Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
68 - Die letzte Grenze
Seit über 150 Jahren gibt es moderne Gedichte, was ein Widerspruch in sich scheint, denn etwas Modernes sollte doch aktueller sein. Aber das moderne Gedicht unterliegt einem stetigen Wandel. Gemeinsames Merkmal der modernen Dichterinnen und Dichter scheint mir zu sein, dass sie in Gedichten etwas anders machen wollen als zuvor. Der Arbeitsansatz wäre somit: Ein modernes Gedicht entsteht dann, wenn alles andere schon versucht wurde. Wenn man mehr als eineinhalb Jahrhunderte alles Mögliche ausprobiert hat, scheint nichts mehr übrig zu sein, oder? Und doch gibt es eine letzte Grenze, vor der man immer noch zurückschreckt:
Das Gedicht, das Rilke sich nicht zu schreiben traute
Rilke hat phantastische Sachen in der Lyrik gemacht, aber sich nicht getraut, ein wortloses Gedicht zu schreiben. Was auch immer du von dieser Pointe hältst, ein Gedicht, das nur aus dem Titel besteht, kann mehr sein als ein Witz.
Manche Dichterinnenseiten im Netz haben ein schönes Motto: Das Unsagbare sagbar machen. Klingt gut, klingt bedeutend, klingt hehr, hat nur einen Fehler: Wenn etwas Unsagbares sagbar gemacht wurde, war es offensichtlich nicht unsagbar. Die Strategie des wortlosen Gedichts ist, das Unsagbare zuzulassen und zu akzeptieren, aber auch damit zu spielen. Schweigen ist nicht nur eine scharfe Waffe in der Kommunikation, es lässt Leserinnen auch einen großen Interpretationsspielraum, sie werden zu aktiven Rezipientinnen.
Wie kann das ernsthaft funktionieren? Nun, denke 10.000 Jahre zurück. Hatten die Menschen zu jener Zeit irgendeine Chance, vorauszusehen, wie das Leben heute sein würde? Und nun schaue dir folgendes Gedicht an:
Unsere Stadt in 10.000 Jahren
Es gibt nicht wirklich etwas zu schreiben, wenn man den Titel ernst nimmt. Selbst wenn keine globale Katastrophe eintritt, die das Leben auf diesem Planeten grundsätzlich ändert, ist nicht vorauszusehen, wie eine Stadt in 10.000 Jahren aussieht, wie die Menschen leben, wie sie sprechen. Ich gehe nicht völlig blank, wenn ich mir so weit voraus eine Stadt vorstelle. In meinem Kopf erscheinen sehr flache Glaskuppeln am Boden, der Rest findet unterirdisch statt, aber was da stattfindet: kein Bild, kein Wort, unsagbar.
Die erste kreative Herausforderung wäre also, Gedichttitel zu finden, zu denen es nicht möglich ist, etwas zu schreiben, bei denen jedes Wort die Sache nur ruinieren würde. Oder anders gesagt: An die letzte Grenze gehen und akzeptieren, dass es sie gibt. Gleichzeitig forderst du deine Leserinnen heraus, Bilder im Kopf zu entwickeln, die an diese Grenze gehen oder sich einzugestehen, dass da nichts möglich ist.
Dabei muss man nicht unbedingt so weit in die Zukunft vorausblicken. Tatsächlich ist das Themenspektrum sehr vielfältig. Beispiele:
Eine freundliche Frau in Uniform weist dir den Weg zum Duschraum
Die Welt aus Sicht eines Steins
Lebendstille
Ein grüner Elefant ist in Wahrheit ein schwarz-weiß kariertes Eichhörnchen
Jeder Titel stellt eine Herausforderung anderer Art dar. Sie kann schockierend, unvorstellbar, kontemplativ oder komisch sein. Das letzte Beispiel ist auch ein Fingerzeig, welcher Muskel u.a. trainiert werden kann auf der Suche nach Titeln zu wortlosen Gedichten: paradoxe Konstruktionen. Nicht umsonst ist „die schwarze Milch der Frühe“ (aus Paul Celan’s „Todesfuge“) die berühmteste Metapher in der Lyrik der Nachkriegszeit.
Klarer Nachthimmel, sternenlos
Am letzten Tag des ewigen Lebens
Diese Art von Titeln sind Versuche, Leserinnenhirne ins Stolpern zu bringen. Es gibt eine gewisse Verwandtschaft mit dem Koan des Zen-Buddhismus. Dort wird das Paradox meist in eine Frage oder kurze Geschichte eingebettet. Eine weitere Variante für wortlose Gedichte ist das vielsagende Schweigen:
Was Wahlen ändern
Hubert Nadas’ etwas verstörende Lebensbilanz
Die Antwort auf: Liebst du mich?
Der letzte Titel ist zwiespältig. Einmal könnte man annehmen, die Antwort im Gedicht ist ein wortloses Nein, zum anderen, dass es an Worten fehlt, um die alles überwältigende Liebe auszudrücken. Schweigen wie Sprechen kann mehrdeutig sein, und solche Mehrdeutigkeit durch einen Titel herauszukitzeln, ist wieder ein interessanter Ansatzpunkt.
Es gibt viele weitere Möglichkeiten, Titel zu erfinden, die Worte überflüssig machen, doch als Plädoyer für Wortlosigkeit ist dieses Kapitel schon fast zu lang. Den Rest überlasse ich deiner Neugier und Kreativität. Und selbst wenn du mir nicht abkaufst, dass Gedichte ohne Worte das nächste große Ding sind, kannst du aus dem Ansatz drei Sachen mitnehmen.
1. Habe mehr Mut, Lücken zu lassen, etwas nicht auszusprechen, um die Leserinnen zu eigenen Gedanken zu animieren, jedoch nicht mit dem modernen „Häh?“-Ansatz, sondern weil das, was du schreibst, interessante Fragen aufwirft.
2. Die Suche nach Titeln für wortlose Gedichte wird dir einige unkonventionelle Ideen einbringen. Manche könnten Bestandteil eines Gedichts werden, andere vielleicht sogar ein ganzes Gedicht ergeben (mit Worten).
3. Gedichte ohne Worte sind meine extreme Antwort auf die Frage, was man Modernes machen kann, das vorige Generationen noch nicht ausprobiert haben. Deine Antwort könnte eine andere sein. Dieser Ansatz soll dich dazu anregen, weiterzusuchen, dich nicht mit einer „Marotte“ des Gedichteschreibens zufriedenzugeben, sondern eigene Wege in der modernen Lyrikwelt zu finden.