Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
56 - Pausen
Reden wir über Rhythmus. Heutzutage wird das Wort als eine regelmäßige Abfolge verstanden wie in: bumm-bumm-patsch-bumm-bumm-patsch. Die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes „rhythmos“ war eigentlich „etwas Einmaliges, Augenblickliches, Veränderliches“, Rhythmus in Hinblick auf ein Gedicht wäre dann als seine Textgestalt zu verstehen, sein Lesefluss, oder wie ein Maulwurf, der in einer Paprika lebte, einmal sagte:
Ein Gedicht ist das Ding mit Pausen. Die Pausen erzeugen einen Rhythmus, den es sonst nicht geben würde. Das ist die Form. Reime braucht es schon lange nicht mehr.
Das ist Prosa. Auch ein Prosatext hat einen Rhythmus, der meist durch den Satzbau aufgebaut wird. Nach jedem Punkt oder Komma entsteht eine winzige Pause. Der Unterschied beim Gedicht ist, dass die Pausen länger werden:
Ein Gedicht ist das Ding mit Pausen.
Die Pausen erzeugen einen Rhythmus,
den es sonst nicht geben würde.
Das ist die Form.
Reime braucht es schon lange nicht mehr.
Wenn eine Gedichtzeile mit einem Satzzeichen endet, hat das in etwa die Pausenwirkung einer Absatzschaltung in einem Prosatext. Hier wirkt es für meinen Geschmack etwas abgehackt, obwohl diese Art der Gestaltung von Versen entlang der Satzstruktur völlig legitim ist. Ich habe mich daher letztlich für folgenden Textrhythmus entschieden:
Ein Gedicht
ist das Ding mit Pausen.
Die Pausen
erzeugen einen Rhythmus,
den es sonst
nicht geben würde.
Das ist die Form.
Reime
braucht es schon lange nicht mehr.
(Aus: Hans-Peter Kraus – Die Befreiung )
Das Gedicht macht, was das Gedicht sagt: Pausen. Hier wurde der Trick aus dem letzten Kapitel verwandt, kurze und lange Zeilen zu nutzen, so dass die kurzen Verse längere Pausen erzeugen. Ein Gedicht gleicht folglich der Schule oder der Arbeit: Ohne Pausen ist alles nichts.
Etwas praktischer formuliert: Wenn du mit freien Versen arbeitest, solltest du den Weißräumen, also den Pausen, besondere Aufmerksamkeit schenken. Ein Gedicht besteht nicht nur aus Wörtern, sondern auch aus Stille und Schweigen. Der selbst erschaffene, individuelle Rhythmus von Wort und Nichtwort macht ein Gedicht in freien Versen aus.
Es gibt nicht nur die kurzen Pausen am Versende. Der folgende Ausschnitt aus einer Gedichtreportage zum letzten Spiel der Saison geht noch einen Schritt weiter:
90 Minuten um,
vier Minuten Nachspielzeit.
Vorwärtsgebrüllt
rannten sie an,
kein Durchkommen.
Noch eine Minute,
eine allerletzte Minute.
Der Ball wurde nach vorne gedroschen,
der Mittelstürmer, mit dem Rücken
zum Tor, machte ihn fest, spielte
im Fallen rechts hinaus zum
Kapitän und der hämmerte ihn
Der Schrei war in der ganzen Stadt zu hören,
die Zuschauer sprangen wild umher,
schlugen die Fäuste in die Luft,
Umarmungen, Tränen.
(Aus: Hans-Peter Kraus – Der Schrei)
Nach einigen Versen fast ohne Pause (Zeilensprünge, siehe nächstes Kapitel) folgt ankündigungslos (kein „…“ oder „–“) ein Leerraum. Das Gedicht hat zwar eine Pause, die Leserinnen aber nicht, denn in ihren Köpfen soll sich abspielen, was passiert ist. Eine Pause im Gedicht hat nicht nur eine Funktion für den Rhythmus des Textes, sie kann selbst ein Inhalt sein. Manchmal stören Worte nur:
Sommertag im Wald
die Schatten der Bäume
unbewegt
meine Schritte
verstummt
Rascheln im Gesträuch
Flattern in den Kronen
beglückt
gehe ich weiter
(Hans-Peter Kraus)
Natürlich hätte ich wortreich über die Stille schreiben können, ich hatte sogar eine hübsche Neuschöpfung: Lebendstille. Nur fand ich es wesentlich angemessener, über die Stille zu schweigen.
