Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

7 - Ein-, zwei- oder dreisilbige Reime

Im Prinzip hast du freie Auswahl. Es ist nicht so, dass die Festlegung auf ein-, zwei- oder dreisilbige Reime eine besondere Bedeutung hätte. Zwar haben die verschiedenen Reimlängen gewisse Tendenzen, nur kann das durch Satzbau und Wortwahl locker überspielt werden. Eines gilt jedoch für alle: Bei Gedichten in Strophen legt die erste Strophe fest, wie du in den folgenden Strophen reimst, also z. B. nur einsilbige Reime oder ein- und zweisilbige im Wechsel. Diese Einheitlichkeit erzeugt Harmonie durch eine rhythmische Stabilität.

Einsilbige Reime

Zur Erinnerung: Bei einsilbigen Reimen ist die letzte Silbe eines Verses betont bzw. eine Hebung im Satzzusammenhang. Einsilbiger Reim bedeutet jedoch nicht, dass das gereimte Wort einsilbig sein muss, obwohl das ein häufiger Fall ist, genauso gut kann die Endsilbe eines mehrsilbigen Wortes betont sein.

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? —
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? —
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. —

(Aus: Johann Wolfgang von Goethe – Erlkönig)

Der Anfang eines berühmten Gedichts und tatsächlich geht es noch sechs Strophen so weiter: nur einsilbige Reime. Schauen wir uns mal an, wie Goethe sicherstellt, dass seine Reimwörter eine Betonung abbekommen, in der ersten Strophe nutzt er ja am Versende nur einsilbige Wörter.

Vers 1 – Nacht und Wind / Vers 7 – Kron’ und Schweif: Es dürfte unmittelbar einsichtig sein, dass ein „und“ zwischen zwei Substantiven unbetont bleibt und somit die Substantive die Betonung tragen.

Vers 2 – seinem Kind: Auch kein Problem, denn aus dem Betonungskapitel sollte die Regel mit den kurzen e- oder i-Schlusssilben noch bekannt sein: Die werden nicht betont, also geht der Reim Kind-Wind auf.

Vers 3 – wohl in dem Arm: Wie vor „Arm“ betont wird, darüber könnte man streiten, aber nicht darüber, dass „Arm“ betont wird, denn das ist die entscheidende Information (Wo hat er das Kind?). Da Substantive in der Regel sehr informativ sind, ist es meistens so, dass sie als Einsilber im Satzverlauf betont werden.

Vers 4 – er hält ihn warm: Das ist schon schwieriger. Das Verb zieht eine Betonung an sich. Da zwei Betonungen direkt hintereinander äußerst selten sind, bleibt „ihn“ unbetont und „warm“ wird wiederum betont, das für den Satz ja auch die entscheidende Bedeutung hat (Wie hält er ihn?).

In der zweiten Strophe nutzt Goethe zwei Wörter, die nicht einsilbig sind. Warum kommt er damit durch? Schau notfalls noch mal in das Kapitel über die Wortbetonungen, bevor du weiterliest.

Vers 5 – Gesicht: schwache e-Vorsilbe, also ist klar, dass die Betonung auf -sicht liegen muss analog zu Gesäß, Geschlecht, Geburt, Gewand.

Vers 6 – nicht: Da bei „Erlkönig“ -ig die schwächste Silbe ist, gibt es kein Problem, das letzte Wort zu betonen.

(Vers 7, siehe Vers 1)

Vers 8 – Nebelstreif: Dieses Wort hat eine typische Dreisilbenstruktur. Hauptbetonung auf der ersten Silbe, in der Mitte eine schwache e-Anhängselsilbe (oft auch mit kurzem i: Kleinigkeit) und dann kann die letzte als betonte Silbe für den Reim genutzt werden.

Das war jetzt ein bisschen ausführlich, aber es ist wichtig bei einsilbigen Reimen die Betonung richtig hinzubekommen, sonst passiert etwas wie: Es trügt der Schein hier / Der Schein ist nur Papier. In der ersten Zeile ziehen Verb und Substantiv die Betonungen an sich, das Wörtchen „hier“ hat keine Chance, also kann es nicht auf „Papier“ reimen, das auf der Schlusssilbe betont wird.

Ein- und zweisilbige Reime im Wechsel

Im Frühling, als der Märzwind ging,
als jeder Zweig voll Knospen hing,
da fragten sie mit Zagen:
Was wird der Sommer sagen?

In der ersten Strophe wechselt der Dichter zwischen ein- und zweisilbigen Reimen. Und was macht er in der zweiten?

Und als das Korn in Fülle stand,
in lauter Sonne briet das Land,
da seufzten sie und schwiegen:
Bald wird der Herbstwind fliegen.

(Aus: Gustav Falke – Die Sorglichen)

Er wechselt zwischen ein- und zweisilbigen Reimen. Und das macht er das ganze Gedicht hindurch. Dieser Reimwechsel passiert bei direkt aufeinander folgenden Reimen (Paarreim) nicht so häufig, da bleibt man eher bei durchgehender gleicher Silbenzahl im Reim. Bei Reimen, die im Wechselspiel miteinander stehen (Kreuzreime), ist der Reimlängenwechsel hingegen Standard:

Als ich dich fragte: Darf ich Sie beschützen?
Da sagtest du: Mein Herr, Sie sind trivial.
Als ich dich fragte: Kann ich Ihnen nützen?
Da sagtest du: Vielleicht ein andres Mal.
Als ich dich bat: Ein Kuss, mein Kind, zum Lohne!
Da sagtest du: Mein Gott, was ist ein Kuss?
Als ich befahl: Komm mit mir, wo ich wohne! -
Da sagtest du: Na, endlich ein Entschluss!

