Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

66 - Stramm

August Stramm war studierter Postbeamter, verheiratet, zwei Kinder – kurz gesagt: ein Leben voller Abenteuer. Doch das war ihm nicht genug. Er schrieb Dramen, er schrieb Gedichte, die fast niemanden interessierten. Erst 1914 nahm seine literarische Karriere Fahrt auf, um kurz danach durch das Gemetzel des Ersten Weltkriegs 1915 beendet zu werden – oder erst richtig zu beginnen.

Unter den Expressionisten seiner Zeit ragte er ziemlich heraus, denn er schrieb Gedichte wie dieses:

Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Berge Sträucher blättern raschlig
Gellen
Tod.

(August Stramm – Patrouille)

Was macht er da? Er bohrt die Sprache auf. Für gewöhnlich würde man sagen, Stramm reiht Metapher an Metapher, erfindet sich seine eigenen Verben („feinden“) und Adjektive („Berge“). Nun stehen Metaphern nicht im Ruf, besonders „wirklich“ zu sein, doch ist das Gedicht an Wirklichkeit kaum zu überbieten. August Stramm hat nicht nach metaphorischer Vieldeutigkeit oder originellen Wortneuschöpfungen gesucht, sondern nach Wörtern, die exakt ins Ziel treffen. Und wenn das nun mal Metaphern und Wortneubildungen braucht, dann soll es so sein.

Obwohl sich dieses Gedicht zuerst etwas seltsam liest, war sein Ansatz nicht, Inhalte zu verschleiern, zu verdunkeln, wie das in sogenannten modernen Gedichten gerne getan wird, sondern die Sprache über ihre Grenzen zu bringen, sie so zu formen, dass sie sich kristallisiert, der Realitätswahrnehmung wesentlich näher kommt.

Dabei muss es nicht ein großes Thema wie Krieg sein. Auch eine trübe Stimmung verträgt neue Ansätze:

Schreiten Streben
Leben sehnt
Schauern Stehen
Blicke suchen
Sterben wächst
Das Kommen
Schreit!
Tief
Stummen
Wir.

(August Stramm – Schwermut)

Das häufige Nutzen des Infinitivs ist ebenfalls ein Merkmal Stramm’scher Gedichte. Kein Ich, kein Du, kein Er, kein Sie, der Infinitiv ist allumfassend. Hier wird er erst am Schluss zu einem „Wir“ aufgelöst, wobei unklar bleibt, ob es ein persönliches (wir beide) oder allgemeines (wir alle) darstellt. Wieder versucht Stramm, die Sprache zu neuen Leistungen zu treiben. „Leben sehnt“ ist noch ein gewöhnlicher Sprachgebrauch: Ein Verb wird substantiviert und dann personifiziert, also vermetaphert. Doch „Sterben wächst“, „Das Kommen schreit“? Das sind Konstruktionen, die entweder grandios scheitern oder von sehr tief innen kommend Leserinnen packen.

Im nächsten Beispiel finden sich neben den Infinitiven zwei alte Bekannte: Wiederholung und tatsächlich unglaublicherweise plötzlich und unerwartet – der Reim.

Raum
Zeit
Raum
Wegen
Regen
Richten
Raum
Zeit
Raum
Dehnen
Einen
Mehren
Raum
Zeit
Raum
Kehren
Wehren
Recken
Raum
Zeit
Raum
Ringen
Werfen
Würgen
Raum
Zeit
Raum
Fallen
Sinken
Stürzen
Raum
Zeit
Raum
Wirbeln
Raum
Zeit
Raum
Wirren
Raum
Zeit
Raum
Flirren
Raum
Zeit
Raum
Irren
Nichts.

(August Stramm – Urtod)

Das Gedicht hat eine gewisse Verwandtschaft zur Konkreten Poesie. Stramm hätte die Wörter auch in Dreierreihen anordnen und nur im Schlussteil dann welche einzeln stellen können. Trotz des Titels ist dies ein Gedicht über das Leben. Statt ausschweifender Gedankengänge werden jedoch nur Raum, Zeit und Verben angeboten. Die Wiederholung „Raum Zeit Raum“ gibt dem Text einerseits Intensität, andrerseits Beengtheit, und darüber hinaus wird das Lesetempo verschärft. Das Leben geht rasend schnell vorbei.

