Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
58 - Kafka in Versen
Jeder weiß: Bringt man anderen etwas bei, lernt man selbst dadurch und sei es nur, dass Dinge klarer werden. Eigentlich sollten alle Schülerinnen und Schüler Lehrerinnen und Lehrer sein, aber solch anarchistisches Gedankengut behält man besser für sich.
Wie dem auch sei, ich bin die Aufgabe, Kafka in Verse zu setzen, selbst durchgegangen, bevor ich dich damit belästigt habe. Zuerst wollte ich nur ausprobieren, ob es überhaupt bei diesen Stücken geht, den armen Kafka zu versifizieren. Dann sind die weiteren Kapitel entstanden und schließlich habe ich mir die Texte noch mal vorgenommen, weil: siehe oben.
Die Ergebnisse will ich dir hier zeigen. Wie immer gilt: Das sind keine Musterlösungen, sondern Möglichkeiten, für die ich zumindest schriftliche Erklärungen vorweisen kann.
Kafka Nr. 1:
Sie schläft. Ich wecke sie nicht. Warum weckst du sie nicht? Es ist mein Unglück und mein Glück. Ich bin unglücklich, dass ich sie nicht wecken kann, dass ich nicht aufsetzen kann den Fuß auf die brennende Türschwelle ihres Hauses, dass ich nicht den Weg kenne zu ihrem Hause, dass ich nicht die Richtung kenne, in welcher der Weg liegt. Ich bin glücklich, dass ich sie nicht wecken kann. Was täte ich, wenn sie sich erhöbe, wenn sie aufstehen würde von dem Lager, wenn ich aufstehen würde von dem Lager, der Löwe von seinem Lager, und mein Gebrüll einbrechen würde in mein ängstliches Gehör.
1
Sie schläft.
Ich wecke sie nicht.
Warum weckst du sie nicht?
Es ist mein Unglück und mein Glück.
Ich bin unglücklich,
dass ich sie nicht wecken kann,
dass ich nicht aufsetzen kann den Fuß
auf die brennende Türschwelle ihres Hauses,
dass ich nicht den Weg kenne zu ihrem Hause,
dass ich nicht die Richtung kenne,
in welcher der Weg liegt.
Ich bin glücklich,
dass ich sie nicht wecken kann.
Was täte ich, wenn sie sich erhöbe,
wenn sie aufstehen würde von dem Lager,
wenn ich aufstehen würde von dem Lager,
der Löwe von seinem Lager,
und mein Gebrüll einbrechen würde
in mein ängstliches Gehör.
Kafkas Text bot durch seine Satzgestaltung eine ziemlich bequeme Zeilenstillösung an. Nur zweimal (Zeile sieben – die mit dem Fuß – und die vorletzte) musste ich eine Entscheidung treffen, wo der Zeilensprung ansetzt, weil der Satz zu lang war. Hätte ich ihn komplett in einer Zeile gelassen, wäre das einer Aufforderung zur Tempoverschärfung beim Lesen gleichgekommen. Am Schluss hätte man das vielleicht sogar machen können, doch wollte ich den Text so ruhig fließen lassen, wie er wohl gedacht war.
2
Sie schläft.
Ich wecke sie nicht.
Warum weckst du sie nicht?
Es ist mein Unglück –
und mein Glück.
Ich bin unglücklich,
dass ich sie nicht wecken kann,
dass ich nicht aufsetzen kann
den Fuß auf die brennende Türschwelle
ihres Hauses,
dass ich nicht den Weg kenne
zu ihrem Hause,
dass ich nicht die Richtung kenne,
in welcher der Weg liegt.
Ich bin glücklich,
dass ich sie nicht wecken kann.
Was täte ich, wenn sie sich erhöbe,
wenn sie aufstehen würde von dem Lager,
wenn ich aufstehen würde von dem Lager,
der Löwe von seinem Lager,
und mein Gebrüll einbrechen würde
in mein ängstliches Gehör.
Im zweiten Anlauf habe ich mich dann mehr von der Prosa gelöst und versucht, den Text wirklich als Gedicht zu denken. Daraus resultiert in Zeile vier die zusätzliche Pause mit pausenverlängerndem Gedankenstrich, die Aufteilung in inhaltliche Abschnitte und das Hervorheben der Wiederholungen im Text.
Ich meine, zum Unglücklichsein passen die herausgestellten Wiederholungen ganz gut, sie verstärken die Verzweiflung. Auch ist dieser Abschnitt etwas unruhiger im Zeilenfall, der Schluss wirkt passend zum Glücklichsein wesentlich gleichmäßiger, harmonischer.
Im letzten Abschnitt hätte ich gerne das „kann“ durch ein anderes Wort ersetzt, weil dieses Wort durch seine Wiederholung zuvor zum Unglücklichsein gehört. Aber eine Textbearbeitung war nicht gefragt, also blieb es so.
