Gedichte über die Kindheit 1
Lang ist sie her, die Kindheit, über die Dichter in Gedichten schreiben. Daher muss man ein bisschen nachsichtig sein, wenn sie die Kindheit zu sehr verklären. Aber vielleicht ist es gerade das, was Leser, die Gedichte über die Kindheit suchen, lesen möchten: Ein Rückblick auf die gute, alte Zeit, als das Leben noch einfach war.

Ein Gedicht über eine schwierige Kindheit
Wiederholung ist bekanntlich die Mutter des Lernens, aber was macht ein Kind, wenn die Mutter gegen Wiederholungen ist? Dieses schwierige Kindheitsproblem wird im folgenden Gedicht dargestellt.
Hans Retep · geb. 1956
Lieblingsplatte
Die Geschichten vom Räuber Hotzenplotz,
das war meine Lieblingsplatte,
die als Kind ich nie satt hatte.
Eines Tages meine Mutter sprach:
Hör mich an, mein lieber Sohn,
Spielst du einmal noch die Platte,
spring ich sofort vom Balkon.
Und die Nadel schwebte nah der Plattenrille,
und ich weiß noch, dass ich Papa traurig fragte:
Was bedeutet „in aller Stille“?
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Noch ein Ausflug in die Kindheit
Dass es sich hier um ein dem Ich bekanntes Haus handelt, wird erst in der letzten Zeile klar. Welche Erinnerungen mit dem Haus verbunden sind, darf sich jeder selbst ausmalen, aber Rosa dürfte die falsche Farbe sein.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
das verlassne haus
der zaun durchbrochen
der garten verwildert
die schaukel steht noch immer
schief
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Gedicht über die dritte Generation
Immer wird etwas von Generation zu Generation weitergegeben, das kann etwas Kleines, etwas Privates sein, das kann etwas Großes sein wie die Schuld eines ganzen Volkes. Doch durchschauen kann man das erst, wenn man auf die lang hinter einem liegende Kindheit zurückblickt:
Claudia Ratering · geb. 1961
Kriegsenkel
Ich durfte
die Wände meines Kinderzimmers
bemalen, bekritzeln.
Das war klar.
Heute
tropft Regen ans Fenster.
Meine Eltern
sind tot.
Wer mich
nach meinen Gedanken fragte,
bekam eure zur Antwort, andere
wusste ich nicht.
All das
ist lange her und
kompliziert.
Wir sind Zeitenkinder.
Ihr habt uns
ersehnt und geliebt.
Doch die Last, die euch quälte,
trugen wir weiter,
mit euch und für euch.
Ohne dass ihr uns jemals
hättet belasten wollen.
Die Last von Schuld
und Verletzungen, von Wunden
und Angst.
Es regnet noch immer.
Doch blauer Himmel
bleibt malbar.
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Eine andere Kindheit
Eine Kindheit ohne Elternhaus schildert dieses Gedicht, und man versteht, warum das Wort „Heim“ nicht sehr heimelig wirkt.
Dyrk Schreiber · geb. 1954
Heim
Warmer Klinker sprach den ersten Mut,
und ein perlendes Keuchen
weißte jungmännisch die Waschrinne.
Doch diese Tante Pestalozzi,
mauloffen kam ihr keine Pädagogik,
ihr Blick leblöste sich zur Sprache
einer empörten Eigenlust.
So wurden dem Knaben
kopfgesenkt wegschielend
am siebengeteilten gitter
bei roter und heiterer sonne
und kochenden poren in wand und haut
da das glückliche entschmutzen
im wäscheberg ruhe finden sollte
Zeigefinger nachgeworfen!
Altknöchern packten sie zu,
an die gebügelte Welt zu erinnern
dort oben, und im Keller auch:
Alle Zeit lang, merk dir das!
Kalter Klinker schloss die Augen.
Öffne sie, zitterte das Kind …
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Narben-Erinnerung
Frühe Narben sind zumeist mit Schmerz erworbene Erinnerungsstücke aus der Kindheit. Doch der Schmerz ist vergessen, die Erinnerung schweift aus.