Solche Extrempausen gehen nur selten. Man muss ein bisschen aufpassen, dass es nicht zur schlechten Angewohnheit wird, die Leserinnen die ganze Arbeit machen zu lassen. Das tägliche Brot beim Schreiben von freien Versen sind die kleinen Pausen am Ende der Verse und – mittendrin:
Ach, es ist nichts … Ein schwankender Hauch nur,
der an der Stirn verströmt. Ein Knisterwind
am Abendhügel. Scheit, das im Herd zerbrennt.
Oh, es ist nichts …!
[...]
O, es ist nichts. Ein aschener Glanz im Auge.
– O nichts. Selbst für mich nur ein wenig.
Ein leiser Baum im Azur. Eine Straßen-
Ecke, müde und leer.
Nein, es ist nichts. Ein armer Gaul,
der im Stehen schläft. Eine Frau
mit hohem Leib. – Es ist nichts!
Ein falscher Traum ...
Ein Haus, das nach innen zerrinnt.
Gläserne Wand, Kerzenschein,
Schlafes-Blut ... – Es ist nichts ... –:
Ich nur bin’s ... ich!
(Aus: Walter Rheiner – Es ist nichts …)
Der Dichter wählt in diesem Gedicht eine eher prosaische Strategie. Viele Sätze enden wie in einem Prosatext mitten in der Zeile, erzeugen dadurch auch nur sehr kurze Pausen. Auf der anderen Seite arbeitet er viel mit Gedankenstrichen und Auslassungspunkten (Ellipsen), um Pausen zu erzeugen oder zu verlängern. Warum? Ich denke, er versucht, dem Sprachrhythmus nahezukommen von jemandem, der ein bisschen verzweifelt ist, aber sich nichts anmerken lassen will. Da ist der Redestrom manchmal flüssig, oder sogar übereilt, manchmal stockt er.
Der Autor nutzt Gedankenstriche und Ellipsen sowohl innerhalb als auch am Ende der Verse. So etwas kann schnell ausarten, um im Text bedeutungsvolle Pausen entstehen zu lassen. Hier ist es gerechtfertigt durch den Inhalt. Zu überlegen ist aber immer, ob man tatsächlich ein Zeichen braucht, um eine Pause zu erzeugen. Stell dir z.B. die sechste Zeile („– O nichts.“) ohne Gedankenstrich vor, stattdessen nur einige Leerzeichen. Ich meine, das hätte denselben Effekt.
Schau dir die anderen Verse an, in denen Zeichen für Pausen gesetzt wurden, und probiere in Gedanken, ob es nicht auch Leerzeichen getan hätten. Der Vorteil von Letzteren ist, dass man durch ihre Zahl die Länge der Pause etwas variieren kann.
Auch am Vers- oder Gedichtschluss ist Punktpunktpunkt manchmal eine allzu bequeme Lösung. Besser wäre es, wenn durch den Inhalt selbst die Leserin veranlasst wird, das Gedicht weiterzudenken (siehe oben das Fußballbeispiel).
Wieder möchte ich dich zum Schluss auffordern, dir deine Gedichte anzuschauen oder den Kafka-Text, um zu prüfen, was da mit Pausen geht. Wenn du lieber etwas Neues kreieren willst: Schreibe ein Dialoggedicht, also eines, das nur ein Gespräch zwischen zwei Leuten wiedergibt (ohne „Regieanweisungen“, auch ohne Namen), und probiere dort, Pausen als Stocken im Redefluss oder als Schweigen im Dialog darzustellen.