Eine Alternative war, den mittleren Abschnitt mit wesentlich kürzeren Zeilen zu gestalten, also etwa die ersten drei Wörter der dass-Zeilen jeweils abzutrennen und die Fuß-Zeile noch mal aufzuspalten. Damit wäre der Abschnitt viel intensiver geworden und hätte sich in den Vordergrund gestellt. Da ist dann die Frage, was ich der Leserin durch den Rhythmus vermitteln will: Das Überwiegen des Unglücklichseins oder einen gleichgewichtigen Zwiespalt zwischen Glück und Unglück.
Kafka Nr. 2:
Als die kleine Maus, die in der Mäusewelt geliebt wie keine andere gewesen war, in einer Nacht unter das Falleisen kam und mit einem Hochschrei ihr Leben hingab für den Anblick des Specks, wurden alle Mäuse der Umgebung in ihren Löchern von einem Zittern und Schütteln befallen. Dann kamen sie zögernd, einer den andern stoßend, hervor, alle zog es zu dem Todesort. Dort lag sie, die kleine liebe Maus, das Eisen im Genick, die rosa Beinchen eingedrückt, erstarrt den schwachen Leib, dem ein wenig Speck so sehr zu gönnen gewesen wäre. Die Eltern standen daneben und beäugten die Reste ihres Kindes.
1
Als die kleine Maus,
die in der Mäusewelt geliebt
wie keine andere gewesen war,
in einer Nacht unter das Falleisen kam
und mit einem Hochschrei
ihr Leben hingab
für den Anblick des Specks,
wurden alle Mäuse der Umgebung
in ihren Löchern von einem Zittern
und Schütteln befallen.
Dann kamen sie zögernd,
einer den andern stoßend,
hervor,
alle zog es zu dem Todesort.
Dort lag sie,
die kleine liebe Maus,
das Eisen im Genick,
die rosa Beinchen eingedrückt,
erstarrt den schwachen Leib,
dem ein wenig Speck
so sehr zu gönnen gewesen wäre.
Die Eltern standen daneben
und beäugten die Reste ihres Kindes.
Bei diesem Text war durch die Satzlängen von Anfang an klar, dass mehr mit Zeilensprüngen gearbeitet werden musste. Das bedeutete aber auch mehr Freiheit in der Gestaltung. Ich habe einige Zeilen durch Kürze hervorgehoben („ihr Leben hingab“ und die drei Zeilen ab „Dort lag sie“), um das Tragische zu betonen. Nicht richtig glücklich war ich mit dem „hervor“, das allein in einer Zeile steht und damit zu viel Aufmerksamkeit bekommt. Doch wollte Kafka dieses Hervortreten ins Offene anscheinend herausheben, sonst hätte er „hervor“ direkt nach „zögernd“ platziert.
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Als die kleine Maus,
die in der Mäusewelt
geliebt
wie keine andere gewesen war,
in einer Nacht unter das Falleisen kam
und mit einem Hochschrei
ihr Leben
hingab für den Anblick des Specks,
wurden alle Mäuse der Umgebung
in ihren Löchern von einem Zittern
und Schütteln befallen.
Dann kamen sie zögernd,
einer den andern stoßend,
hervor,
alle zog es zu dem Todesort.
Dort lag sie, die kleine liebe Maus,
das Eisen im Genick,
die rosa Beinchen eingedrückt,
erstarrt
den schwachen Leib,
dem ein wenig Speck so sehr
zu gönnen gewesen wäre.
Die Eltern
standen daneben und beäugten
die Reste ihres Kindes.
In der zweiten Version habe ich versucht, den Text auffälliger zu rhythmisieren. Der Punkt, der mir nicht gefallen hat (alleinstehendes „hervor“), wurde so weniger auffällig und trug stattdessen zu einer rhythmischen Linie bei. Statt „ihr Leben“ allein in die Zeile zu stellen, wäre auch die Abspaltung von „hingab“ möglich gewesen. Doch so haben alle Kürzestzeilen eine jambische Struktur, sind gleichmäßiger. Das ist ein Punkt, den du nie vergessen solltest: Man kann in freien Versen auch metrische Strukturen nutzen.
Ich meine, der Text wird etwas dramatischer (vielleicht auch melodramatischer) durch die zusätzlichen Pausen der sehr kurzen Zeilen. Zudem ergibt sich über die damit verbundene Änderung des Zeilenfalls, dass „die Reste ihres Kindes“ alleine in der Schlusszeile steht, was ein stärkerer Abschluss ist als in der Vorversion.
Zwei Dinge könntest du aus diesem Kapitel mitnehmen. Nummer eins: Kafka war einer, der Prosa wie ein Gedicht schrieb. Da ist mit Sicherheit noch viel mehr Übungsmaterial drin. Nummer zwei: Eine rhythmische Linie für ein Gedicht in freien Versen zu finden, ist der einzige Weg, zu einer Form zu kommen, die einen in sich geschlossenen Eindruck macht. Lösungsmöglichkeiten gibt es viele. Finde die, mit der du dich (nach vielen Versuchen) am wohlsten fühlst. Wie immer ist „eine Nacht drüber schlafen“ unschlagbar.