Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

6 - Wie kommt man auf Ideen für Gedichte?

Ja.

Äääh.

Hmmm.

Schwierige Frage. Und wahrscheinlich funktioniert für jede eine andere Lösung. Ich gehe aber davon aus, dass Phantasie und Kreativität trainierbar sind. Wer häufiger auf Empfang geschaltet ist, wird auch mehr empfangen. Dafür braucht es jedoch Alleinzeit, also Phasen, in denen man nicht abgelenkt wird von Medien und Menschen, in denen man seinen Gedanken nachhängen kann.

Das bedeutet nicht, sich in ein Zimmer einzuschließen, nachdem das Handy außerhalb gut verstaut wurde. Man kann selbst in einer Menschenmenge allein sein, die Beobachterperspektive einnehmen. Ich muss zugeben, ich bin kein Fan davon, mich an einen Schreibtisch zu setzen und zu sagen: So, ich schreib jetzt ein Gedicht. Gemacht habe ich das schon, doch meist hatte ich dabei auch eine Vorgabe und habe mir etwas aus den Rippen geleiert. Dabei können auch gute Gedichte entstehen, doch bin ich solchen Produkten gegenüber eher misstrauisch. Zur Übung bestimmter Techniken geht das aber allemal.

Lieber lasse ich mich inspirieren von dem, was ich sehe oder höre. Das können ganz harmlose Dinge sein: ein Schild, ein Plakat, das ich unterwegs sehe, Pflanzen, die mir auffallen, Begegnungen mit Tieren, kurze zwischenmenschliche Szenen, Dialogfetzen, oder schlicht ein Gedanke, der mir bei irgendeiner stupiden Tätigkeit durch den Kopf geht. Und ich mache mir keinen Druck dabei: Entwickelt sich etwas zu einem Gedicht, gut, und wenn nicht, dann nicht. Aber vielleicht funktioniert das bei mir nur so, weil ich schon sehr lange Gedichte schreibe. Deshalb hier ein paar Vorschläge, um ins Rollen zu kommen oder die Antenne auf Empfang zu schalten:

Solange du in erster Linie Reimgedichte schreibst, kann jedes Wort, das dir begegnet, eine Herausforderung sein, Reime zu finden und vielleicht entsteht dadurch manchmal sogar ein Gedicht, zumindest trainierst du deine Reimmuskeln.

Eine andere Möglichkeit ist, zwei beliebige Substantive zu nehmen, die keinerlei Verbindung haben, zufällig aus einem Wörterbuch oder Onlineartikel herausgefischt wurden und daraus ein Gedicht zu machen, wo sie ganz selbstverständlich einen sinnigen Text ergeben.

Damit verwandt ist ein Brainstorming im Alleingang. Nimm irgendein Wort, ein Thema oder eine kurze Formulierung und dann schreib dazu alles auf, was dir gerade einfällt, ungefiltert durch „gut“ oder „schlecht“, ob da ein roter Faden oder ein Reim drin ist. Wenn der Sturm nachlässt, dann kannst du aussieben, versuchen, Verbindungen herzustellen und evt. ein ganzes Gedicht daraus machen.

Manchmal ist es gut, nach dem Brainstorming dranzubleiben, ein Gedicht sozusagen herauszumeißeln aus dem Material, das du angehäuft hast. Manchmal funktioniert aber auch, sich ein bisschen mit dem angerichteten Wortsalat zu beschäftigen und ihn dann liegen zu lassen, etwas anderes zu machen. Dein Kopf wird im Stillen weiterarbeiten und plötzlich wie aus dem Nichts kommt dann eine Idee, bei der eins zum anderen führt.

Ebenfalls zu empfehlen ist es, alte Gedichte zu lesen. Zunächst mal siehst du, worüber schon alles Gedichte geschrieben wurden. Dann ist es auch interessant, Gedichte, die einem besonders gefallen, wie eine Dichterin zu lesen, soll heißen, zu schauen, wie hat sie, wie hat er das Gedicht gebaut, welche Freiheiten hat sich jemand gegönnt, wo ist eine ziemlich genaue Konstruktionsweise zu sehen. Außerdem ist es erlaubt, Ideen zu klauen. Wenn also etwas dabei ist, das anregend wirkt und du dir sagst, da möchte ich etwas draus machen, vielleicht mit anderem Blickwinkel, vielleicht übertragen in unsere Zeit, nur zu.

Ein etwas kurioser Tipp: der Film Cyrano de Bergerac mit Gérard Depardieu. Danach redest du ganz von selbst einen Tag lang in Reimen und schreibst vielleicht ein Gedicht über die Nase. Möglicherweise können sowieso Szenen in Filmen Ausgangspunkte für ein Gedicht sein.

Eine ergiebige Quelle für Gedichtthemen ist der Kalender: die Wochentage, die Monate, die Jahreszeiten, Feiertage und die vielen Gedenk- und Aktionstage (siehe www.kleiner-kalender.de): vom Weltknuddel- bis zum Antikriegstag. Und weil das eine so einfache Strategie ist, Themen zu finden, könnte es auch eine gute Übung sein, um die Ecke zu denken. Also nimmst du nicht gleich die erstbeste Idee (die wahrscheinlich auch schon andere hatten), sondern versuchst, ein wenig beachtetes Detail zu verarbeiten, eine seltene Perspektive einzunehmen.

Wie bereits beschrieben, kann man auch aus ganz alltäglichen Dingen Gedichte machen. Je langsamer man allein unterwegs ist, desto mehr sieht man. Woraus du messerscharf schließen kannst: Einfach mal stehenbleiben, sich umschauen und dir werden mehr Details auffallen als je zuvor. Nicht alles wird gleich ein Gedicht, aber manches Detail kannst du vielleicht später mal beiläufig verwenden. Sich Dinge zu notieren und diese Notizen ab und an durchzuschauen, ist mit Sicherheit eine gute Idee.

Eine weitere Möglichkeit, die Phantasie zu trainieren, ist es, gewohnheitsmäßig ganz alltägliche Begebenheiten ins Unwahrscheinliche weiterzuspinnen oder die Perspektive zu wechseln. So wird aus einem Auto, das gerade noch über Dunkelorange rast, eines, das Angst vor Fußgängern hat, aus einem Krabbelkäfer einer, der sich um den Sinn des Lebens sorgt.

Auch Musik kann Anlass für ein Gedicht werden. Der Titel oder eine Zeile aus einem Song können Grundlage für einen ganz eigenen Text sein, der möglicherweise gar nichts mehr mit der Quelle zu tun hat.

Kurz gesagt: Die Hauptsache ist, immer auf Empfang zu bleiben. Alles kann zum Gedicht werden, aber nichts muss.