Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
57 - Zeilenstil und Zeilensprung
Bei gereimten Gedichten tauchten die Themen Zeilenstil und Zeilensprung bereits auf. Der Normalfall war, Vers- und Satzbau anzugleichen, so dass ein Vers zumeist einen kompletten Haupt- oder Nebensatz enthielt, also: Zeilenstil. Im Kapitel Der beiläufige Reim ist dann der Zeilensprung – oder wie Königs sagen: Enjambement – behandelt worden. Es zeigte sich, dass der Reim nicht immer der Boss – Königs sagen: chef de cuisine – sein muss. Dieses Kapitel dürfte auch nützlich für freie Verse sein, weil es einige grundsätzliche Dinge zum Zeilensprung erläutert. Also: Ein Blick retour könnte nicht schaden.
Da es im freien Vers weder Metrum- noch Reimzwänge gibt, musst du bei jedem Satz selbst die Entscheidung treffen: Satz gleich Vers oder Hoppedihopp. Dabei ist es eher die Ausnahme, dass ein Gedicht nur im Zeilenstil oder nur mit Zeilensprüngen arbeitet. Ersteres wird im folgenden Ausschnitt für Leute mit guten Nerven demonstriert:
Etwas raschelt in der Wand
Du öffnest die Augen
Da raschelt etwas in der Wand
Du lauschst durchs Dunkel
Das Rascheln kommt aus der Wand
Du knipst das Licht an
Etwas kratzt in der Wand
Du stehst auf
(Aus: Georgi Kratochwil – In der Nacht)
Ich denke, es ist unmittelbar einsichtig, dass die durch den Zeilenstil verursachte Trennung zwischen dem „Du“ und dem, was da raschelt, zum unheimlichen Effekt beiträgt. Man möchte wahrscheinlich nicht dabei sein, wenn sich die Verse zu einem Satz verbinden, oder wie Königs sagen: Quelle horreur.
Im nächsten Beispiel wird der Zeilenstil am Schluss überraschend aufgehoben:
der zaun durchbrochen
der garten verwildert
die schaukel steht noch immer
schief
(Hans-Peter Kraus – das verlassne haus)
Das nachgeschobene „schief“ ist ein Fall von stockendem Enjambement. Scheinbar ist der Satz zu Ende, Pause, und dann wird er doch fortgesetzt. Statt der heroischen Schaukel, die noch immer steht, hat man auf einmal eine, mit der schon immer etwas nicht in Ordnung war. Stockende Enjambements eignen sich folglich für Pointen oder kleine Überraschungen, aber können auch nur ein Versuch sein, den Leserhythmus etwas aus dem Takt zu bringen.
Du bist ein Spiegel, der sich
in anderen Spiegeln verzerrt
spiegelt, wie sich die anderen
Spiegel verzerrt in dir spiegeln.
Willst du weder spiegeln noch
gespiegelt werden, brauchst du
vollständige, undurchdringliche Dunkelheit.
(Aus: Georgi Kratochwil – Im Spiegelland)
Das Gegenstück zum stockenden Enjambement ist das fließende. In diesem Ausschnitt soll die Zeilenspringerei die Aussage des Textes unterstützen, indem sie Leserinnen von Zeile zu Zeile vorantreibt. Es gibt keinen Halt, so wie die Augen auch keinen Halt fänden, wenn sich alle gegenseitig verzerrt spiegelten.
Der Haken bei fließenden Enjambements ist, dass sie eventuell dem Gedicht einen Prosaanstrich geben. Auf der anderen Seite können diese flutschigen Zeilensprünge das Tempo erhöhen, inhaltliche Verbindungen verstärken.
Im folgenden Gedichtausschnitt wird Zeilenstil und Zeilensprung gemischt, plus: Es erscheint ein Phänomen mit monarchistischen Tendenzen.
Du liegst nackt
auf dem eis-
kalten Beton
und du willst schlafen,
endlich schlafen.
Schwere Stiefel,
Eisentür.
Sie treten dich,
sie schlagen dich,
sie reißen dich
hoch.
Sie schreien dich
an.
(Aus: Hans-Peter Kraus – Und du willst schlafen)
Morphologisches Enjambement: Wer solche Wörter unfallfrei aussprechen kann, sollte sich schon mal nach einem Krönchen umschauen. Zeile zwei: „eis-“ – ein Zeilensprung durch Trennung eines Wortes. Der Sinn hier sollte sein, die Eiseskälte ein paar Grad kälter zu machen. Das Interessante ist, in einem Prosatext würde man über eine Trennung am Zeilenende anstandslos hinweglesen. In einem Gedicht kommt es zu einem Zögern, zu einer Pause, die den Wortbestandteilen mehr Gewicht gibt. Damit kannst du arbeiten – ab und zu.
Im zweiten Teil ist der Wechsel vom Zeilenstil zu Zeilensprüngen auffällig, doch ich meine, die Wirkung der Zeilensprünge basiert nicht auf diesem Wechsel. Eigentlich sind es fließende Enjambements, denn den Sätzen fehlt ohne Folgezeile eindeutig ein Bestandteil. Doch die Pause, die durch die Einzelstellung des Wortes am Satzende entsteht, lässt dieses Wort vibrieren oder nachhallen.
Die beiden Sätze jeweils einzeilig oder zusammen in einer Zeile als Prosatext wären total „platt“. Erst durch den Zeilensprung und die unterschiedlichen Verslängen entfaltet der Inhalt seine ganze Brutalität. Und genau das ist deine Aufgabe bei den so zufällig aussehenden freien Versen: Inhalt und Gestalt oder Rhythmus sollen sich gegenseitig verstärken. Alles andere ist Prosa.
Auf in die Praxis: Schau dir noch mal deine Kafka-Bearbeitung an, ob dir der Sprung von der Prosa zum Gedicht durch Enjambements gelungen ist, oder anders gesagt: Ob Königs auf dich stolz sein können.