Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
64 - Ein Anti-Marotten-Experiment
Reden wir über Stil, Schreibstil. Was ist das? Wie immer sind sich die Experten nicht einig bei einem Begriff, von dem jeder annimmt zu wissen, was er bedeutet. Es gibt den rein technischen Aspekt: ordentlicher Satzbau, klare Textstruktur, im Ton auf den Leser, die Leserin abgestimmt. Man schreibt an eine Behörde anders als an eine Freundin.
Doch was ist Stil in der Literatur, genauer gesagt in der Lyrik? Ich denke, ob ein Gedicht von Wilhelm Busch oder Rilke ist, merkt man sofort. Sie haben einen sehr unterschiedlichen Stil. Was aber genau macht ihren Stil aus? Man kann wahrscheinlich einige typische Merkmale nennen, doch hat man dann auch das Ganze erfasst? Oder sieht man nur die Bäume, aber nicht den Wald?
Einfacher kann man sagen, was Stil nicht ist: Immer kreuzgereimte Vierzeiler zu nutzen oder das andere Extrem, Gedichte nur mit ausschließlicher Kleinschreibung ohne Punkt und Komma zu verfassen. Das sind keine Stile, das sind Marotten.
Stil, wenn man einen erkennbaren hat, kann sich auch dann zeigen, wenn sehr verschiedene Gedichtformen verwendet werden. Er ist Ausdruck der Persönlichkeit. Ob es Vorteile bringt, einen sehr ausgeprägten Stil zu haben, ist eine andere Frage. Manche Dichter und ihre Gedichte konnten lange überleben mit einem sehr individuellen Stil, andere sind im Lauf der Zeit untergegangen.
Deshalb: Kümmere dich nicht um Stil, außer im technischen Sinne, dass du weißt, was du tust. Sei lieber flexibel. Du musst kein ganzes Buch mit Gedichten in möglichst einheitlicher Schreibweise füllen, damit es vermarktbar ist, Leser immer das bekommen, was sie erwarten. Der Buchmarkt für Lyrikbände ist nach langem Siechtum verstorben. Im Internet kannst du auf sehr unterschiedlichen Plattformen mit stark differierendem Publikum veröffentlichen.
Damit auf Worte Taten folgen, schlage ich ein Anti-Marotten-Experiment vor. Nimm folgenden Satz als Ausgangspunkt:
Jedes Hoffen ist ein Anfang, doch am Ende gewinnt immer der Tod.
Nun versuche, aus diesem Satz sehr verschiedenartige Gedichte zu erstellen. Du hast ja mittlerweile vom gereimten Gedicht bis zur minimalistischen Lyrik einige Bekanntschaften geschlossen. Was du mit diesem Satz machst, ist dir überlassen. Du kannst versuchen, ihn selbst in ein Gedicht zu verwandeln, vielleicht mit kleinen Variationen, aber es ist auch möglich, ihn nur als Grundgedanken zu verwenden. Vier sehr verschiedene Gedichtarten sollten drin sein. Also dann: Vier gewinnt.