Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
55 - Verslängen
Im Laufe der letzten Jahrhunderte sind die Verslängen immer kürzer geworden. Im Barock galt der sechshebige Alexandrinervers als Standard, im 19. Jahrhundert hatte der fünfhebige Jambus Klassikerstatus, etwa im Sonett, und seit dem 20. Jahrhundert begnügt man sich eher mit drei bis vier Hebungen. Doch das gilt für metrisch gebundene Verse. Bei einem Gedicht in freien Versen ist auch die Zeilenlänge frei. Natürlich ist diese Freiheit nur relativ, denn der Job als Dichterin von freien Versen ist es, die dem Gedicht genau angemessene Gestalt zu finden, den Leserinnen einen bestimmten Leserhythmus nahezulegen.
Der interessanteste Fall ist ein Gedicht mit stark unterschiedlich langen Versen. Versuche, beim Lesen des ersten Beispiels die Sprachmelodie aufzuspüren.
ein Mann
mit Leine in der Hand
schaut zurück
da kommt
seine Frau
und
ihr Kind
und
ihr Hund
und
das zottelige Monster namens Zeit das sie alle auffressen wird
(Hans-Peter Kraus – Begegnung)
Die Grundidee bei einem Gedicht, das mit verschiedenen Zeilenlängen operiert, ist: Kurze Zeilen werden langsamer gelesen oder mit längerer Pause dahinter, längere Zeilen werden schneller gelesen. In diesem Sinne sollte das Tempo hier gemächlich sein und das einzeln stehende „und“ jeweils als Stoppschild wirken, während die letzte Zeile nur so dahinfliegt.
Auch wenn der Schluss eher witzig klingt, entspricht der Rhythmus des Textes doch einer grundsätzlichen menschlichen Erfahrung mit der Zeit, die eben mal länger, mal kürzer zu sein scheint. Die Struktur des Textes hat also eine zusätzliche Bedeutung.
die alten Leute vor mir
biegen zur Kirche ab
um zu singen und zu beten
ich gehe weiter
geradeaus
in den Wald
wo die läutenden Glocken
nur eine ferne Erinnerung
der Stille
sein
werden
(Hans-Peter Kraus – Glockenläuten)
Hier werden die beiden Seiten „Leute – Kirche – Glocken“ und „Ich – Wald – Stille“ durch unterschiedliche Zeilenlängen und damit unterschiedliche Lesetempi gegenübergestellt. Am Schluss passiert noch etwas anderes: Dadurch dass die Verben „sein“ und „werden“ jeweils einzeln in einer Zeile erscheinen, wird an ihre Substantivformen erinnert. Die beiden Wörter werden mit Bedeutung aufgeladen.
Ein Wort einzeln in eine Zeile zu stellen, verleiht ihm Wichtigkeit. Das kann wie ein Stoppschild für das Lesetempo wirken, aber auch ein Bedeutungszuwachs sein für das Wort selbst oder für die nächste Zeile, die nach einer „Kunstpause“ folgt. Es ist jedoch selten eine gute Idee zu versuchen, einen Inhalt dadurch aufzuwerten, dass man nur kurze Zeilen nutzt. Dies würde mit jedem x-beliebigen Satz funktionieren und ist deshalb leicht zu durchschauen:
Der
Vogel
scheißt
auf
dieses
Dach.
Zur Erhöhung der Dramatik habe ich noch pausenverlängernde Leerzeilen eingefügt, aber ich glaube, nutzt alles nichts. Der Inhalt bleibt trivial, da kann man noch so bedeutungsschwanger Pausen einsetzen.
Das war ein etwas plattes Beispiel. Es soll auch nur ein Erinnerungspöstchen sein, denn es passiert manchmal, dass die Zeilen während des Überarbeitens immer kürzer werden, weil man so versucht, ihnen mehr Bedeutung zu geben. Dann heißt es: Denk da lieber noch mal drüber nach.
