Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

54 - Freie Verse

Ah, Freiheit! Kein Metrumzwang, kein Reimzwang, man schreibe immer der Nase nach, lasse auf der rechten Seite den Text etwas strubbelig aussehen und bekommt freie Verse. Toll, nicht?

Ganz zu Anfang, wirklich ganz ganz ganz zu Anfang habe ich das Bild einer weißen Ebene ohne irgendwelche Orientierungspunkte gebracht. So schlimm wird es nicht mehr, weil du mittlerweile eine innere Karte der Lyrik hast, trotzdem: Da ist ein weißes Blatt Papier oder ein Bildschirm, und du hast keinerlei Vorgaben, wie du einen Text in Versen darauf verteilst. Es gibt viele verschiedene Lösungen, aber das Endresultat soll den Eindruck erwecken, dass der Text genau so und nicht anders gestaltet sein muss. Dann stellt sich heraus: Gar nicht so einfach, vielleicht ist das Leben mit engen Regeln doch nicht ganz so schlecht, und überhaupt: Was ist eigentlich ein Vers?

Ich gebe dir ein paar Beispiele. Nicht alle sind Verse, aber ich vermute, du wirst diejenigen, die es sind, erkennen.

Ist das ein Vers?

Ist das ein Vers oder eine Salatgurke?

Ist das ein Vers
oder eine Salatgurke?

Ist das ein Vers oder eine Salatgurke aus Wörtern, die mit zu wenig Sinn gewürzt ist?

Ist das ein Vers
oder eine Salatgurke aus Wörtern, die
mit zu wenig Sinn gewürzt ist?

Bei den ersten Einzeilern kann man nicht sagen, ob sie Verse sind, weil nicht zu sehen ist, ob ein Gestaltungswille dahintersteht. Die Einzeiler sind schlicht zu kurz. Beim dritten Beispiel kann man auf Verse (Mehrzahl!) plädieren. Da ist noch jede Menge Platz rechts, aber jemand (wir nennen keine Namen) hat den Text auf zwei Zeilen verteilt. Der Text wurde gestaltet.

Der nächste Einzeiler ist mit Sicherheit kein Vers. Obwohl es nicht völlig unmöglich wäre, Verse derart lang zu gestalten, dass sie sogar über mehrere Zeilen gehen, lässt sich hier keine Gestaltung erkennen. Im letzten Beispiel hingegen ist sie eindeutig vorhanden. Es wurden Zeilenumbrüche gesetzt, die dem Text eine unveränderbare Form geben. Er ist in Versen geschrieben.

Unveränderbar ist natürlich relativ. Bei etwas längeren Versen kann es passieren, dass sie einen zusätzlichen Umbruch verursachen. Im Buchdruck macht man in solchen Fällen den überschüssigen Teil gestalterisch kenntlich, setzt ihn z.B. rechtsbündig und vielleicht mit etwas weniger Zeilenabstand zur Vorzeile. Im Internet ist das wesentlich schwieriger, da es bei der Bildschirmbreite eine riesige Spanne gibt, man also nie wissen kann, ob ein zusätzlicher Zeilenumbruch entsteht, aber extralange Zeilen sind eh aus der Mode.

Zurück zum Vers: Ob man einen Vers vor sich hat, kann man nur erkennen, wenn der Text aus mehreren Zeilen besteht. Läuft der Text durch den gesamten zur Verfügung stehenden Raum, sind wir bei der Prosa, wird er durch Zeilenumbrüche gestaltet, haben wir ein Gedicht in Versen. Wenn dir das ein wenig dünn als Unterscheidung vorkommt, hast du vollkommen recht. Die letzte Grenze zwischen einem Gedicht in Versen und Prosa in Zeilen ist nicht besonders markant. Sich in freien Versen vom gemeinen Prosaisten abzusetzen, das verlangt sehr viel Sorgfalt.

Die Themen dabei lauten: Verslängen (wie lang, wie kurz?), Pausen, Versenden (Zeilensprünge oder Zeilenstil). Darauf gehe ich in den folgenden Kapiteln ein, doch zuerst ein Wurf ins kalte Wasser:

Ich gebe dir zwei leicht gekürzte Prosaskizzen von Kafka. Versuche, eine davon oder beide in Verse umzuwandeln, ohne ein Wort zu ändern. Das heißt: Ich möchte, dass du selbst die Probleme beim freien Versemachen siehst und löst. Das fängt bei der einfachen Frage an, wie sich Verse und Satzbau zueinander verhalten sollen. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten. Wähle eine, die gut zum Text passt. Kafkas Prosa ist eigentlich sehr versfreundlich, daher musst du keine Wunder vollbringen, um einen Text von ihm in ein Gedicht umzuwandeln. Hast du eine gute Lösung, experimentiere ein bisschen. Warum funktioniert manches, anderes nicht?

Kafka Nr. 1:
Sie schläft. Ich wecke sie nicht. Warum weckst du sie nicht? Es ist mein Unglück und mein Glück. Ich bin unglücklich, dass ich sie nicht wecken kann, dass ich nicht aufsetzen kann den Fuß auf die brennende Türschwelle ihres Hauses, dass ich nicht den Weg kenne zu ihrem Hause, dass ich nicht die Richtung kenne, in welcher der Weg liegt. Ich bin glücklich, dass ich sie nicht wecken kann. Was täte ich, wenn sie sich erhöbe, wenn sie aufstehen würde von dem Lager, wenn ich aufstehen würde von dem Lager, der Löwe von seinem Lager, und mein Gebrüll einbrechen würde in mein ängstliches Gehör.

Kafka Nr. 2:
Als die kleine Maus, die in der Mäusewelt geliebt wie keine andere gewesen war, in einer Nacht unter das Falleisen kam und mit einem Hochschrei ihr Leben hingab für den Anblick des Specks, wurden alle Mäuse der Umgebung in ihren Löchern von einem Zittern und Schütteln befallen. Dann kamen sie zögernd, einer den andern stoßend, hervor, alle zog es zu dem Todesort. Dort lag sie, die kleine liebe Maus, das Eisen im Genick, die rosa Beinchen eingedrückt, erstarrt den schwachen Leib, dem ein wenig Speck so sehr zu gönnen gewesen wäre. Die Eltern standen daneben und beäugten die Reste ihres Kindes.
 

Vorweg zu den folgenden Kapiteln:
In den nächsten Kapiteln zu freien Versen werde ich verstärkt mit eigenen Texten als Beispielen arbeiten. Das liegt nicht daran, dass sie besonders toll sind (obwohl ich sie mag), sondern dass es wesentlich schwieriger ist, Material für das Thema zu finden. Die freien Verse haben sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich durchgesetzt. Da aber laut Urheberrecht Gedichte nur frei zu verwenden sind, wenn die Dichterin oder der Dichter mindestens 70 Jahre tot ist, stehen mir die meisten thematisch passenden Gedichte nicht ohne einen größeren zusätzlichen Aufwand zur Verfügung. Außerdem weiß ich bei meinen eigenen Texten am besten, welche Verbrechen ich damit geplant habe;-)