Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
59 - Travestie
Vor ungefähr 7243 Kapiteln habe ich versucht, die Sache mit dem Metrum über den Schleichweg Parodie einzuschmuggeln. Eine Parodie zieht ein Gedicht ins Lächerliche, behält aber streng die Form bei. Die Travestie hingegen nimmt nur den Inhalt eines bekannten Gedichts auf, verkleidet ihn mit einer neuen Form und nutzt zumeist auch einen anderen Schreibstil, um sich lustig zu machen über das hochgelobte Original. Beispiel:
Andreas Gryphius
Menschliches Elende
Was sind wir Menschen doch? Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen.
Ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit,
Ein Schauplatz herber Angst, besetzt mit scharfem Leid.
Ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen.
Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid
Und in das Totenbuch der großen Sterblichkeit
Längst eingeschrieben sind, sind uns aus Sinn und Herzen.
Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt
Und wie ein Strom verscheußt, den keine Macht aufhält:
So muss auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden.
Was jetzt noch Atem holt, muss mit der Luft entfliehn,
Was nach uns kommen wird, wird uns ins Grab nachziehn.
Was sag ich? Wir vergehn wie Rauch von starken Winden.
Mit diesem Gedicht wurden wahrscheinlich Millionen von Schülern geplagt, die normalerweise mit Vergänglichkeit nichts am Käppi haben, weil Alter und Tod mindestens noch tausend Jahre weit weg sind. Also ist eine Travestie dieses Gedichts die verdiente Rache:
Hans-Peter Kraus
So ein Elend
Was sind wir Menschen doch?
a. Ein Häusken ohne Dach
b. Eine Party bei Stromausfall
c. Ein Elfmeterschießen
d. Ein Schmelzgesicht bei Kerzenlicht
Richtig ist: Wir sind Labertaschen,
bis uns Gevatter Tod das Maul stopft,
siehe auch Oma und Opa
und die Urgroßeltern von den alten Fotos.
Da hilft auch nix, von Ruhm und Ehre
zu träumen oder auf’m Grabstein
’nen fetten Spruch zu hinterlassen.
Die Kinderkes von heute sind auch nur
die Toten von morgen. Leben
ist wie Spucken gegen den Wind.
Die heilige Sonettform wurde ihrer Reime entkleidet und in zusammengewürfelte sprachliche Klamotten gehüllt. Den Inhalt des Originals kann man in etwa noch nachvollziehen, aber eben übersetzt in ein anderes sprachliches Niveau bzw. Nicht-Niveau.
Möglicherweise schwant dir, was der Hintergedanke ist, wenn ich hier über die Travestie rede. Genau: Der ganze Schatz der gereimten Klassiker in der Lyrik steht dir zur Verfügung, um daraus freie Verse zu machen. Dabei kannst du je nach Neigung komisch werden oder nicht. Interessant wäre sicher auch, alte Gedichte ganz ernsthaft in eine moderne Sprache oder in die moderne Welt zu übersetzen, nur eben reimlos in freien Versen. Es geht darum, Praxis mit dieser Form zu bekommen und sich weiter von der Droge Reim zu lösen.
Vorschläge für Neueinkleidungen:
Wie sähe eins der folgenden Gedichte in einer modernen Großstadt aus?
Joseph von Eichendorff
Mondnacht
Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst’.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Johann Wolfgang von Goethe
Wandrers Nachtlied
Über allen Gipfeln
Ist Ruh’,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.