Gedichte über Todessehnsucht 1
Eigentlich sollte man sein Leben bis zur letzten Minute auskosten, eigentlich. Aber manchmal kommt das Gefühl auf, genug zu haben: Alles gesehen, alles erlebt, es wiederholt sich alles, die Neugier geht verloren. Und dann kann es schon sein, dass wie in den Gedichten auf dieser Seite eine Sehnsucht nach dem Ende aufkommt. Gut wäre es jedoch, die Gedichte nicht als Ermutigung zum letzten Schritt aufzufassen, sondern diesen Nullpunkt nachzuerleben, ihn zuzulassen, sich zu sagen: „Nun war ich da“, und daraus gestärkt hervorzugehen, denn schließlich haben die Dichter nichts Anderes gemacht, sonst hätten sie die Gedichte kaum aufschreiben können.

Sehnsucht nach der Endstation
Was scheinbar als Zugfahrt beginnt, endet bei viel mehr. Tatsächlich scheint das Wort Eisenbahn eine ganz andere Bedeutung zu haben als umgangssprachlich üblich.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
In der Eisenbahn
Wie lange noch?
Wie lange, lange, lange noch?
Ich will nichts mehr.
Ich will nichts, will nichts, will nichts mehr.
Was soll ich noch?
Was soll ich, soll ich, soll ich noch?
Mich rührt nichts mehr.
Mich rührt nichts, rührt nichts, rührt nichts mehr.
Ich kreis nur noch.
Ich kreis nur, kreis nur, kreis nur noch.
Hier ist nichts mehr.
Hier ist nichts, ist nichts, ist nichts mehr.
Wie lange noch?
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Schlussstrich
Ein Gedicht über einen, der es getan hat, oder? Der Schlussstrich lässt jedoch auch eine alternative Interpretationsmöglichkeit zu.
Hans Retep · geb. 1956
–
Du verfluchtes Leben,
lass mich schlafen, lass mich ruhn.
Will mich sanft ergeben,
lass die andern rennen, schachern, tun.
Blut entfließt der Ader,
mir wird leicht, ich lass mich gehn.
Schluss mit Zank und Hader,
auf ein Nimmerwieder –
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Sehnsucht nach Ewigkeit
Die Sehnsucht nach der Ewigkeit in diesem Gedicht ist nicht die nach einem ewigen Leben, nach einem Zusammensein mit allen, die einem lieb sind, im Paradies, sie ist die Sehnsucht nach einem Zustand, der eigentlich für die längste Zeit, für die meisten Lebewesen, der normale ist.
Hans Retep · geb. 1956
Ewigkeit
Ich spreche mit niemandem.
Niemand spricht mit mir.
Alle elektronischen Verbindungen
sind gekappt.
Ich habe keine Freude mehr
an anderen Menschen.
Ich habe keine Freude mehr
an mir.
Ich bin nicht krank,
ich bin alt.
Jeden Tag findet mein Körper
einen neuen Schmerz.
Jeden Tag scheitert er
an einer anderen Aufgabe.
Er ist nicht mehr der treue Arbeiter,
er ist eine verbrauchte Primadonna,
die nach Aufmerksamkeit giert.
Noch älter als mein Körper
ist mein Geist,
der müde des Geplappers seines Ichs
sich sehnt
nach dem Schweigen
der Ewigkeit.
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Über das Leben vor dem Tod
Dieses Gedicht enthält ein paar praktische Ratschläge für das Leben vor dem Ernstfall. Ist allerdings nichts für Eilige, man muss ein bisschen Geduld mitbringen.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Bevor ich mich umbring
Bevor ich mich umbring,
stell ich eine Frage.
Frag nach dem Weg,
nach der Uhrzeit –
irgendwas irgendwen.
Bevor ich mich umbring,
pflanz ich Blümchen
und wenn noch Platz ist,
auch einen Baum.
Bevor ich mich umbring,
red ich mit einem
ganz harmlos
übers Wetter.
Bevor ich mich umbring,
pack ich meine Sachen,
mach eine Reise,
egal wohin,
Hauptsache fort.
Bevor ich mich umbring,
steig ich hinauf in die Höh,
betrachte die Welt
noch einmal
von oben.
Bevor ich mich umbring,
schreib ich ein letztes
Gedicht über all die Sachen,
