Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
65 - ... im Selbstversuch
Natürlich stehe ich überhaupt nicht im Verdacht, irgendwelche Schreibmarotten zu haben – natürlich. Dennoch wollte ich wissen, welche Möglichkeiten der Ausgangssatz bietet – dennoch. Wie immer sind die Ergebnisse keine Musterlösungen – wie immer.
Mein erster Ansatz war, metrische Strukturen im Satz zu finden:
Jedes Hoffen
ist ein Anfang,
doch am Ende
gewinnt immer der Tod.
Die Zeilen eins bis drei sind regelmäßig – HsHs –, die letzte ist etwas strubbelig. Das geht besser:
Jedes Hoffen
ist ein Anfang,
doch am Ende
siegt der Tod.
Um das „immer“ ist es schade. Dafür habe ich jetzt eine zum Inhalt passende geringfügige Metrumabweichung am Schluss. Interessant finde ich, dass sich „von selbst“ einige Lautverbindungen ergeben haben: Das o aus „Hoffen“ geht im Pingpong-Stil über zu „doch“ und „Tod“. „Jedes“ findet eine Assonanz (Lautgleichheit der Vokale) in „Ende“, ebenso (aber unrein) das „ist“ (kurzes i) und „siegt“ (langes i). Nur das Wort „Anfang“ hat keinen Partner, steht sozusagen auf verlorenem Posten – wie passend.
Nun kannst du natürlich sagen: Das ist sehr schön, aber eben Zufall. Ich bin mir da nicht so sicher. Meine Erfahrung ist: Je mehr man mit der „Zwangsjacke“ Metrum hantiert, desto häufiger arbeitet „der Zufall“ für das eigene Gedicht.
Das war Variation eins: Metrum ohne Reim. Auch bei Variation zwei – freie Verse – bin ich zunächst beim Wortlaut geblieben:
Jedes Hoffen
ist
ein Anfang,
doch am Ende gewinnt
immer
der Tod.
Diese Machart würde ich als meine eigene Marotte bezeichnen. Freie Verse mit unterschiedlichen Verslängen, so dass sich ein variierendes Lesetempo ergibt. Vor allem der Stopp in der vorletzten Zeile ist für mich immer eine attraktive Lösung. Ich muss also aufpassen, dass das nicht zu einer blöden Angewohnheit wird und jedes Mal genau hingucken, ob es wirklich so passt. Hier meine ich, dass es geht, weil der Tod eben auch ein großer Stopper ist, von daher dürfen die letzten beiden Zeilen zögerlicher kommen.
Im zweiten Versuch wollte ich vom Wortlaut weg, der ja nur ein einfacher Aussagesatz ist, und die freien Verse etwas aufpeppen:
Wieder ein Lächeln,
wieder ein Hoffen,
wieder ist mir
ein Anfang geboren.
Doch am Ende
steht auch diesmal
vor mir
der stumme Tod.
Ah, Wiederholungen Marke Anapher. Die bilden mit ihrem Schwung einen schönen Kontrast zum zweiten Teil des Gedichts. Außerdem: Metaphern! Wird ein Anfang wirklich geboren? Ist der Tod wirklich stumm? Gibt es ihn wirklich als Person? Auch interessant: Man könnte mit einem Titel den Leser in vollkommen unterschiedliche Richtungen führen, z.B. „Schüchtern“ oder „Schreiben“. Das Lächeln am Anfang wäre dann entweder das Lächeln eines Gegenübers oder vielleicht nur ein inneres, weil man eine hübsche Idee hat. Der Tod am Schluss qualifizierte sich dann als rein metaphorisch – wie beruhigend.
Damit zu Variation Nummer drei: Komplett weg vom vorgegebenen Satz, hin zu einer minimalistischen Lösung.
hoffen
beginnt
hoffen
beginnt
hoffen
beginnt
doch
der tod
Die ersten sechs Zeilen sind wie ein Herzschlag oder das Ticken einer Uhr, doch „doch“ unterbricht diesen Rhythmus jäh. Hier sind wieder Metrum und Lautstruktur ein wichtiger Bestandteil des Textes, was bei minimalistischen Gedichten nicht so sein muss. Ich finde jedoch, diese Lösung, obwohl so weit vom Original entfernt, gibt den Sinn des Ausgangssatzes ziemlich gut wieder.
Schließlich zum Schlusse ein Kusse der gereimten Art. Variation Nummer vier – Soll erfüllt:
Ich wagte zu hoffen,
die Welt stand mir offen,
ich sprang in das Boot,
das Mehr war mein Tod.
Das Metrum ist ein Dreiertakt: Amphibrachys (sHs). Ob es wirklich so eine gute Idee ist, hier nur das o in den gehobenen Reimsilben zu verwenden, weiß ich nicht. Es wird immerhin variiert, das erste o ist kurz, das zweite lang, der erste Reim ist zweisilbig, der zweite einsilbig. Und es passiert, was bei Reimgedichten nicht selten geschieht. Der Reimzwang wirkt sich auf den Inhalt aus. In diesem Fall führte der Reim „Boot“ zu dem Wortspiel „Mehr“. Nette Idee, nur der Oberlehrer in mir warnt davor, sich von den Reimen treiben zu lassen. Manchmal landet man auf einer wunderschönen Insel, manchmal ertrinkt man im Meer.
Zusammenfassung: Selbst so ein einfacher Satz, wie er hier als Ausgangspunkt genutzt wurde, lässt sich auf vielerlei Weisen zu einem Gedicht gestalten. Was sollte dann nicht alles gehen, wenn du eine etwas größere inhaltliche Idee hast? Metaphorisch ausgedrückt: Fahr nicht immer die gleiche Strecke, nimm nicht immer den gleichen Zug. Das Schreiben von Gedichten kann lange Zeit ein Abenteuer bleiben, wenn du flexibel bist.
Variationsreich zu sein, hat auch einen ganz praktischen Vorteil: Wenn du dich an Lyrikwettbewerben beteiligst, ist nicht immer klar, welche Art von Gedichten der Veranstalter oder die Jury bevorzugt. Meistens kann man jedoch mehrere Texte einschicken. Also statt nur auf die Karte Reim oder Nichtreim zu setzen, biete lieber von jedem etwas an. Das sollte deine Chance erhöhen, mit einem Gedicht Anklang zu finden.