(Erich Mühsam — titelloses Gedicht)

Es gibt dazu eine Insiderpointe: Wenn Reime bzw. ungereimte Verse auf der allerletzten Silbe betont werden, nennt man das eine männliche Kadenz, jene, bei denen die vorletzte Silbe die Betonung trägt, haben eine weibliche Kadenz. In diesem Gedicht spricht der Mann mit weiblicher und die Frau mit männlicher Kadenz. Das zeigt ganz versteckt, wer eigentlich die Hosen anhat.

Nun gibt es viele andere Strophenbauten mit unterschiedlichen Reimschemata und auch strophenlose Gedichte. Doch du solltest dir immer bewusst sein, welche Länge deine Reime haben und dabei Regelmäßigkeit aufbauen, entweder mittels einer einheitlichen Länge oder durch Längenwechsel, die einen gleichmäßigen Rhythmus ergeben. Wenn du das machst, dann kannst du dir schließlich so etwas erlauben:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew’gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

(Novalis — titelloses Gedicht)

Novalis hat nur zweisilbige Reime genutzt, bis er zur Schlussfolgerung seiner Wenn-Bedingungen kommt. Der Reim Wort-fort ist völlig unspektakulär, aber er hebt sich eben ab vom ganzen Rest durch die Einsilbenform. Noch eine Auffälligkeit: Für die sechs Reime werden alle fünf Vokale genutzt, nur das i ist doppelt, einmal in einer leicht unreinen Variante (küssen – wissen), und: Alle zweisilbigen Reimwörter enden auf -en. Also: Es gibt sehr viel Einheitlichkeit, aber darin auch Variation. Der Schluss sticht klar durch die Abkehr vom Zweisilber heraus, was dem Inhalt des Gedichts entspricht: Die Reime haben eine dienende Funktion.

Bedeutung von Ein- und Zweisilbern für den Rhythmus

Es gibt gerade bei kreuzgereimten Gedichten eine Art Arbeitsteilung zwischen ein- und zweisilbigen Reimen. Schau dir den Satzbau der ersten Strophe des folgenden berühmten Gedichts an:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

(Aus: Rainer Maria Rilke – Der Panther)

Zwei Punkte, zwei Sätze, jeweils am Ende ein einsilbiger Reim, also eine Betonung. Diese verstärkt den Schlusspunkt. Die zweisilbigen Reime hingegen schaffen weiche Übergänge von Vers eins zu zwei und von Vers drei zu vier. Obwohl das häufig so praktiziert wird, ist das nur eine Tendenz, die problemlos durch den Satzbau überspielt werden kann. Nochmal das Ende des Novalis-Gedichts:

Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew’gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Zeile eins mit zweisilbigem Reim führt tadellos den weichen Übergang vor. Und am Schluss des Gedichts steht ein einsilbiger Reim, also eine Betonung. Doch der dritte Vers zeigt trotz betontem Ende, dass auch dieser Übergang völlig reibungslos funktioniert.

Dieses Phänomen gibt es bei vielen formalen Merkmalen. Sie legen eine bestimmte Tendenz nahe, aber die Wörter, der Satzbau, der Inhalt sind stärker und hebeln diese Tendenz aus. Ein einsilbiger Reim unterstützt das Setzen eines Schlusspunktes, das kann man sich zunutze machen, aber er muss kein Hindernis sein für einen fließenden Übergang von einem Vers zum nächsten. Eine Regel anzuwenden, verbessert das Ergebnis, aber keine Regel ist in Marmor geritzt.

Dreisilbige Reime

Die grässlichen, hässlichen, scheußlichen, gräuslichen dreisilbigen Reime spielen in der Praxis kaum eine Rolle, weil es schlichtweg zu wenig Reimmöglichkeiten gibt. Das ist dann eher eine sportliche Herausforderung. Hier ein Beispiel aus barocken Zeiten:

Feindliche, trutzige,
Rußige, schmutzige,
Hässliche Nacht,
Welche den reisenden,
Weitherum kreisenden
Herren und Knechten,
Edlen und Schlechten,
Große Furcht macht,
Ja unversehens gar
Stürzt in des Tods Gefahr.

(Aus: Laurentius von Schnifis – Clorinda bejammert die abscheuliche Finsternis ihres Herzens)

In diesem Gedicht mischt der Dichter dreisilbige mit zwei- und einsilbigen Reimen. Er hat sich seine eigene zehnzeilige Strophenform erfunden und hält diese zum größten Teil acht Strophen lang durch. Sich ein eigenes Format auszudenken und das auch ein ganzes Gedicht lang anzuwenden, ist ein schönes Ziel, aber man muss es sich nicht unbedingt mit dreisilbigen Reimen erschweren.

Vorschläge zum Ausprobieren

Da die zweisilbigen Reime durch die Haufenreime bereits abgedeckt wurden und die dreisilbigen nicht wirklich für die Praxis interessant sind, hier ein Übungsvorschlag zu einsilbigen Reimen:
A. Wie aufregend! oder B. Wie langweilig oder C. Was dir einfällt
A. könnte eine ironische Abrechnung mit all den aufregenden Dingen sein, die gar nicht so aufregend sind, nur eben hochgejazzt werden. Als Alternative B: etwas Hochspannendes oder Aufregendes, um den Titel ironisch zu unterwandern. Oder du schreibst nach C schlicht was Eigenes, aber immer mit folgender Vorgabe: Verwende nur einsilbige Paarreime und alle fünf Vokale sollen mindestens einmal im Reim vorkommen. Dafür muss das Gedicht auch nicht folgerichtig zusammenpassen, es reicht eine unzusammenhängende Szenen-Collage. Wieder gilt: maximal zwei Silben Unterschied zwischen längstem und kürzestem Vers, doch falls du dir eine Ausnahme gönnen willst, als Überraschungseffekt, geht auch das.