Renate Maria Riehemann · geb. 1955
Die Narbe
Die Kindheitsnarbe
vom Stacheldrahtzaum,
längst verblasst,
vergessen im Trubel der Zeit,
zeigt sich wieder,
erinnert,
lässt sich streicheln
und spricht zu mir:
Weißt du noch –
damals?
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Rückblick auf den Sommer
Diesem Blick auf einen speziellen Kindheitssommer merkt man auch formal seine rückblickende Perspektive an: Das Strophenschema eines Sonetts wurde verkehrtherum angelegt.
Susanne Staudinger · geb. 1967
Es war das Jahr
Die Apfelbäume waren plötzlich kleiner.
Beim Weiterlaufen musste ich mich bücken,
damit die Zweige mein Gesicht nicht streiften.
Auch Oma wirkte zierlicher und feiner.
Ich hatte beinah Angst, sie zu zerdrücken.
Es war das Jahr, wo manche Äpfel reiften.
Wie immer wollte ich den Sommer finden,
doch irgendetwas war mit diesem Garten;
er schien nicht mehr wie sonst auf mich zu warten.
Obwohl ich lange Ferienwochen blieb.
Im Nachhinein lässt sich der Schmerz begründen,
denn etwas Neues sollte endlich starten
mit Discos, Feten, Knutschen, Kinokarten.
Ich hatte nicht mehr nur den Teddy lieb.
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Schlechte Erinnerungen
Das Gedächtnis arbeitet normalerweise sehr selektiv, doch in der Kindheit passieren gelegentlich Dinge, da wünschte man sich, es würde noch selektiver arbeiten.
Hajo Fickus · geb. 1955
vorschulerziehung
einmal hat man mir gesagt
dass man selbst schwarz wird
wenn man einem neger die hand gibt
einmal sah ich
wie mein vater vor wut
mehrere teller an die wand warf
einmal sah ich
wie mein vater meine mutter würgte
mehr als einmal wurde ich schlimm geschlagen
einmal habe ich auf befragen
nicht angeben können
wie meine spielkameraden hießen
einmal fuhr meine mutter gegen einen baum
und wurde herausgeschleudert
während ich fast unverletzt im wagen blieb
aber die kiesel in meiner hosentasche
schürften meine oberschenkel auf
einmal habe ich
trotz strengen verbots
sitzend am rand eines gewässers
ganz vorsichtig einen beschuhten fuß
auf die wasseroberfläche gestellt
um zu sehen
ob sie mich hält
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Zurück zum Kind
Es hilft nichts, zurück zum Kind zu gehen, sich an Erinnerungen zu klammern. Klar, das weiß man, muss aber trotzdem noch mal poetisch gesagt werden:
Sigune Schnabel · geb. 1981
Über Grenzen
Es gibt keinen Halt,
nicht im Kinderbett
an der Tür der guten Träume,
nicht auf der Schaukel,
nicht an den Widerhaken der Zeit.
Und es brechen die Gräser,
die Äste,
die Stimmen der Kindheit,
während der Putz von den Wänden fällt:
Von Erinnerungen bröckeln
die Farben.
Und Mutter näht nicht mehr
die Tage zusammen,
im Wohnzimmer, wenn wir schlafen,
prüft nicht mehr den Saum
dieser Stunden,
die fransen.
Aus meinem Kopf
wirft ein Haus
Schatten
weit über die Grenzen
der Haut.
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Sich an die Kindheit erinnern
Es ist gar nicht so leicht, sich an die Kindheit zu erinnern, wie es war, ein Kind zu sein. Wer mag, könnte dieses Gedicht zum Anlass nehmen, darüber nachzugrübeln, was es mit dem Ich auf sich hat, wenn so wenig aus dem inneren Erleben in Erinnerung bleibt.
Richard von Schaukal · 1874-1942
Weiß einer noch ...?
Weiß einer noch, wie das ist: klein sein?
Hinaufsehn zu den Großen und mit sich selbst allein sein?
Wenn die Schmetterlinge ganz nah fliegen,
Hummeln dumpfsummend Blumen wiegen;
wenn den Springbrunnenstrahl Wind herträgt,
dass wehend an die Wange Wasser schlägt;
wenn vom Wald her am Abend ein Horn klagt:
weiß wer noch, was einem das alles sagt?