Aber niemand hat gesagt, dass man ein Gedicht nicht nur aus kurzen Zeilen zusammenbauen kann. Gibt es kaum Variation, fehlen lange Zeilen als Gegenpol, hängt das Lesetempo weitgehend vom Inhalt oder Kontext ab.
Sch –
Sch –
Liebe
Deine Eltern
Liebe
Deine Freunde
Liebe
Alle Menschen
Liebe
Auch dich
Sch –
Sch –
(Aus: Georgi Kratochwil – Schlaf, Kind, schlaf ein)
Auch wenn der Titel nicht über dem Gedicht steht, sollte das Tempo eher einschläfernd sein. Ließe man die „Sch –“-Zeilen weg und schriebe Liebeslied oder Liebestanz drüber, würde man den Text sicher mit wesentlich mehr Schwung lesen. Der Kontext ändert das Lesetempo.
Da unten!!!
Da!
Da!
unten
unten
U-u-u-unten!
Hier! – oben! oben!
Hier
O-o-o-oben!!!
Meine Knochen
Haufen Brei, blutig
Bald
(Aus: Reinhard Goering – Stettin-Berlinflug)
In diesem Gedicht hat der Autor etwas nachgeholfen, um ein schnelleres Lesen anzuregen. Unvollständige Sätze, Wiederholungen, teils stotternd. Aber letztlich macht der Titel von Anfang an klar, dass der Text im Panikmodus gelesen werden sollte. Bei sehr kurzen Versen hast du also ein paar Möglichkeiten nachzuhelfen, um ein Lesetempo nahezulegen, und der Titel hilft oft, Leserinnen passend einzustimmen.
Das andere Extrem ist, ausschließlich sehr lange Zeilen zu nutzen. In diesem Fall ist der Satzbau ein wichtiger Faktor, der ein Gedicht prosaisch plätschernd oder temporeich gestalten kann.
Ich werde sterben, doch das ist alles, was ich tun werde für den Tod.
Ich höre ihn sein Pferd aus dem Stall führen; ich höre das Getrappel auf dem Scheunenboden.
Er ist in Eile; hat zu tun in Kuba, zu tun auf dem Balkan, viele Besuche zu machen diesen Morgen.
Doch ich werde nicht das Zaumzeug halten, während er den Sattelgurt festzurrt.
Und er kann allein aufsteigen: Ich werde ihm nicht hinaufhelfen.
(Aus: Edna St. Vincent Millay – Kriegsdienstverweigerer)
Die dritte Zeile sticht heraus, weil sie in vier Teile geteilt wurde. Die „Eile“ des Todes wird durch den Satzbau verstärkt. Die umgebenden Zeilen sind nur zweiteilig, wesentlich ruhiger im Fluss, was der Haltung des Ichs entspricht. Insgesamt nähern sich solche Langzeilen der Prosa an, die Grenze wird dünner. Da braucht es viel Selbstbewusstsein, viel Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, um solche langen Verse als Gedicht „zu verkaufen“. Doch hier scheint es gar nicht anders zu gehen. Verteilte man die Sätze oder Teilsätze auf mehrere Zeilen, würde das Gedicht sehr unruhig wirken. Die entschlossene Ruhe des Ichs ginge flöten.
Zum Schluss ein Wort zur Gedichtlänge: Bei freien Versen, die keinerlei Restriktionen in der Form haben, besteht die Gefahr, zu ausführlich, zu ausschweifend zu werden. Sollte bei dir eigentlich nicht das Problem sein, weil du gelernt hast, mit sehr engen Vorgaben zu arbeiten. Hier hilft im Zweifelsfall, etwas Abstand zu gewinnen, um dann zu prüfen, ob man nicht doch ein bisschen ins Plaudern geraten ist und kürzen kann.
Praxisübung: Du kannst irgendeines deiner Gedichte nehmen, auch ein gereimtes, und damit experimentieren, was passiert, wenn du den Zeilenfall änderst – kurze Verse, lange Verse, gemischte Verse. Außerdem hast du den Kafka-Übungstext, den du dir mit den Erkenntnissen dieses Kapitels noch mal anschauen und ändern könntest.