Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

9 - Parodie

Die Parodie ist so etwas wie das Trainingslager für Dichterinnen. Es gibt eine Vorlage, die peinlich genau entlang den formalen Vorgaben mit einem komplett anderen Inhalt gefüllt wird. Das stärkt die Flexibilität der Wort- und Reimmuskeln. Dabei gibt es eine Unterscheidung: Wird ein Gedicht ins Lustige gezogen, dann spricht man von Parodie. Nimmt man das Vorbild nur, um es mit einem anderen Inhalt zu füllen, ohne sich Spässeken zu erlauben, heißt das Kontrafaktur. Berühmtestes Beispiel:

Ich denke dein, wenn sich im Blütenregen
Der Frühling mahlt;
Und wenn des Sommers mild gereifter Segen
In Ähren strahlt.

(Aus: Friederike Brun – Ich denke dein)

Das ist die erste Strophe des Originals. Einem Herrn Goethe gefiel, was er sah, er wollte es aber besser machen, also Kontrafaktur:

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.

(Aus: Johann Wolfgang von Goethe – Nähe des Geliebten)

Schau dir die Reimlängen an, zähle die Silben, und tatsächlich sind auch die Betonungen gleich: Unbetonte und betonte Silben wechseln ständig im Zweiertakt, beginnend stets mit einer unbetonten Silbe am Versanfang. Dass der Inhalt ähnlich ist, muss bei einer Kontrafaktur nicht so sein. Es wäre auch möglich, z.B. ein Trauergedicht mit den genau gleichen formalen Merkmalen zu schreiben. Doch Trauer ist nicht lustig, die Parodie schon:

Ich denke dein, wenn aus den Wolken oben
Der Donner kracht!
Oft hast du's ja, mit Schelten und mit Toben,
Ihm nachgemacht.

(Aus: Otto von Plaenckner – Nähe der lieben Frau)

Bei dieser Parodie hält sich der Dichter wieder genau an die formalen Vorgaben, wobei der zweisilbige Reim wie schon bei Goethe einen anderen Vokal in der betonten Silbe hat. Im Original war es ein e (Regen-Segen), bei Goethe ein i (Schimmer-Flimmer) und hier ein o (oben-Toben). Den gleichen betonten Vokal im Reim beizubehalten, ist also keine Bedingung, obwohl der Klang dem Original dann ähnlicher wäre. Beim folgenden Beispiel bringe ich zuerst die Parodie:

Das Maul ist aufgegangen,
Die goldnen Zähnlein prangen
Im Zahnfleisch hell und klar;
Der Arzt steht weiß und schweiget
Und aus dem Rachen steiget
Ein weißer Nebel wunderbar.

(Aus: Hans Retep – Abendtermin)

Wenn du dir das Original anschaust, ist eigentlich gar nicht so viel geändert worden:

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

(Aus: Matthias Claudius – Abendlied)

Im Prinzip geht die Parodie auf Nummer Sicher: Einsilbige Wörter werden durch einsilbige, zweisilbige Wörter durch zweisilbige ersetzt. Das gibt solange keine Probleme, wie die Betonungen übernommen werden. Hier ist bei den zweisilbigen Wörtern jeweils die erste Silbe betont. Die ersetzten einsilbigen Substantive stehen hinter einem Artikel, die Substantive sind wesentlich wichtiger für den Inhalt, also werden sie betont. Es geht aber auch riskanter:

Der Tod ist aufgestanden,
Er holt aus allen Landen
Die Kinder groß und klein.
Und aus den Häusern steiget
Die Trauer unbeschweiget,
Man hört Gezeter, wehes Schrein.

(Aus: Georgi Kratochwil – titelloses Gedicht )

In Zeile zwei wird „goldnen“ durch „holt aus“ ersetzt. Das Verb hat die Betonung, die bei „goldnen“ in der ersten Silbe liegt. (Zwischenanmerkung: Wenn bei „Er holt aus“ das „aus“ betont würde, ergäbe sich ein anderer Sinn. Betonungen können Sinn schaffen. Frappierendstes Beispiel: Modern kann auf zwei Arten betont werden, mit dramatisch geänderter Bedeutung.)

Zeile vier und fünf sind vom Satzbau her und bei den Reimwörtern vertauscht. Wenn ich Zeile fünf als Ersetzung von Zeile vier des Originals lese, dann steht „Die Trauer unbeschweiget“ für „Der Wald steht schwarz und schweiget“. „Die Trauer“ ersetzt also „Der Wald steht“. „Wald“ erhält die Betonung, weil es die wichtigste Information ist, wer da nun steht. Bei „Trauer“ gilt die Stammbetonung plus: Diese Anhängselsilbe „-er“ hat keine Chance, betont zu werden.