die mich wütend machen.
Bevor ich mich umbring,
lauf ich noch einmal
100 Meter,
so schnell ich nur kann.
Du siehst das Muster,
die Regel ist einfach:
Ich bring mich nicht um,
bevor ich mich umbring.
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Humor und Todessehnsucht?
Sehnsucht im Allgemeinen und speziell die Sehnsucht nach dem Tod ist eine ernste Sache, so ernst, dass man ihr mit Humor beikommen muss.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Eines Tages
Eines Tages werde ich aufwachen
und die Augen werden nicht verklebt,
die Nase nicht verstopft
und der Mund nicht ausgetrocknet sein,
und ich werde nicht
diese müden Schmerzen haben,
sondern frisch und munter mich
des Lebens freuen
wie eine gerade umgedrehte Eieruhr.
Eines Tages
in meiner Urne.
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Wenn es einem gut geht
Wenn es einem gut geht, dann gibt es keinen Grund, sich nach dem Tod zu sehnen, könnte man denken, aber wie es so klassisch heißt: Gedichte bestätigen die Regel.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
wie gehts
mir gehts gut
wenn ich allein bin
mir gehts noch besser
wenn ich allein bin
und schlafe
mir gehts am besten
wenn ich allein bin
und schlafe
und nicht träume
nur aufwachen
bleibt ein stetes ärgernis
aber auch das geht vorbei
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Warten auf den Tod
Auch in diesem Gedicht ist Warten die letzte Option ob eines zu großen Lebensüberdrusses.
Dyrk Schreiber · geb. 1954
Auf der Parkbank
Da ihm oft Kämpfe abgerungen,
hart stets und ohne Lorbeer,
will er nur eines,
was einst klein und tief weggetaucht war,
nun aber ihm in bittrer Nähe haust,
jetzt, da die Schritte kurz
und die Gänge jungen Atem verlangen
und, oh Gott,
dieses Leben,
dieses Leben
nichts Großes gemeint haben konnte:
Sitzen bleiben,
einfach sitzen bleiben!
Bis es weiß wird -
und dann schwarz.
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Herz-Gedicht
Die scheinbar unendliche Beständigkeit des Herzschlags kann, wie bei einem Gedicht auf dieser Seite nicht anders zu erwarten, Anlass zu Beschwerden sein:
Maja Gschnitzer · geb. 1996
Die Pumpe
Das Herz, es pocht
In meiner Brust
Es pumpt und pumpt
Tagein, tagaus
Und gönnt sich keine Ruh’
Das Herz, es pocht
Ich lebe noch
Woher nimmt es
Nur so viel Kraft
Ich bräuchte langsam Ruh’
Das Herz, es pocht
Gefangen in
Dem Rippenknast
Genau wie ich
Gefangen, ohne Ruh’
Das Herz, es pocht
Es schlägt und schlägt
Den Brustkorb mir
Von innen wund
Es schlägt mich ohne Ruh’
Das Herz, es pocht
Verbissen wie
Maschinen sind
Es fühlt nichts mehr
Wann gibt es endlich Ruh’
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Die eine Frage
Nur eins ist sicher: der Tod. Und wenn dem so ist, ergibt sich bei wachsender Müdigkeit eine Frage – die Frage dieses Gedichts.
Svenja Volpers · geb. 1997
Wunsch nach dem Unsagbaren
Manchmal wünsch ich mir
es wäre alles vorbei
kein Geschrei mehr
keine bösen Blicke
auf meiner Haut
ich finde nie den
Schlussstrich
schaffe nichts zu
Ende
und am nächsten Tag
über-
rollt mich eine neue Welle
ich will einfach nur
liegen bleiben
an nichts denken
ausatmen
in die Dunkelheit starren
und nichts mehr fühlen
aber ich darf nicht
muss irgendwie funktionieren
und mich zusammenreißen
so lange
bis ich endlich
irgendwann
nicht mehr atmen kann
Aber sag mir,
wenn es sowieso unvermeidbar ist,
warum quäle ich mich dann noch
und nehme es nicht einfach
selbst in die Hand?
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Kommentar:
Dieses Gedicht war einer der 12 Finalisten aus über 1600 Einsendungen für das Gedicht des Jahres 2018.