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Erinnerungen an ein schlaues Kind
Treffsicher schildert Arno Holz den überragenden Wissensstand eines Fünfjährigen, der immerhin schlau genug ist, seinen besten Trick für sich zu behalten.
Arno Holz · 1863-1929
Mit fünf Jahren ...
Mit
fünf Jahren
war ich mir über alles
klar.
In China
wurde französisch gesprochen,
in Afrika
gab es einen Vogel, der Känguru hieß,
und die Jungfrau Maria war katholisch und hatte ein himmelblaues Kleid an.
Sie war aus Wachs und dem lieben Gott seine Mutter.
Wenn ich groß war,
wollte ich Schiller und Goethe werden
und in Berlin
hinterm Schloss wohnen.
Wenn ich Kinder kriegte,
wollte ich sie alle ... anstreichen lassen.
Das kostete nicht soviel,
und sie zerrissen sich nicht die Hosen.
Beim Buchbinder Pollakowski
hing ein großer, bunter, sonnenvergilbter
Bilderbogen
mit einem weißen Schimmel, der auf seinen Hinterbeinen stand.
Der dicke Türke mit dem blanken Säbel drauf
hieß Ali Pascha.
Wenn ich mal einen Groschen hatte,
wollte ich mir den
kaufen.
Am liebsten aber
wollte ich doch ... die Nilquellen entdecken.
Ich wusste genau,
wie man das machte.
Wo er rausfloss,
setzte man sich einfach in ein Boot
und fuhr dann immerzu weiter, bis wo alles aufhört.
Da war man denn da.
Dort gab es Affen,
die sich mit Apfelsinen und Kokusnüssen beschmissen,
Goldstreusand
und Traubrosinenbäume mit Knackmandeln dran.
Und damit ich nicht so lange verhungerte,
wollte ich mir
lauter Gerstenzucker und eine Unmasse Johannisbrot
mitnehmen.
Aber das sagte ich keinem.
Das behielt ich ganz für mich alleine.
Bloß
ich wunderte mich bei mir,
dass die andern alle ... so dumm waren!
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Kommentar:
Ich habe das Gedicht geringfügig an die aktuelle Rechtschreibung angepasst, also z.B. dem „Känguruh“ das „h“ geklaut. Nur die „Kokusnüsse“ sind wie im Original belassen. Man schrieb auch damals schon „Kokosnüsse“. Ich nehme aber an, der Fehler soll das Kindliche des Textes betonen.

Ein Kindheitsgedicht von Ringelnatz
Ja, damals hat nur die Sonne geschienen und man war frei und glücklich. Aber dass man selbst Kleinigkeiten etwas abgewonnen hat, ich glaube, das kommt hin.


Gedicht über eine sonnige Kindheit
Für die Erinnerung an die Kindheit braucht es keine rosarote Brille, denn die Sonne scheint fast Tag und Nacht in der Kinderzeit, wenn man dem folgenden Gedicht glauben darf.
Richard von Schaukal · 1874-1942
Kindersonne
War denn nicht immer Sonne
in meiner Kinderzeit?
Im Winter glitzernde Wonne,
im Sommer Buntseligkeit.
Morgensonne ans Bette,
Tagessonne im Zimmer dann,
bis in die heimlichste Stätte
die Abendsonne spann.
Sonne in Gassen und Garten,
im Wald, am Fluss, im Feld,
blaufunkelnd auf knirschend harten
Wegspuren in weißer Welt.
Selbst in die nüchterne Stube
zu Tafel und tünchener Wand
Schulsonne dir, glücklicher Bube,
den Weg durchs Fenster fand.
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Vom Glück der Kindheit
Mangelnde Voraussicht, mangelndes Wissen – zwei Dinge, die man bei Erwachsenen anprangern würde, sind Voraussetzung für eine glückliche Kindheit und Jugend, denn Arkadien ist so etwas wie das Schlaraffenland in seelisch.
Jakob Haringer · 1898-1948
Ewiges Arkadien
Das macht ja die Kindheit so schön,
Dass sie an morgen nie denkt
Und sie nimmt, was sich ihr schenkt,
So als müsst es bestehn!
