Moderne Weihnachtsgedichte
Für die Auswahl der modernen Weihnachtsgedichte gibt es zwei Kriterien: Zum Ersten, die formale Gestaltung des Gedichts hebt sich vom Üblichen ab. Zum Zweiten, inhaltlich bringt das Gedicht eine Komponente herein, die jenseits des zu Erwartenden angesiedelt ist. So sind hier also auch Weihnachtsgedichte vertreten, die nicht zeitlich der Moderne zuzuordnen sind.

Was ist Weihnachten?
Weihnachten wird in diesem modernen Gedicht als Traum geschildert. Wie alle Träume hat auch dieser den Nachteil, dass man irgendwann aufwacht.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Weihnachten ist der Traum ...
Weihnachten ist der Traum
von einem kindlichen Paradies.
Alle Menschen sind freundlich,
Lichter leuchten warm,
es genügt,
in gutem Glauben die Hände
aufzuhalten und Geschenke glückselig
lächelnd zu empfangen.
Eine Woche später
beginnt das nächste Jahr.
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Weihnachtsgedicht aus der wahren Welt
Das folgende Weihnachtsgedicht liest sich wie ein Schaufensteraushang. An seinem Status als Gedicht kann das nicht rütteln: Zeilenstil, vorwiegend Trochäus als Versmaß und Binnenreim sind eindeutige Signale.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Kapitalistisches Weihnachtsgedicht im Schaufenster
Liebe kleine und große Kunden,
bald ist Weihnachten!
Ende September schließen wir.
Vielen Dank für eure Treue.
Euer
Schoko-Lococo-Team
PS: 50 % auf alles!!!
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Ein rundes Weihnachtsgedicht
Das gibt es ja nur in England, dass an Weihnachten Fußball gespielt wird. Dabei hat Weihnachten einiges mit Fußball gemein, wie folgendes Gedicht mit einem satten Schluss zeigt.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Weihnachtsfußball
Fußball gleicht dem Weihnachtsfest:
Die Vorfreude ist immer riesig,
und manchmal bekommst du tatsächlich,
was du dir gewünscht hast,
und du bist glücklich und strahlst
wie eine Weihnachtsbaumkugel
im Kerzenschein.
Doch meistens gibt es
durchschnittliche Geschenke
von durchschnittlichen Menschen,
nur eines höflichen Dankes wert,
achtlos verstaut
und nach einem Monat vergessen
wie das 0:0 bei einem Abstiegskandidaten,
der sich durch die Liga mauert.
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Was Weihnachten ist
Näher dran als viele Autoren sich trauen, geht hier der Dichter an den Kern der modernen Weihnachtsbotschaft.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Weihnachtsbotschaft
Am Weihnachtsfest
da hängt was Ekles dran,
die Menschheit
wird ja nicht mehr klug.
Es ist
der ewige, vergebliche Versuch
zu zeigen,
dass man Liebe kaufen kann.
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Weihnachtsbaumgedanken
Das Gedicht nimmt den Anblick einer weihnachtlichen Geschäftsstraße zum Anlass, sich ein paar Gedanken über das Fest zu machen. Sollte man nie tun, denn: Solche Weihnachtsschneematschstraßen sind rutschig.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Bei uns im Ort ...
Bei uns im Ort in der Geschäftsstraße
stehen an allen Laternen und an jedem
Verkehrs- und Straßenschild
festgebunden mit Kabelbindern
insgesamt
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Tannenbäume.
Die örtliche Kaufmannschaft
ist anscheinend der Meinung,
dass in aller Öffentlichkeit wurzellos
dahinsiechende Tannen
Weihnachtsgefühle erwecken.
Möglicherweise ist dem so,
denn es gehört ebenfalls zum Brauch,
am Geburtsfest des Herrn eine Tierleiche,
bevorzugt geflügeliger Art,
zu verspeisen.
Aber warum
nur unschuldige Bäume und Tiere massakrieren?
Wäre es nicht angemessener,
zu Weihnachten einige verderbte Sünder
dem Herrn zu überantworten,
damit er ihnen Gnade erweisen kann?
Was? Du sollst nicht töten?
Schwaches Argument.
Die Bibel ist voll von Mord und Totschlag
im Namen des Herrn oder von ihm toleriert.
Ja, stimmt.
Jesus soll anders drauf gewesen sein.
Liebe deine Feinde und so.
Aber keine Bäume?
Und keine Tiere, die man essen kann?
Nee, Leute.
Wenn ihr die Geburt des
Sanftmütigsten aller Sanftmütigen,
das große Fest der Liebe,
feiern wollt,
dann lasst die Bäume im Wald,
die Tiere im Stall,
und denkt was Nettes von eurem Nachbarn.
Frohe Weihnachten.
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Aus der Sicht der Erleuchteten
Dieses moderne Weihnachtsgedicht stellt im Predigtmodus die Sicht derjenigen dar, die für das Weihnachtsfest das größte Opfer bringen, und damit sind nicht die Paketboten gemeint, obwohl die auch zu leiden haben.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Weihnachtspredigt
Liebe Brüder und Schwestern,
vor vielen tausend Jahren kam
der Immergrüne in die Welt.
Er verkündete die Lehre vom Ewigen Grün
und mehrte stetig seine Anhänger.
Doch die Laubbäume
wollten nichts davon hören.
Höhnisch wiesen sie auf ihre vermoderten
Blätter am Boden und forderten:
Mach sie wieder grün.
Der Immergrüne, von der Wahrheit erfüllt,
würdigte sie keines Wortes.
Daraufhin wurden die Laubbäume zornig
und klagten ihn an vor dem Gericht des Dornbuschs.
Doch was weiß ein Dornbusch vom Ewigen Grün?
Und so kam es, dass der Dornbusch
in feuriger Unwissenheit sein Urteil sprach
und der Immergrüne wurde
von seinen willfährigen Dienern gefällt.
Liebe Brüder und Schwestern, wir wissen:
Das war nicht das Ende!
Am dritten Tag ist der Immergrüne
auferstanden,
und am 40. Tag fuhr er in den Waldboden
und wurzelte und grünte
ewiglich.
So möge uns der Glaube an das Ewige Grün
in den schweren Stunden leiten, die wir jedes Jahr
um diese Zeit erleben müssen.
Eine Zeit, in der die Laubgläubigen Millionen
von uns morden und dies grünlästerlich
Weihnachten nennen.
Doch wir wissen es besser:
Die Laubgläubigen werden vermodern wie die Blätter
und nicht wiederkehren und eines Tages
wird die Erde der Grüne Planet
und wir werden wurzeln in ihrem Boden
und grünen in alle Ewigkeit.
Amen.
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Gedicht übers Christkind
Wie es sich für ein modernes Gedicht gehört, werden klassische Vorstellungen über Bord geworfen und statt dessen Mythen neu gemischt.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Heiligabendlegende
Wenn das Christkind am Abend vom Kreuze steigt,
sich in der Welt umsieht,
die Nägel aus den Händen zieht,
dann sprudelt es –
Geschenke.
Ob Gefolterter oder Folterer,
ob armer Wicht oder reicher Scheich,
das Christkind gibt allen gleich
und schneidet aus der Rippe sich –
Geschenke.
Ist das gute Werk vollbracht,
kriecht das Christkind in der Nacht
zum Kreuz zurück und lockert die –
Gelenke.
Ein ganzes Jahr hat es dann Zeit
angenagelt in Heiligkeit
sich auszudenken des nächsten Fests –
Geschenke.
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Weihnachtsimpression
Angeblich ist Weihnachten eine Zeit des Glitzern und Glänzen. Stellt sich heraus: Der Wahn ist kurz, die Straß’ ist lang.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Was vom Feste übrig blieb
Zweiter Weihnachtsfeiertag
morgens um sieben:
Keine Lichter in den Häusern.
Laternen funzeln durchs neblige Dunkel.
Die Straße liegt tot ausgestreckt
wie erschlagen und nicht weggeräumt.
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Der mediale Weihnachtszauber
Erich Mühsam rechnet ab mit dem Weihnachtsmythos, der zu seiner Zeit noch durch die Zeitung verbreitet wurde. Heute übernimmt das Fernsehen ganz selbstlos die Terrorisierung mit der heilen Weihnachtswelt.

