Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

67 - Real irreal

Ein moderner Zug von Gedichten ist, sich nicht um irgendeinen Realitätsbezug zu scheren. Man kreist elegant mit Wörtern um Wörter und hofft das Beste. Nun ja, Friede ihrer Randexistenz. Wenn doch die Realität Einzug in Gedichte hält, ist es eine oft gewählte Strategie, diese zu verkleiden, z.B. mit Metaphern, Wortneuschöpfungen und querer Grammatik. Die reale Basis bleibt dennoch trivial, eigentlich wurde nur die Verpackung geändert – marketing as usual, sagt man dazu auf Hochdeutsch. Ich möchte dir einen anderen Weg vorschlagen: Schreibe Irreales ins Reale.

Was soll das heißen? Statt nur die Realität mit Wörtern zu verkleiden, wird die Realität selbst verformt, wobei der Kniff ist, dass du einfach so tust, als ob das Irreale völlig real wäre, nichts Besonderes, alles normal, oder wie man bei den Ordnungskräften sagt, die ein Straßenviertel absperren, das gerade von einer Feuersbrunst vernichtet wird: Hier gibt’s nichts zu sehn, bitte weitergehn. Ein harmloseres Beispiel, das wie alle folgenden Marke Eigenbau ist:

Schneckentempo

Als der Jogger an mir vorbeitrabt,
ruf ich ihm noch nach:
Pass auf die Schnecken auf.
Er wendet sich um, lacht
und winkt ab.
Da erwischt ihn die erste am Fuß,
bringt ihn zu Fall,
und augenblicklich begräbt die zweite
seinen Kopf unter ihrem Körper.
Ich kann nichts tun.
Es ist Schleimzeit.

Riesenschnecken, die Jogger einfangen? Das hat etwas Groteskes. Doch wird dieses Element eingerahmt von einer ganz normalen Begegnung zwischen Fußgänger und Jogger sowie der simplen Feststellung, dass man da nichts machen kann, weil in der Welt dieses Gedichts gerade „Schleimzeit“ ist. In jener Welt scheint das normal, so wie es in unserer Jagd- und Schonzeiten sind. Die wiederum könnten Außenstehenden etwas befremdlich erscheinen, weil das Töten von Tieren nach dem Kalender geregelt wird.

Das Standardmittel, Reales in Irreales zu wandeln, ist die Übertreibung. Die Dinge werden größer und größer. Das funktioniert selbst bei so etwas Trivialem wie einem Geburtstagsgedicht, auch Reime sind kein Hindernis:

Was ich dir schenken wollt

Den großen, dicken Mond
Wollt ich dir schenken
Doch dann kam ich
Ins Grübeln und ans Denken
Der Mond wär viel zu groß
Für deine Wohnung
Also gab ich ihm
Noch ein wenig Schonung

Dann dachte ich
Nehm ich das Meer
Mit schöner, weiter Sicht
Nur wär auch das nicht fair
Es passt in deinen Garten nicht

Dann musste ich
An die Berge denken
Die waren sicher
Noch zu verschenken
Aber als ich sah
Was die Transporte kosten
War auch die Idee
Schnell am Verrosten

Drum schenk ich dir dies Gedicht
Mit einer Kleinigkeit
Für all die großen Dinge
Ist ja noch reichlich Zeit

Das Gedicht stellt eigentlich eine Alltagssituation dar: Was schenkt man zum Geburtstag? Indem die Geschenkideen in der Größenordnung stark übertrieben werden, hält das Irreale Einzug. Dennoch scheinen die leicht größenwahnsinnigen Geschenke völlig normale Ideen zu sein, die eben immer nur an Details scheitern.

Eine andere Möglichkeit, Irreales einzubringen, ist die Überzeichnung von Sitten und Gebräuchen. Diese sind von Land zu Land verschieden, schon von daher jeweils etwas fremdländisch. Die Deutschen gelten beispielsweise als große Mülltrenner. Amerikaner können darüber nur staunen, wie viel Mühe man sich hierzulande gibt, so etwas „Wertloses“ wie Müll sorgfältig auf verschiedene Tonnen aufzuteilen. Mit etwas irrealem Gedankengut lässt sich aus dem für uns Alltäglichen ein etwas seltsames Gedicht spinnen.

Nachtflug

Für Gänse gilt kein Nachtflugverbot.
Hab ich auch nicht gewusst.
Das Problem war:
Jedes Mal,
wenn ich zu den Papiercontainern gegangen bin,
waren alle voll.
Übervoll.
Wegen der blöden Versandverpackungen.
Also hab ich das Papier
(ich krieg ja noch die Zeitung
als einziger im Haus)
auf dem Balkon gelagert
und einen Elefanten gemietet
zum Draufsetzen,
damit mir der ganze Kram
nicht im Herbststurm davonfliegt.
Dann gucken die Nachbarn böse.
Kann mir eigentlich egal sein,
doch ich versuche,
möglichst nicht aufzufallen.
Und es war auch kein Problem,
wenn die Gänse tagsüber
in ihren V-Formationen gen Süden flogen.
Ich wedelte mit dem Mietvertrag,
und der Elefant ließ die Schultern sacken.
Er wär natürlich gerne,
guckte sehnsüchtig nach oben,
trötete laut, wenn die Gänse vorbeiflogen,
doch Vertrag ist Vertrag.
Nur wie gesagt: Kein Nachtflugverbot für Gänse,
und am nächsten Morgen war er weg.