Schließlich wird in Zeile sechs aus dem ordentlichen Muster Zweisilben-, Zweisilben-, Dreisilbenwort nach dem einsilbigen Artikel eine etwas struppige Anordnung: eine Silbe, eine Silbe, drei Silben, zwei Silben, eine Silbe. Aber es geht komplett auf. Das „hört Gezeter“ ersetzt „weiße Nebel“, denn bei „Gezeter“ wird die mittlere Silbe betont, die Vorsilbe „Ge-“ mit kurzem e bleibt unbetont. Am Schluss ersetzt „wehes Schrein“ das Wort „wunderbar“. Hier hat der Dichter getrickst und ein e aus Schreien gestanzt. Wenn das e sehr unauffällig, fast verschluckt ausgesprochen wird, dann geht so etwas auch beim Reimwort. Im Original hat sich Matthias Claudius auch ein Ausstanzen bei „goldnen“ gegönnt, um im Betonungswechsel zu bleiben.

Da wahrscheinlich die Nachahmung der Betonungen bei einer Parodie/Kontrafaktur das Schwierigste für dich ist, will ich noch mal an der ersten Zeile des Claudius-Gedichts „Der Mond ist aufgegangen“ zeigen, welche Möglichkeiten es gibt, ein Betonungs- bzw. Hebungsschema zu füllen. Wird jetzt ein bisschen trocken, aber dass du dann selbst alte Gedichte nass machen kannst, sollte dafür entschädigen.

Erst mal das Original: „Der Mond ist“. Das Wichtigste steht in der Mitte also: uBu – unbetont – betont – unbetont. Das Wort „aufgegangen“ hat wie viele ähnliche Wörter, etwa aufgestanden, aufgehalten, ausgegangen, ausgehalten usw., eine BuBu-Struktur. Die End- und Zwischensilbe mit kurzem e werden nicht betont. Die Hauptbetonung liegt auf der ersten Silbe, aber da hier auf -angen gereimt wird, ist auch die vorletzte Silbe betont. Insgesamt ergibt sich: uBuBuBu. Und nein, ich weiß auch nicht, welche Eule so klingt. Soll dieses Schema nun parodistisch oder als Kontrafaktur neu gefüllt werden, gibt es viele Varianten, z.B.:

a. Die Sonne strahlt am Himmel

b. Am Himmel strahlt die Sonne

c. Vom Himmel Sonnenstrahlen

Zum Vergleich: „Der Mond ist aufgegangen“

„Mond ist“ wurde durch ein zweisilbiges Wort mit Betonung auf der ersten Silbe ersetzt. Bei a. und b. ist jeweils das viersilbige „aufgegangen“ in drei Wörter zerlegt worden. „strahlt“ ersetzt als betontes Verb die Silbe „auf-“. Die drei Varianten zeigen, dass man trotz der strikten Betonungsvorgabe Sätze ziemlich flexibel bauen kann, um das Wort ans Zeilenende zu bekommen, das für den Reim gebraucht wird.

Drei andere Varianten:

a. Gestirne fern am Himmel

b. Am Himmel fern Gestirne

c. Gestirne leuchten ferne

Zum Vergleich: „Der Mond ist aufgegangen“

Hier habe ich die einsilbigen Wörter am Anfang („Der Mond ist“) in a. und c. durch ein dreisilbiges Wort mit gleicher Betonungsstruktur ersetzt. Vor- und Schlusssilbe mit dem kurzen e werden nicht betont. Davon gibt es viele gleich gebaute Wörter: Gebeine, gefallen, geändert usw. Auch bei diesen Varianten zeigt sich die Flexibilität, mit der trotz einer engen Vorgabe formuliert werden kann. Wenn du reimst, ist es wichtig, flexibel zu sein. Selbst ungereimte Gedichte werden besser, wenn sich die Dichterin bewusst ist, dass es viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt.

Fürs Selbermachen könntest du dir jetzt irgendein berühmtes Gedicht ausgucken, um es durch den Kakao zu ziehen. Falls gerade keins zur Hand ist, hier mein Angebot:

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

(Joseph von Eichendorff – Wünschelrute)

Die Formalien: Wechsel von zweisilbigen zu einsilbigen Reimen, das ist ein Hinweis von Prof. Dr. Offensichtlich. Aber die Betonungen? Ich denke, die erste Zeile ist ziemlich eindeutig. Die letzten beiden Wörter haben diese typische schwache e-Anhängselsilbe, also werden sie auf der ersten Silbe betont. Bei den ersten drei Wörtern fällt das „ein“ doch ziemlich ab, also: BuBuBuBu, was sich durch das ganze Gedicht zieht. Zeile zwei und vier haben jeweils eine Silbe weniger, weil der Reim nur einsilbig ist. Die Betonungen am Anfang von Zeile zwei und drei sind etwas unscheinbar. Darfst du durchaus kräftiger machen, aber es geht auch so zurückhaltend.

Ob du jetzt wirklich die Durch-den-Kakao-ziehen-Tour machst oder nur das Gedichtthema wechselst, ohne humorig zu werden, bleibt dir überlassen. Wichtig ist nur: Du versuchst, wirklich punktgenau zu arbeiten, was die Formalien angeht. Dass es durchaus Variationsmöglichkeiten gibt, hast du ja beim vorigen Beispiel gesehen.