Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

61 - Revolution Holz

Fangfrage: Aus welchem Jahr stammt schätzungsweise das folgende Gedicht? Etwa 1900? 1930? 1970? Oder gar aus dem Jahr 2000?

Berauschend über die Terrasse duftet der Jasmin;
Nachtfalter streifen unser Haar.

Noch immer reden wir durch die silberne Dämmerung.

Nach Verborgenem, Niegesagtem
tasten unsere Worte.

Durch schwarze Ranken
sehn wir,
wie der Fluss glitzernd über den Mond strömt.

(Georg Stolzenberg)

Hätte ich es nicht besser gewusst, dann wäre mein Tipp „um 1970“ oder noch später gewesen, denn zu der Zeit hat man durchaus solche Gedichte geschrieben, die sich weder reimten noch mit Metaphern glänzten, die scheinbar einfach aus dem Leben gegriffen waren. Tatsächlich ist das Gedicht 1903 veröffentlicht worden, zu einer Zeit als das Publikum noch beide Ohren voller Reime hatte und von Gedichten das Schöne und Gute erwartete.

Der Dichter nutzt das Repertoire der freien Verse: Tempowechsel durch unterschiedlich lange Zeilen und damit verbundene Pausen. Die Einteilung in sehr kurze Abschnitte legt ein gemächliches Lesetempo nahe. Zeilenstil und Zeilensprünge wechseln nach Bedarf.

So zu schreiben, war eine Revolution. Der Oberrevolutionär hieß Arno Holz. Er war damals eine bekannte Größe in der Literatur, hatte den Naturalismus in Drama und Roman vorangetrieben. Holz beherrschte die Reimtechnik virtuos, doch Ende des 19. Jahrhunderts wollte er die Lyrik revolutionieren. Er und seine Gefolgsleute ernteten Hohn und Spott – denn sie kamen etwa 70 Jahre zu früh.

Zu seiner Revolution gehörte auch, Gedichte grundsätzlich an einer Mittelachse anzuordnen, heute würde man sagen: zentriert. Die Idee war, die unterschiedliche Länge der Zeilen für das Auge etwas auszugleichen. Doch diese Idee hat sich nie durchgesetzt. Mittlerweile stört sich niemand mehr daran, wenn auf der rechten Seite des Textes „Löcher“ entstehen, weil die Zeilenlängen extrem ungleich sind. Im Gegenteil: Sehr kurze Zeilen im Wechsel mit sehr langen zeigen deutlich die Pausen im Gedicht an.

Draußen ... die Düne.

Einsam das Haus,
eintönig,
ans Fenster ... der Regen,

Hinter mir,
tiktak,
eine Uhr,
meine Stirn
gegen die Scheibe!

Nichts.

Alles vorbei!
Grau der Himmel,
grau die See
und grau ... das Herz.

(Arno Holz)

Arno Holz hat auch viel mit Pausen innerhalb der Zeilen gearbeitet, angezeigt durch Auslassungspunkte. Diese Methode ist vielleicht zu Unrecht etwas in Vergessenheit geraten, denn sie erlaubt Pausenlängen zu variieren, je nachdem ob sie am Versende oder innerhalb des Verses platziert sind.

Was seinen Zeitgenossen besonders sauer aufstieß, war der Telegramm- oder Depeschenstil, wie sie das nannten. In diesem Gedicht sucht man vergeblich nach einem Verb. Die Situation des Ichs wird nur punktuell angedeutet. Freundlich gesinnte Kritiker sagten: impressionistisch.

Obwohl Arno Holz die traditionelle Lyriksprache über den Haufen werfen wollte, war er doch nicht ganz abgeneigt, ab und an eine Metapher einzubauen. Ist ein Haus wirklich einsam? Ist ein Herz wirklich grau?

Am Weg steht der junge Bettler.

Die Augen geschlossen,
blind.

In die hingehaltene Soldatenmütze
strömt
Sonnenschein.