Ein modernes traditionelles Gedicht
Eigentlich kommt Erich Mühsams Gedicht Weihnachten recht traditionell daher. Regelmäßiges Metrum – ein klassischer vierhebiger Jambus –, Paarreime, das erscheint nicht besonders modern. Auch sprachlich ist das Gedicht auf alt getrimmt. Gleich in der ersten Zeile heißt es „Weihenacht“ oder später der Reim von „Zähre“ auf „Märe“, etwas neudeutscher Träne und Märchen. Weniger offensichtlich: Mühsam schreibt „Weib“ statt Frau.
Doch gleichzeitig werden schon zu Anfang Andeutungen gemacht, dass das Gedicht doch nicht so traditionell-gemütlich gemeint ist. Die „Weihenacht“ ist als Konstruktion ein bisschen zu dick aufgetragen. Mit „heil’ge Nacht“ wäre Mühsam etwas unauffälliger traditionellen Methoden gefolgt, ein gesetztes Metrum einzuhalten. Und dann erscheint dreimal in den ersten drei Zeilen „Fest“. Auch der häufige Einsatz von „und“ (z. B. in Zeile vier und sieben) ist ein etwas modernerer Zug, in früheren Zeiten war häufiges „und“ verpönt, galt als schlechter Stil.
Schließlich rückt im zweiten Teil die Zeitung in den Mittelpunkt. Dass die Wahrnehmung von Realität durch Medien thematisiert wird, ist ein Zug aus dem späten 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Vorher spielten Medien im Leben der Menschen schlicht keine Rolle. Vollends in der Moderne kommt das Gedicht in den letzten vier Zeilen an.
Der Naturalismus war sich nicht zu schade, auch die etwas gemeineren Seiten des Lebens ins Gedicht aufzunehmen – Sozialkritik könnte man sagen –, aber den Akt, sich den Hintern mit einer Zeitung abzuputzen, das ist eine derartig vollkommene Abkehr vom Guten und Schönen im Gedicht, da helfen auch keine Reime mehr. Das hässliche Element ins Gedicht aufzunehmen, was in etwa mit dem Expressionismus begann, zeigt deutlich: Dieses Gedicht ist trotz des traditionellen Themas, trotz des traditionellen Aufbaus, in der Moderne angekommen.

