Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Gedichte für Silvester

Silvester ist nicht lateinisch für „Das Jahr ist Schluss und hier ein Kuss“, sondern der Todestag eines Papstes mit genau diesem Namen. Papst Silvester starb im Jahr 335 und als die katholische Kirche mehr als 1200 Jahre später (1582) den gregorianischen Kalender einführte, hielt man das für eine gute Idee, es an diesem Tag richtig krachen zu lassen. Humor haben sie. Wobei: Das Knaller-Brauchtum leitet sich eigentlich von den Germanen ab, die zum Jahreswechsel (wann immer der bei denen war) Feuerfeste feierten. Die Wortwurzel von Silvester ist lateinisch silva, also Wald. Trotzdem hat sich das Abfackeln von Wäldern nicht als Jahresendbrauch durchgesetzt, das ist den Sommermonaten vorbehalten. Zu Silvester bleibt es bei symbolischer Kriegsführung mittels Raketen und Kanonenschlägen gegen das alte Jahr.

Warum ausgerechnet der 31. Dezember der letzte Tag des Jahres ist, läuft auf die alte Weisheit „Das haben wir schon immer so gemacht“ hinaus. „Immer“ heißt in diesem Fall ein paar Jahrhunderte. Wesentlich logischer wäre, ein Jahresende am kürzesten Tag des Jahres oder am letzten Tag des Winters, denn der Rest der Natur weiß, mit dem Frühling fängt was an und nicht mir irgendeinem Tag mitten in der kalten Jahreszeit. Aber mit Logik muss der Menschheit niemand kommen, ich sage nur „Jahr 2000“. Man beging den Wechsel der Jahrtausende mit Riesenfeiern, obwohl die höhere Grundschulmathematik besagt, dass ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert, ein Jahrtausend mit der 1 beginnt.

Rein lyrisch ist der Silvester nicht besonders beliebt. Immerhin sind ein paar bekannte Namen dabei: Ludwig Thoma, Ringelnatz, Fontane. Der Klassiker der Silvestergedichte dürfte Ludwig Thomas Neujahr bei Pastors sein, nicht wegen seines lyrischen Pathos zum Jahresende, sondern von wegen Humor, so wie „Dinner für one“ ein Silvester-Klassiker der Flachscheibenwelt ist.

 
 

Keine Fragen zu Silvester

Ohne Fragen und sonstige Schnörkel zu Silvester hinein ins neue Jahr springt dieses Gedicht.

Hans Retep · geb. 1956

Silvester, Silvester ...

Silvester, Silvester,
wir feiern noch fester,
verscheuchen das alte Jahr.
Wir lassen die Fragen
nach drohenden Plagen,
das neue wird wunderbar.

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Fragen kurz vor Schluss

Was man an dem alten Jahr hatte, das weiß man, aber was wird im neuen? Auch nicht viel Neues, das behauptet dieses Silvestergedicht.

Hans Retep · geb. 1956

Silvestergedanken

Was kommt?
Was wird?
So fragt man mit Beben
ein jedes Jahr.
Es irrt,
wer glaubt,
das Leben sei Leben
ohne Gefahr.

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Feiergedicht

Man kann ja nicht sagen, dass aus Gedichten nichts zu lernen wäre. Hier lernt man z.B. den Unterschied zwischen voll und leer.

Georgi Kratochwil · geb. 1979

Trockener Silvesterspruch

Die Lehre von der Fülle ist,
dass vollgetankt man auf den Deckel pisst.
Denn lustig macht der Alkohol
die Blase voll, die Birne hohl.

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Hinaus aus dem Jahr, hinein in das Jahr

Silvester ist sozusagen ein großes Türenfest. Die eine schlägt man zu, die andere öffnet man. In diesem Silvestergedicht wird das etwas peppiger formuliert.

Hans Retep · geb. 1956

Das Jahr geht zu Ende ...

Das Jahr geht zu Ende,
nun klatscht in die Hände,
na endlich ist es vorbei.
Da kommt schon das neue
ein jeder sich freue,
hinein mit großem Bohei!

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Der Klassiker unter den Silvestergedichten

Was den älteren Fernsehguckern der „Silvesterpunsch“ mit Ekel Alfred, das ist den Lyriklesern Ludwig Thomas Silvestergedicht „Neujahr bei Pastors“.

Thoma: Neujahr bei Pastors

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Romantisches Silvestergedicht

Ein bisschen was fürs Herz ist dieses Gedicht zu Silvester, es hat sich jemand sozusagen verknallt.

Georg Stolzenberg · 1857-1941

Die vielen Menschen ...

Die vielen Menschen
schreien in die Silvesterglocken.

Ich schließe die Augen
und zittre vor Erwartung ...

Und du kommst auf mich zu.

Deine feine Hand
führt mich durch den dunklen Vorhang
ins neue Jahr.

Dein Kopf lehnt an meiner Schulter,
eine Haarsträhne löst sich.

Aus der Ferne
duften traumhafte Rosen.

 
 

Wenn’s zwölfe schlägt

Einen Blick auf die allgemeinen Verbrüderungsszenen zu Silvester wirft der Ringelnatz.

Ringelnatz: In der Neujahrsnacht

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Silvestergrüße

Fontane hat in seinem Gedicht Grüße an die Schwester zu Silvester zu bieten.

Fontane: An Lischen

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Rückblick und Ausblick

Schaut man an Silvester zurück aufs alte Jahr, das vielleicht nicht so dolle war, bleibt immer noch, wie in diesem Gedicht, der gute Vorsatz:

Samira Schogofa · geb. 1958

Guter Vorsatz

Und wieder ist ein Traum zerknickt:
Du wolltest Pirouetten tanzen.
Hör‘ auf die Uhr: sie tickt und tickt.
Du darfst dich nicht daheim verschanzen.
Die Seele hat dir nicht gebebt.
Hast dieses Jahr nicht gut gelebt.
Wo war’n die Wochentagsromanzen?
Hast du in Herzsubstanz geblickt?
Du hast dich doch im großen Ganzen
kaum noch an Licht und Lust erquickt.
Am Jahresende wird dir klar:
Ich leb‘ dann mal im nächsten Jahr.

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Jahresendwarten

Das Warten an Silvester auf ... ja was? Das Neue? Die Zukunft? Oder doch nur, dass einem einer was zu trinken einschüttet?

Friedrich Wilhelm Wagner · 1892-1931

Silvester

Man sitzt besinnlich still bei seinen Sachen
Und wartet. Auf was wartet man?
Man weiß es nicht. Man klopft mit schwachen
Und bangen Schlägen bei der Zukunft an.

Was wird uns öffnen? Weinen oder Lachen?
Ein Glück? Ein Wunder? Oder eine Tat?
Man sitzt ...
Und klopft und lauscht und bangt, vor dem was naht.

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