Wieder ist der Aufhänger des Gedichts ein Thema aus der ganz realen, trivialen Welt: die ewig vollen Papiercontainer. Durch den Elefanten tauchen erste Risse in der Realität auf, doch scheint das Ich des Gedichts nichts Ungewöhnliches daran zu finden, so dass ihn der Schluss zwar ärgert, aber nicht wirklich überrascht. Für die Leserinnen aus Realien mag das anders sein.

Wie hoffentlich deutlich wurde, kannst du mit dem Einzug des Irrealen ins Reale Gedichte inhaltlich wesentlich frischer gestalten. Es gibt keine Grenzen mehr. Selbst eine eher konventionelle Gedichtart wie das Geburtstagsgedicht und ein unpoetisches Thema wie Mülltrennung lassen ziemlich überraschende Wendungen zu. Doch bringst du nicht nur ein bisschen Phantasie und Spaß in Gedichte, es lassen sich damit auch durchaus ernstzunehmende Themen ohne den erhobenen Zeigefinger behandeln, wie z.B. das Verhältnis zwischen Mensch und Natur:

Flechten (und ein Moos-Hinweis)

Es gibt drei Arten von Flechten:

1. Die platten:
Ihre kreisrunden, hellgrünen Formen sind
auf vielen Bürgersteigen zu finden.
Tritt man auf eine platte Flechte,
frisst sie sich durch die Schuhsohle
durchs Fleisch
in den Fußknochen.
Unheilbar.
Langes Siechtum unvermeidlich.

2. Die blättrigen:
An Baumstämmen und Mauern bilden
sie winzige Blätter aus.
Geht man zu nahe dran, atmet
ihre Ausdünstungen ein,
wird die Lunge innerhalb
kürzester Zeit vollständig geschädigt.
Der Erstickungstod ist nicht zu umgehen.

3. Die büscheligen:
Auf Bäumen angesiedelt, erscheinen
sie als harmloser Pflanzenbewuchs.
Doch jede Berührung hat die sofortige
Grünfärbung der gesamten Haut zur Folge.
Nach wenigen Tagen beginnt Hautschicht
um Hautschicht abzufaulen,
Rettung völlig ausgeschlossen,
der Tod sicher.

Bei Sichtung einer Flechte wird empfohlen,
sofort die Behörden zu informieren,
damit ein Sicherheitsumkreis
abgesperrt werden kann,
um sie per Ausbrennen
zu vernichten.

PS:
Sollten Sie irgendwo Moos sichten,
zögern Sie nicht,
stellen Sie keine Fragen,
schießen Sie sofort!
Werfen Sie Handgranaten,
schmeißen Sie Bomben!
Die Natur ist gnadenlos!
Nur so
haben Sie eine Chance.

Durch äußerst geringfügige Übertreibungen sind Flechten und Moose in die gefährlichsten Arten des Planeten verwandelt worden. Der Punkt ist in meinen Augen nicht, dass im wirklichen Leben immer wieder die Gefahren der Natur heraufbeschworen werden (z.B. invasive Pflanzen- und Tierarten), sondern dass die menschliche Antwort auf Natur, die nicht „passt“, oft auf ihre Vernichtung hinausläuft.

Das Gedicht liefert durch die furchtbaren Gefahren, die von Flechten ausgehen, eine Legitimation für ihre Beseitigung. Nur sind diese Gefahren komplett irreal. Doch in der Realität ist es eben auch so, dass sich immer Gründe finden, zur Tat zu schreiten, mögen sie noch so sehr an den Haaren herbeigezogen sein.

Sicher könnte man ein Gedicht über diese Hintergründe auch ohne den irrealen Anteil schreiben, doch so ergibt sich ein Lese-Erlebnis, das den Text wesentlich interessanter macht. Die Gefahr dabei ist, dass der Hintergrund verdrängt wird durch die abenteuerlichen Schilderungen von Irrealem, doch letztlich hast du nie eine Kontrolle darüber, ob und wie Leserinnen ein Gedicht weiterdenken. Aber vielleicht weckt der scheinbare Unsinn Neugier und verführt dazu, sich Gedanken zu machen.

Doch das beste Argument dafür, Gedichte ins Irreale abgleiten zu lassen, ist ein Hund namens Snoopy. Die Comic-Strip-Serie mit Charly Brown und den „Peanuts“, die in tausenden von Zeitungen lief, begann damit, dass die Protagonisten kindliche Sachen machten, kindliche Einschätzungen der Welt von sich gaben. Nach und nach schlichen sich irreale Elemente ein, z.B. spielte Schröder Beethoven-Stücke perfekt auf einem Spielzeugklavier, Linus blies rechteckige Ballons. Schließlich eroberte Snoopy den Comic-Strip: Er schlief auf dem Dach seiner Hundehütte, die gleichzeitig als Kampfflugzeug des Ersten Weltkriegs diente. Der Witz war, dass die anderen Figuren dies als Realität akzeptierten. Indem sich Snoopy völlig in die Irrealität verabschiedete, wurde er das populärste Mitglied des Peanuts-Ensembles. Und wenn ein Hund das kann, ...

Falls du selbst ins Irreale abtauchen willst, zwei bis drei Vorschläge: Liebe ist ein Thema, das an sich schon Irreales in sich birgt, denn warum wer in wen unsterblich verliebt ist, erschließt sich Außenstehenden nicht immer, da muss es eine irreale Komponente geben. Eine Alternative wäre das Thema Kampf mit dem Unkraut im Geiste des letzten Beispiels, denn hier tobt eine Schlacht, die natürlich nie von Menschen gewonnen werden kann. Von daher ist ein irreales Element eh impliziert. Ach ja, und vielleicht kann sogar ein Hund Gegenstand eines real-irrealen Gedichts werden. Auszuschließen ist das nicht.