Man könnte über jedes einzelne Verb nachdenken: Was deutet es an, warum steht es gerade an dieser Position? Das Gedicht ist schnell gelesen, es legt keinerlei Hindernisse in den Weg, und doch kann man sich lange damit beschäftigen. Also eigentlich: gute Lyrik.

August Stramm war nicht der einzige, der versuchte, die Grenzen der Sprache zu verschieben, wegzukommen von der klassischen Gedicht-Darbietung, auch wenn er sich zum Teil aus dem Gedichtbaukasten bediente. Hier ein übersetztes Beispiel aus den Niederlanden, das sich mit einem sehr unpoetischen Thema befasst:

Zwwwiep
Eiserne Kreise
Eiserne Bögen
Schwarze Linien
Nebeneinander
Durcheinander
Ecken.
Entstehen
Vergehen
Entstehen
Vergehen
Zwwwiep
Ölgestank
Trank
Trank
Muskeln
Schuften
Flüche
Spucken
Zischen
Schreien
Pinkeln
Schwarzer Strahl
Blut
Metall
Tiere krumm
in dunklen Ecken
Leidenschaft
Blut
Schmutzige Hosen
Schmieriges Fleisch
Schweiß
Zwwwiep

(Aus: Theo van Doesburg – Die Fabrik)

Auf stramm’sche Weise versucht der Dichter, das Chaos einer Fabrik, das sich dem Außenstehenden darbietet, nachzuzeichnen, wobei er auch vor schmutzigen Details nicht Halt macht und mit „Zwwwiep“ eine Lautgedichtkomponente einbaut.

Dieses Zerhacken in Kürzestverse zumeist ohne richtigen Satzbau bietet sich geradezu an, wenn man im Gedicht mit der Geschwindigkeit und Zersplitterung des modernen Lebens mithalten will. Doch auch die Natur lässt sich jenseits der traditionellen Gedichtpfade einfangen:

blauer Himmel blauer Himmel weiße Wolken
blauer Himmel weiße Wolken weiße Wolken
weiße Wolken graue Wolken weiße Wolken
graue Wolken graue Wolken weiße Wolken
graue Wolken schwarze Wolken graue Wolken
schwarze Wolken schwarze Wolken graue Wolken
schwarze Wolken schwarze Wolken schwarze Wand
Sturmwinde Bäumebiegen Sturmwinde
Bäumebiegen Sturmwinde Bäumebiegen
Regentreiben Sturmwinde Regentreiben
Regenprasseln Sturmpeitschen Regenprasseln
Regenprasseln Blitzezucken Regenprasseln
Donnergrollen Regentrommeln Blitzezucken
Donnergrollen Regentrommeln Blitzestürme
Donnertrommeln Regengrollen Sturmzucken
Hagelregen Sturmpeitschen Hagelregen
Blitzezucken Donnergrollen Regentrommeln
Regentrommeln Blitzezucken Regentrommeln
Regenprasseln Donnergrollen Regenprasseln
Regenprasseln Regenfallen graue Wolken
Regenfallen graue Wolken Regenfallen
Regenfallen graue Wolken graue Wolken
weiße Wolken graue Wolken graue Wolken
weiße Wolken weiße Wolken graue Wolken
weiße Wolken blauer Himmel weiße Wolken
blauer Himmel blauer Himmel weiße Wolken
blauer Himmel blauer Himmel Sonnenschein

(Hans-Peter Kraus)

Statt Ein- oder Zweiwortversen wurde hier jeweils mit drei Einheiten gearbeitet. Jede Zeile gleicht einer Filmeinstellung, bis beginnend mit „Blitzestürme“ das Vokabular teilweise entgleitet. Das ist ein bisschen weiter weg von den Stramm-Gedichten, es soll auch nur zeigen, dass Weiterentwicklungen möglich sind. Was August Stramm gemacht hat – Satzbauten vernichtet, Sprache erweitert, Verse eingedampft –, kann Ausgangspunkt für eigene Experimente sein. Das verrückte 21. Jahrhundert hat mehr verdient – im Guten wie im Schlechten – als den üblichen Trott.

Falls du selbst Lust hast, ein bisschen zu experimentieren: Such dir ein Chaosthema und gestalte ein Gedicht daraus. Das könnten zum Beispiel Veranstaltungen wie Kirmes oder Karnevalsumzug sein, ein Zig-Personen-Chat im Netz, der Berufsverkehr oder sonstige Überwältigungen im Alltag.