Ach sie weiß nichts vom Verfall –
Glauben, der Berge versetzt,
Graues für Silber schätzt
Und Menschen für Gold und Kristall!
Das macht ja die Jugend so weit,
Dass sie das Später nie blickt –
Nimmt noch das Schwerste für Glück
Und die Welt für Unsterblichkeit – –
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Sehnsucht in der Kindheit
Lokomotivführer war lange Zeit ein Hit unter den Berufswünschen von Kindern. In diesem Gedicht wollte jemand als Kind eher mitfahren und die Welt sehen.


Ein Rilke-Gedicht über die Kindheit
Man kann nicht sagen, dass hier jemand rosaroten Erinnerungen in einem Gedicht über die Kindheit nachsinnt. Aber so ist Rilke nun mal. Das zu Erwartende ist nicht seins: der Titel leicht, die Kindheit schwer.


Noch ein Rilke-Gedicht über die Kindheit
Rilke verarbeitet verschiedene Aspekte des Kindseins in diesem Gedicht: Die Wahrnehmung der Zeit, das passive, aber reichhaltige Erleben von Neuem und schließlich das Entwachsen aus der Kindheit.


Sehnsucht nach der Kindheit
Dichter sind dafür da, in Gedichten Dinge auszusprechen, die man sich kaum zuzugeben traut, wie z.B. die Sehnsucht nach der kindlichen Einfachheit, wenn man sich mal wieder stundenlang durch einen erwachsenen Ego-Dschungel gekämpft hat.
Rolf Wolfgang Martens · 1868-1928
In ein dunkles Zimmer ...
In ein dunkles Zimmer! Und still, ganz still!
Meine armen Nerven
hat ein Raubtier zerbissen.
Noch zucken sie. Noch blutet alles.
Wieder Kind sein!
Auf Mutters Schoß sitzen und sich ausweinen können!
Wie damals!
Und dann einschlafen.
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Ein Ausflug in die Kindheit
Das Haus seiner Kindheit besucht das lyrische Ich in diesem Gedicht, doch neben Erinnerungen kommt auch ein unheimliches Gefühl hervor.
Franz Werfel · 1890-1945
Im Haus der Kindheit
Ich trete in den Flur
Scheu von der Straße ein.
Wie waldige Natur
Umfängt mich Finstersein.
Ein wenig bangt mir,
Als sei es fast verrucht,
Dass man im Kind-Quartier
Sich mit sich selbst besucht.
Einst war so groß das Haus,
So turmhaft hoch gebaut.
Jetzt fülle ich es aus.
Mein Schritt tappt viel zu laut.
Mit mattem Scheibenblick
Das Licht noch immer krankt,
Wo sich der Mosaik
Verschlungnes „Salve“ rankt.
Beim Stufensteigen hemmt
Den Schuh geheimer Leim.
So eigen ist mir fremd,
So eigen mir daheim.
Ein Geist nicht anders streicht
Ums ärmliche Gelass,
Weil er von sich vielleicht
Den Nachgeschmack vergaß.
Ich steige steif und scheu
Von Stock zu Stock hinan.
An Türen alt und neu
Führt mich vorbei der Bann.
Hier wohnt der Arzt nicht mehr,
Ich kenn den Klingelknopf.
Auch tickt vom Hof nicht her
Des Goldschmieds Feingeklopf.
Voll fremder Jahreszeit
Und unbekanntem Lärm
Sich Wohn- an Wohnung reiht,
Es riecht nach Milch und Germ.
Mich aber zieht’s empor
Zum hohen Bodenraum,
Den hundertmal beschwor
Ein treugebliebner Traum.
Liegt nicht im morschen Loch,
Verpickt von Staub und Pech,
Die Viertelgeige noch,
Mein Dampferchen aus Blech?
Das alte Kindergut,
Es ruft und lockt mich so.
Wie ist mir denn zu Mut?
Wo bin ich? Bin ich wo?
Noch nie war mir so dumm.
Mich hält ein Schwindel fest.
Und wie von Wind gepresst,
Kehr ich verwunschen um.
In frischer Straßenluft
Renn ich ein gutes Stück.
Das Kind in seiner Gruft
Bleibt steif und scheu zurück.
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