Bis zum Ende und darüber hinaus
Dieses Gedicht über Todessehnsucht hält nicht beim Tod an, sondern geht noch darüber hinaus.
Susanne Swazyena · geb. 1969
Das Ende
In einer stillen, lauen Nacht
kein Mond am Firmament
der Teufel mir im Herzen lacht
die Hölle in mir brennt
Das Fegefeuer frisst mich auf
die Zeit scheint stillzusteh’n
der Tod, das ist der rechte Lauf
nicht nach dem Leben fleh’n
Der Schmerz im Herzen tut mir gut
kein Winseln und kein Klagen
ergebe mich mit allem Mut
Erlösung ohne Fragen
Vor meinen Augen läuft es ab
das Leben ohne Sinn
geh geradewegs ins Grab hinab
das wird mein Neubeginn
Die Augen blind, der Atem still
nun endlich ist’s vollbracht
ergebe mich des Teufels Will
in dieser lauen Nacht
Mein Körper, er zerfällt zu Staub
vereint mit Mutter Erde
befreit von Hass und Mitleid auch
auf dass es Licht nun werde
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Seelenmonolog
Dieser Monolog ist eigentlich ein Zwiegespräch mit der eigenen Seele. Originell ist die Beschreibung des traurigen Lebens in der dritten Strophe.


Die fröhlichen Toten
Dieses Gedicht über Todessehnsucht erinnert in seinen Anklängen an die griechische Mythologie an Conrad Ferdinand Meyers Lethe.
Georg Stolzenberg · 1857-1941
Jahre schon schleppe ich mich durch den grauen Staub ...
Jahre schon schleppe ich mich durch den grauen Staub.
Ohne Ziel!
Über jeden Meilenstein möchte ich zusammenbrechen ...
Mir zur Seite, den Fluss hinab,
gleitet und bleibt ein Boot.
Drin sitzen, selig, meine Toten.
Der Mast
ein lebender Baum, schneit weiße Blüten in ihren Wein.
Sie spielen die Laute und lachen.
Wie sie einst gelacht!
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Schnelles Ende
Wenn das Leben und man selbst nicht den eigenen Ansprüchen genügt, was dann? Die Antwort des Ichs ist das eine, die Tatsache, dass der Autor das Gedicht 1891 als Einundzwanzigjähriger veröffentlichte, das andere.

Kommentar:
Zu „Äser“ weiß der Duden, dass es eine der zwei Mehrzahlformen von Aas ist. Äser gilt als „umgangssprachlich und wird meist für die Bedeutungsvariante 'gemeiner, niederträchtiger Mensch' eingesetzt“. Ob das vor mehr als 100 Jahren auch so war, müsste man für eine Interpretation erst mal herausfinden.

Jung und lebensmüde
Ein Phänomen, das sich durch die Jahrhunderte zieht, ist die Lebensmüdigkeit in jungen Jahren. Hier ist ein Exemplar aus der Wendezeit vom 19. zum 20. Jahrhundert zu begutachten.