(Georg Stolzenberg)

Dieses Gedicht erinnert an das Kapitel Schnappschüsse. Es ist etwas länger als die dort vorgestellte Haikuform, doch nutzt es die gleiche Technik: Kommentarlos wird eine Straßenszene den Leserinnen hingestellt. Was sie daraus machen, ist ihre Sache. Stell dir nun dieses Gedicht gereimt in der Art des 19. Jahrhunderts vor. In meinen Augen eine furchtbare Vorstellung.

Ich schlendre den Kanal entlang,
die Lippen zusammengekniffen.

Bande! Alle! Ich, du, er, sie, es!
Automaten, gefüllt mit Bosheit.

Auf dem Wasser
in jedem Wellenring eine wilde Ente.

Sie schwimmen heran.

Ich füttre sie.

Wir schließen Freundschaft.

(Georg Stolzenberg)

Auch das gehörte zur Revolution Holz: sehr viel Ich. Authentisch werden Lebenssituationen aus der Sicht eines Ichs beschrieben. Ungeschmückt von Metapher und Reim, daher glaubwürdig, weil das Literarische zurücksteckt. So einfache Gedichte zu schreiben, das muss man sich erst mal trauen. Tatsächlich ist Einfachheit und Schlichtheit gar nicht so leicht umzusetzen, denn es darf kein Wort zu viel sein, kein technischer Trick oder sprachlicher Glanzpunkt soll die scheinbare Spontanität stören.

Doch selbst die Revolutionäre haben sich nicht immer an sprachliche Schlichtheit gehalten. Wichtiger war ihnen, das ganze Leben in Gedichten einzufangen. Dann darf man auch ein bisschen die sprachliche Phantasie einsetzen:

In ein dunkles Zimmer! Und still, ganz still!

Meine armen Nerven
hat ein Raubtier zerbissen.

Noch zucken sie. Noch blutet alles.

Wieder Kind sein!

Auf Mutters Schoß sitzen und sich ausweinen können!

Wie damals!

Und dann einschlafen.

(Rolf Wolfgang Martens)

Offensichtlich hat dieses Gedicht ein metaphorisches Element, das sich jedoch nahtlos in die beschriebene Lebenssituation einfügt. Es gibt dieses Vorurteil, dass nur schwer verständliche Gedichte oder solche, die nicht mit ihren Leserinnen und Lesern „reden“, zu guter Lyrik führen. Die Revolution Holz zeigt die Möglichkeit auf, Lyrik zu schreiben, die für alle nachvollziehbar ist. Und wenn Gedichte auf den ersten Blick etwas irritierend, etwas unverständlich erscheinen, dann sollten sie zumindest ein Lesespaß für die ganze Familie sein:

Sieben Septillionen Jahre
zählte ich die Meilensteine am Rande der Milchstraße.

Sie endeten nicht.

Myriaden Äonen
versank ich in die Wunder eines einzigen Tautröpfchens.

Es erschlossen sich immer neue.

Meine Seele
erschrak!

Mein Sinn ... erschauerte! Mein Herz ... erzitterte!

Selig ins Moos
streckte ich mich ... und ... wurde Erde.

Jetzt ranken Brombeeren
über mir,
auf einem sich wiegenden Schlehdornzweig
zwitschert ein Rotkehlchen.

Aus
meiner Brust springt fröhlich
ein Quell,
aus
meinem Schädel ... wachsen Blumen.

(Arno Holz)

Auch diese Ausflüge ins Phantastische, ins Irreale, gehörten zur Bandbreite der Revolution Holz. Es ist wirklich schade, dass sie damals so schnell in sich zusammenfiel. Aber vielleicht kennst du jemanden, der Lust hat, einfache Gedichte zu schreiben, die jedermann ansprechen und Ausflüge in die Phantasie unternehmen, nach deren Lektüre niemand mehr weiß, wo uben und onten ist.