Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

62 - Konkrete Poesie

Noch ’ne Revolution. Mehr als 50 Jahre nach Holz haben sich einige finstere Gesellen zusammengetan, um konkret was zu tun. Das Wort Poesie ist eine Anleihe aus dem Griechischen: poiesis – Machen, Tun, Hervorbringen. Und was taten sie ganz konkret? Sie machten mit Wörtern rum.

Die Konkrete Poesie ist eine Einladung, sich mit dem Wortmaterial eingehender zu beschäftigen. Dabei wird weniger daran gedacht, aus Wörtern neue schöne Sätze zu bilden, als sie in Beziehungen zu setzen, etwa in Konstellationen, Permutationen oder gleich als Wörterfläche:

Konkrete Poesie: Schrei

Das Einbeziehen der Fläche des Untergrunds beim Gedicht ist eine Variante der Konkreten Poesie. Dies kann dadurch geschehen, dass Wörter wie hier Formen bilden, aber auch dadurch, dass sie auf einer Fläche verteilt werden. Ihre Beziehungen ergeben sich dann nicht aus Satzbauten, sondern aus ihren Positionen, ihren Nachbarwörtern und dem Leerraum.

OBEN


     Die Da

             egal
             sein
             ICH
             sein
             egal

                   Die Da


                          UNTEN

Ganz genau ist nicht zu sagen, wer hier wem egal ist. Es ergeben sich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, wie eben bei Gedichten so üblich. Und erreicht wurde das durch die Anordnung von Wörtern, nicht durch ordentlichen Satzbau.

Eugen Gomringer gilt als einer der bekanntesten Dichter der Konkreten Poesie. Seine bevorzugte Art, mit Wörtern konkret zu werden, ist die Konstellation. Dabei werden Begriffe miteinander „gepaart“ und am Schluss gibt es eine Zusammenfassung und ein Extra. Ich glaube, ein Beispiel wäre jetzt nicht verkehrt:

aber in
makaber

makaber in
gelaber

gelaber in
aber

aber in makaber in gelaber
im Rechthaber

Die Konstellation wandelt am Rande der Realität, kann – aber – auch reiner Wortsport sein. Es wird in der Konkreten Poesie nicht viel Wert auf Sinn oder erhellende Gedanken gelegt, obwohl sie nicht unwillkommen sind. Das Wort als Wort ist das Thema. Ein gewisser Spieltrieb ist sicher nützlich für diese Art von Gedichten.

Mehr eine Tüftelarbeit ist die Permutation. Wörter oder Sätze werden systematisch einer Veränderung unterzogen. Das Endergebnis sieht aus wie eine maschinell ablaufende Rekombination, ist jedoch von langer Hand vorgeplant.

ich war
ich bin
ich werde

ich war
ich win
ich berde

ich wer
ich wan
ich birde

ich werde
ich war
ich bin

Wenn du Lust hast, kannst du versuchen, das Bauprinzip nachzuvollziehen. Da zwei Wörter mit w anfangen, ist das nicht ganz so leicht.

Auflösung: Im zweiten Abschnitt wurde der erste Buchstabe der Verben um eine Zeile nach unten versetzt, der aus der dritten Zeile wandert zurück nach ganz oben in die erste Zeile. Im dritten Abschnitt gilt das für den zweiten Buchstaben, im vierten für den ganzen Rest. Ob das nun ein sinniges Ergebnis gibt, wer weiß?

Eine interessante Eigenart der Konkreten Poesie ist, dass sie keine Angst vor Fremdsprachen hat. Sprachen zu mischen oder sogar ein ganzes Gedicht mit Wörtern aus einer Fremdsprache zu füllen, gehört zum Programm. In dieser Hinsicht ist man – auf Deutsch gesagt – nicht etepetete.

Sprachbereinigte Permutation

rde edi sda
rot1) eid traurig1)
erd ied asd
edr ide Anzeigen1)
dre Götter2) dsa
der sterben1) das

-------------
1)aus dem Englischen
2)aus dem Lateinischen

Freundlicherweise werden bei diesem Gedicht die Übersetzungen gleich angegeben, auf den ersten Blick sinnlose Permutationen scheinen teilweise sinnvolle Wörter zu ergeben. Was sagt uns das über Sprachen?

Zum Schluss eine Portion Humor. Wer Wörtern wirklich auf den Grund geht, erlebt manche Überraschung. Ein etymologisches Wörterbuch, also eines in dem die Herkunft der Wörter erklärt wird, ist eine faszinierende Lektüre, die sogar zu Gedichten führen kann. Im letzten Beispiel macht die Erklärung der Wortherkunft jedoch eher den Eindruck, Marke Eigenbau zu sein:

Ich

Ich nicht – nichtig
Ich richt – richtig
Ich Wicht – wichtig

Falls du die Autorenangaben der Gedichte vermisst hast: Das waren alles eigene Beispiele (ebenso im nächsten Kapitel). Bei den Originalen der Konkreten Poesie hängt noch eine Tonne Urheberrecht dran. Da wollte ich mich nicht verheben. Was du für deine Praxis mitnehmen könntest: Beim Schreiben von Gedichten ist spielen erlaubt. Es muss nicht immer „das große Gedicht“ sein, es gibt viele Möglichkeiten, sich mit Sprache spielerisch auseinanderzusetzen. Nutze sie.