Schlusspunktgedicht
Geschrieben am 6. Februar 1945
Am 07.02. 1945 in der Eifel als Soldat umgekommen
Quelle: Max Sidow, Cornelius Witt (Hrsg.): Hamburger Anthologie. Lyrik der letzten fünfzig Jahre, Marion von Schröder Verlag, Hamburg 1965, S. 198
Werner Hundertmark · 1909-1945
Letztes Gedicht
Ach, die Blüten sind alle geknickt,
die der März mir gebracht!
Ein Frost hat die Keime erstickt,
und ein Wind stand auf in der Nacht.
Mein Herz ist von Trauer voll:
Wenn ich nun sterben soll,
leicht ist’s vollbracht.
Und der Sommer, wie ging er dahin,
wer hat ihn gesehn?
Kommt mir ein Lied in den Sinn
vom Blühn und Vergehn.
Wie sind die Rosen so rot!
Neigt sich mein Herz in den Tod:
Leicht ist’s geschehn.
Sieh die Stunde in Blau und Gold,
sehr lang war sie dein.
Nur die Träume blieben dir hold,
Zwielicht und trüber Schein.
Herz, mein Herz, sei nun still!
Wie die Stunde es will:
Zufall bestimmt unser Sein.
Sinnst du der Blüte noch nach,
die Tau und Tränen getränkt,
die dir der März schon zerbrach,
der du dein Hoffen geschenkt?
Sterben ist leicht!
Ist erst die Grenze erreicht,
wie bald ist das Ruder geschwenkt!
Dennoch, mein tapferes Herz,
lodernd und rot:
Niemals zwang dich der Schmerz,
beugte dich die Not;
niemand löschte dich fort:
Bleibt dir doch Stimme und Wort,
Jubel und Tod!
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Ein Sonett über Todessehnsucht
Der Expressionist Max Herrmann-Neiße nutzt die klassische Form des Sonetts, um Hoffnungslosigkeit und Todessehnsucht zum Ausdruck zu bringen. Der Schluss ist sehr stark.


Nach der Gier
Lebe jeden Tag so, als ob es der letzte wäre – das ist eine jener Weisheiten, die man nur schluckt, wenn man keine Sekunde darüber nachdenkt. Und das ist nicht ungefährlich, wie das Ich im folgenden Gedicht demonstriert.
Friedrich Wilhelm Wagner · 1892-1931
Die blöde Gier hat endlich uns zerrieben ...
Die blöde Gier hat endlich uns zerrieben.
Wir lehnen müde an der hohen Mauer.
Es ist uns nichts als nur der Traum geblieben
Von einer Lust, verblasst und ohne Schauer.
Es treffen hart uns jene leichten Lieder,
Die lockend rufen aus den hellen Wiesen.
Wir legen uns im sanften Schatten nieder.
Und lassen lächelnd unser Blut entfließen.
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Der letzte Schritt
In diesem Gedicht wird das Ich im übertragenen Sinne über den Haufen gelaufen und geht daher den letzten Schritt.
Frank Warschauer · 1892-1940
Die Flucht
Weil hier so viele Schritte sind,
in dieser Straße, in der ich aufgewachsen bin,
deswegen habe ich ein müdes Gesicht
und deswegen bin ich ein trauriger Mensch.
Weil hier so viele Schritte sind,
in dieser Straße, in der ich aufgewachsen bin,
deswegen richte ich mich so selten auf,
Armeen sind über mich hinweggestampft.
Weil hier so viele Schritte sind,
in dieser Straße, in der ich aufgewachsen bin,
deswegen hat man mich eingesperrt,
sie fanden, ich hätte Wechsel gefälscht.
Weil hier so viele Schritte sind,
in dieser Straße, in der ich aufgewachsen bin,
deswegen nehme ich dich zur Hand, o Freund,
und in die Stille fliehend töte ich mich.
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Sehnsucht nach den Wolken
Max Herrmann-Neiße findet Gefallen an der Vorstellung vom Jenseits, obwohl Wolken noch eine diesseitige Angelegenheit sind, im Paradies gibt’s bestimmt keine.


Überdruss
Eine achtfache Dosis von Lebensüberdruss, oder wie der Alt-Römer sagt „Taedium Vitae“ , spendiert dieses Gedicht.
Albert Ehrenstein · 1886-1950
Taedium Vitae
Ich will trauern und ich will mich grämen,
Ich will kauern und ich will mich schämen,
Ich will die Rosen nicht mehr riechen,
Ich will mich unters Bett verkriechen,
Ich will krank sein, faulen, abwärts siechen,
Ich will weinen und nie wieder lachen,
Ich will schlafen und nicht mehr erwachen,
Ich will sterben und begraben werden.
Linkadresse zu diesem Gedicht: www.lyrikmond.de/gedichte-thema-5-131.php#2614

Falls Sie nicht nur aus literarischem Interesse diese Seite aufgesucht haben, finden Sie hier eine Liste mit bundesweiten Beratungsangeboten bei Krisen. Zu reden, wird oft leichtfertig empfohlen, aber es wird auch ziemlich unterschätzt;-)