dran,
Was er zeichnete. Alles verschoben!
Da bin ich im Winter die Nächte allein
Beim Tisch in der Stube gesessen.
Und habe die Wände, die Stiege, den Gang,
Die Böden, die Fenster, das Dach extra lang
Genau ausspekuliert und vermessen.
Dann hub ich erst selber, der Jakob half mit,
Den Grund aus, drei Meter hinab,
Dann führten wir Steine vom Kleinbergel her,
Fast drei Wochen, gredeten auf, es war schwer,
Man muss spreizen, sonst stürzen sie ab.
Den Kalk, den wir ferten im Spätherbst gebrannt,
Den löschten wir unter dem Haus.
In der Nacht fiel einmal eine Henne hinein.
Wir hätten auch können achtsamer sein,
Wir zogen sie gar nicht heraus.
Die Maurer fanden dann Federn im Kalk
Und die Flügel fast drei Wochen drauf.
Aber abgesehen davon: Wir hatten viel Glück,
Es fiel keine Stund’ in der Bauzeit zurück
In das Nutzlose. Wir bauten auf.
Ich maß jeden Tag, um wieviel das Gebäu
Erst zum Kopf, dann höher aufstieg.
Und ich lehnte mich abends zum Fenster hinaus,
Das ins Vorfeld hinabschaut. Ich liebte das Haus,
Weil es mein war und über mich stieg.
Zum Gleichenfest tranken wir bis in der Früh,
Es kam nicht drauf an zu der Zeit.
Wir waren ja einige Stunden darnach
Wieder munter und gingen der Bauarbeit nach.
Und dann stand es: So lang und so breit!
So lang und so breit, aber dann fehlte viel,
Der Maler, der Tischler, wer sagt’s?
Ja das Dach und noch vieles; ich nahm das Geld auf,
Ich bekam, was mir fehlte, und noch etwas drauf.
Jetzt hat mich die Kassa geklagt.
Geklagt, weil die Zinsen im Rückstande sind.
Ich hab Unglück, das vierte Stück Vieh
Ging die andere Woche an Klauenseuch’ ein,
Holz hat keinen Wert. Jetzt wo aus und wo ein?
Wenn kein Wunder kommt, zahl ich es nie.
Am Montag wird um dieses Haus lizitiert.
Dem Meistbieter fällt’s in die Hand.
Und mir fallen alle die Träume jetzt ein,
Die ich hatte – für sie. Doch es sollte nicht sein.
Es gehen viel Wege durch Land.
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