Der vermisste Weihnachtsstern
Auf der Suche nach dem wirklichen Weihnachten wird in diesem Gedicht der Stern von damals vermisst, denn er könnte auch heute noch gute Dienste leisten.
Wolfgang Rinn · geb. 1936
Auf der Suche nach Weihnachten
Ich werde Weihnachten sagen
und Fragender sein,
ich werde die Menschen auf Erden ertragen
und einsam sein,
ich werde versuchen mich einzureihen
in der Hirten Schar,
so wie es damals
vor zweitausend Jahren war,
ich werde suchen gehen das Kind,
auch wenn die Vielen
ringsum gegen mich sind.
Da der Stern, der den Weg zeigt,
verschwunden ist
in der Lichter Meer,
wird das Suchen heute
so unendlich schwer.
Ich wünsche mir ihn als Spiegelbild,
der, was außen einst,
nach innen wendet
und seine Ankunft dort
in Herzens Helligkeit beendet.
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Ein Weihnachtsgedicht von Ringelnatz
Obwohl Ringelnatz in diesem Gedicht ein kindliches Gemüt anlegt, ist die formale Struktur etwas gewöhnungsbedürftig bzw. modern: Viele Zeilensprünge und die Strophenstruktur sieht aus wie gewürfelt.


Moderne und Mythos
Wilhelm Busch zeigt hier dem modernen Menschen, dass er dem Weihnachtsmythos nicht entkommen kann.


Wintertod und Weihnachten
In diesem Gedicht wird das Thema Tod mit Weihnachten in Verbindung gebracht. Dadurch ergibt sich ein ganz anderer Spannungsbogen als bei klassischen Weihnachtsgedichten.


Echte Weihnachten
Auf echte Weihnachten wartet das Ich in diesem Gedicht schlappe 1000 Jahre. Aber das wird schon – irgendwann.
Bernhard Förster · unbek.
Weihnacht
O, ich sitze tausend Jahre,
warte, warte.
Immer noch fällt Schnee durchs Dunkel
und die Menschen ziehen einsam
auf den breiten Straßen ihre Wege.
Manche gehen freundlich lächelnd,
ihres Heimes Lichterschein im Herzen –,
manche hart und trotzig,
Auge fest ins Ziel –,
manche mutlos, trostleer
ohne Faust und ohne Ohr –
und sie alle, alle ziehen
bis zu einem weißen Walde,
biegen ein –, verschwinden ...
O, ich sitze tausend Jahre
und ich starre durch das Dunkel ...
Leuchtet denn noch immer nicht der Oststern
über einem Bethlehem?
O, wann wird endlich Weihnacht sein?
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Weihnachten und die Götter
In klassische Vierzeiler getaucht ist dieses Weihnachtsgedicht und doch: Wer den „Göttern“ eine Kerze weihen will, bringt das christliche Weltbild durch Rückgriff auf vorchristliche Zeiten durcheinander, ist also schon wieder modern.


Moderne Weihnachtsgedichte der stachligen Art bietet das Poetische Stacheltier (wer auch sonst?).