Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

69 - Ein gutes Gedicht

Was ist ein gutes Gedicht? Ich muss dich ein letztes Mal schockieren: Ich weiß es nicht. Tatsächlich würde ich sogar behaupten: Niemand weiß es. Das heißt, wenn man eines vor sich hat, dann weiß man, dass es gut ist. Man kann sogar Gründe dafür nennen. Will ich jedoch einen allgemeinen Kriterienkatalog aufstellen, der Gedichte aller Art beurteilen kann, dann wird die Entscheidung, welches von zwei Gedichten besser ist, letztendlich subjektiv sein.

Ich glaube das zu wissen, weil ich als Veranstalter von Lyrikwettbewerben verschiedene Arten probiert habe, objektiv zu sein. Der einfache Part ist, Gedichte auszusortieren, weil sie schlicht nicht das erforderliche technische Niveau mitbringen. Wer z.B. ein gereimtes Gedicht in Strophen schreibt, sollte bei einem Wettbewerb ein einheitliches Metrum zustande bringen. Denn man will ja zeigen, was man kann, um sich vom Rest abzuheben.

Wenn dann ein paar Dutzend Gedichte übrig bleiben: Wie vergleicht man diese? Man kann einen Bewertungskatalog aufstellen, doch wenn ich ehrlich bin, bleibt die Vergabe von Punkten bei jedem Kriterium subjektiv. Zum Beispiel ist die sprachliche Leistung von gereimten und ungereimten Gedichten nicht vergleichbar, Gleiches gilt für extrem unterschiedlich lange Gedichte. Dazu kommt, dass Gedichte einen schon rein gefühlsmäßig unterschiedlich ansprechen. Also werden Punkte je nach Grundstimmung großzügiger oder knauseriger verteilt.

Was heißt das nun fürs Schreiben? Auch dabei gibt es einen objektiven und einen subjektiven Part. Den objektiven kann man unter dem Stichwort Technik zusammenfassen. Über die schreibtechnische Basis, um gute Gedichte zu schreiben, solltest du nach diesem Kurs verfügen. Ich habe dich schließlich lang genug mit Regeln gequält, von denen gerade bei gereimten Gedichten so viele existieren, dass es sogar über diesen Kurs hinaus noch Dinge zu lernen gibt. Unglaublich, nicht wahr? Aber eine Geld-zurück-Garantie ist im Kleingedruckten ausgeschlossen worden. Pechomat.

Der subjektive Part – inhaltliche, sprachliche, gestalterische Ideen – muss sich nach und nach entwickeln. Hier habe ich versucht, Anstöße zu geben, zu zeigen, dass viele verschiedene Möglichkeiten existieren, Gedichte zu schreiben. Und natürlich war das keine erschöpfende Darstellung. Ich habe auch meine Grenzen. Denke zurück an die Unterscheidung von Brecht in profane und pontifikale Lyrik. Bei letzterer bin ich sehr misstrauisch ob ihres Wertes für Leserinnen. In dieser Richtung wird es noch viel zu entdecken geben, falls du eher dorthin tendierst.

Da es so schwierig ist, zu sagen, wann ein gelungenes Gedicht vorliegt und du dich auf dein eigenes Urteil verlassen musst, wäre es gut, wenn du etwas machst, was immer unpopulärer wird: Nimm dir Zeit – für jedes einzelne Gedicht, für deine Entwicklung als Dichterin.

Ganz zu Anfang habe ich die einzige Regel erwähnt, die auch heute noch bei Gedichten gilt: Eine Nacht drüber schlafen. Das kannst du wörtlich nehmen, aber auch als Hinweis, an einem Gedicht in mehreren Schritten zu arbeiten. Eigentlich sollte sich das jetzt von selbst ergeben, denn: Du weißt zu viel.

Jenen Leuten, die keinerlei „Ausbildung“ haben, die nichts über die Entwicklung der Lyrik in den letzten Jahrhunderten wissen, gelingt immer wieder der erste „geniale“ Entwurf – glauben sie. Bei dir müsste das anders sein. Wenn du ein Gedicht mit etwas Abstand liest, können sich Ideen zu Wort melden, die beim ersten Schreiben noch nicht präsent waren, eben weil du so viele verschiedene Möglichkeiten bei Gedichten kennengelernt hast. Manchmal sind es nur winzige Details, manchmal wird sich ein Gedicht in der Überarbeitung wesentlich wandeln. Du hast es also nicht einfacher, aber du hast die Chance, bessere Gedichte zu schreiben.

Sich Zeit zu nehmen, heißt auch: Du musst nicht jeden Tag ein Gedicht schreiben, nicht mal jede Woche. Es reicht auch, wenn du dich „irgendwie“ mit Lyrik beschäftigst: Gedichte lesen – nur zum Spaß oder analytisch –, auch Interpretationen von Gedichten können ein interessanter Lesestoff sein, oder etwas trockener: dich mit der Geschichte der Lyrik, einzelnen Dichtern und Dichterinnen beschäftigen oder gucken, was Fachleute zu Fachbegriffen schreiben. Und natürlich solltest du auf Empfang bleiben, um Ideen aufzuschnappen, die Gedichte ergeben könnten.

Kurz gesagt: Gib dir Zeit, dich weiterzuentwickeln. Es ist durchaus normal, dass einige Gedichte, die man zu Anfang geschrieben hat, Monate oder Jahre später keine Begeisterung mehr auslösen, vielleicht sogar ein bisschen peinlich wirken. Aber das ist auch ein gutes Zeichen, es bedeutet, dass du inzwischen wesentlich weiter bist, eine Entwicklung durchgemacht hast.

Finde deine eigene Balance zwischen dem Willen, gute Gedichte zu schreiben und dem Spaß an der Sache selbst, denn, und hier schließt sich ein großer Kreis, Gedichte zu schreiben, das ist ein Spiel – mit unendlich vielen Möglichkeiten. Das macht es nicht immer leicht, bietet aber auch ein Leben voller Abenteuer, und dafür wünsch ich dir klare Sicht, wenig Schatten und viel Licht.