Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

53 - Nochmal Wiederholungen

Im ersten Wiederholungskapitel wurde bereits angedeutet, dass Wiederholungen Reime überflüssig machen könnten. Nun sind wir im Reimlosland angekommen, also ist es Zeit, sich zum wiederholten Male mit Wiederholungen zu beschäftigen.

Der größte Teil der Weisheiten aus dem ersten Kapitel über Wiederholungen ist natürlich auch für ungereimte Gedichte brauchbar, von daher ist spicken nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Zudem lässt die Wiederholung den Reim nicht völlig verhungern. Ein Refrain, auch Kehrreim genannt, ist ein guter Ansatzpunkt, eine Struktur in einem ungereimten Gedicht zu schaffen:

Bis die unendliche Langeweile
Und der Schmutz des endlosen Krieges
Alle Seelen durchdringen –:
Bis dahin ist wenig Hoffnung.

Bis die Zeitungen weislich zögern,
Kriegsneuigkeiten zu drucken,
Weil keiner sie mehr lesen will –:
Bis dahin ist wenig Hoffnung.

(Aus: Berthold Viertel – Friedenshoffnung)

So geht das noch zwei Strophen weiter. Die Refrainzeile wird durch das doppelte „Bis“ ergänzt. Das gibt dem Leseohr genug Klangfutter, um Reime vergessen zu lassen, zumal die Verse metrisch recht ähnlich gebaut sind.

Eine Steigerung in Sachen Wiederholung und Kehrreim ist das folgende Gedicht. Der einleitende Vierzeiler nutzt eine andere Wiederholung als die folgenden dreizeiligen Strophen mit Refrain. Es muss also nicht immer das Gleiche aufgetischt werden, auch Wiederholungen vertragen Variationen. Außerdem zeigt das Gedicht wieder mal, dass aufgebaute Regelmäßigkeiten die Chance eröffnen, durch eine Abweichung eine besondere Wirkung zu erzielen.

Und wieder
eine sternenlose Winternacht.
Und wieder
klatscht der Regen an die Fenster.

Ich denke an Berge,
die in majestätischer Ruhe vor blauem Himmel thronen.
– Es hilft nicht.

Ich denke ans Meer,
das bis zum Horizont in der Sonne glitzert.
– Es hilft nicht.

Ich denke an eine Blumenwiese,
die im Blütenrausch des Frühlings glüht.
– Es hilft nicht.

Ich denke an deine Telefonnummer
und bin erfüllt vom Klang deiner Stimme.
Das hilft.

(Emanuel Mireau – Winterliebe)

Die Schlusszeile ist die Erlösung von dem wiederholten Vers „– Es hilft nicht.“, sowohl klanglich als auch inhaltlich. Durch diese Doppelfunktion wirkt sie stärker, als wenn in den jeweils dritten Zeilen der Vorstrophen variiert worden wäre.

Das geht aber auch genau andersherum. Es ist die Wiederholung im Schlussvers, die entscheidend zur Wirkung beiträgt:

Einen Tag lang in Stille untergehen!
Einen Tag lang den Kopf in Blumen kühlen
und die Hände fallen lassen
und träumen: diesen schwarzsamtnen, singenden Traum:
Einen Tag lang nicht töten.

(Edlef Köppen – Loretto)

Die ersten vier Zeilen sind friedlich, feierlich. Indem der Dichter am Schluss den Versanfang „Einen Tag lang“ wiederaufnimmt und dann ans Töten erinnert, wird der Schock trotz der Verneinung verstärkt. Das Stichwort ist hier enttäuschte Lesererwartung, und natürlich stammt dieses Gedicht aus expressionistischer Zeit.

Wie schon beim gereimten Ausflug in die Welt der Wiederholungen muss auch hier über Intensität geredet werden. Achtung! Es wird hart:

Tausend Kreuze, tausend Kreuze
Ragen an der Straße.
Feuer brennen, Feuer brennen
Alle Hütten nieder.

Kalte Schwerter, kalte Schwerter
In die Eingeweide.
Todesschreie, Todesschreie,
Gellen durch die Dörfer.

Du bist einer, du bist einer
Unter den Millionen.
Du bist einer, du bist einer
Unter den Millionen.

(Aus: Georgi Kratochwil – Einer unter den Millionen)

Die extraharten Strophen habe ich weggelassen, es wird hoffentlich auch so klar, dass die Wiederholungen plus ein festes Metrum (wechselnd vier- und dreihebiger Trochäus – Hs) die Intensität derart verstärken, dass sie die Aussichtslosigkeit, das Nicht-entkommen-können auch durch die Textgestalt vermitteln. Nun stell dir vor, dies wäre ein gereimtes Gedicht. Wie viel von seiner unbarmherzigen Härte würde verloren gehen!

Wesentlich harmloser ist das nächste Beispiel. Es nutzt ab Zeile drei Wiederholungen und Variationen, um rhythmisch ein Hin und Her zu erzeugen – aus Gründen:

Du
machst deinen Job
guckst nicht nach links
guckst nicht nach rechts
klopfst und pumpst
pumpst und klopfst
bei Tag und Nacht
bei Nacht und Tag
für’s Herz keine Zeit
keine Zeit für’s Herz
hast einen Job
machst deinen Job
hast einen Job
machst deinen Job
bist ein Nichts
bist ein Niemand
bist ein Nichts
bist ein Niemand
bist –
mein Herz
und ich
bin du

(Georgi Kratochwil – Job)

Letztlich wurde mit verschiedenen Arten der Wiederholung auf den Herzschlagrhythmus angespielt. Diese Taktik der Variation in Repetition lässt sich bestimmt auch für andere Themen verwenden. Eine Wiederholung muss nicht stupide immer das Gleiche bringen. Weitergedacht wäre statt des zweizeiligen Wechselspiels auch ein Dreizeilentakt möglich, um z.B. die Monotonie der Tage (morgens – mittags – abends) zu verdeutlichen.

Eine letzte Idee möchte ich noch vorstellen: Die Wiederholung als Stilmittel, um eine Überwältigung durch die Realität zu zeigen. Man sagt zwar, dass die Wiederholung die Mutter des Lernens sei, aber sie kann auch Vater der Verwirrung sein.

Die Straßenbahnbahn bremst, bremst, bremst.
Zwei alte Leuteleute kämpfen, kämpfen, kämpfen
um ihr Gleichgewichtgewicht.
Die Türen, die Türen, die Türen
öffnen sich, sich, sich.
Drei Stufen, Stufen, Stufen
klappen raus, raus, raus.

(Aus: Hans-Peter Kraus – Zwei alte Leute)

Ein ganz alltäglicher Vorgang wird durch die echoartigen Wiederholungen zu einer Herausforderung für Leserinnen und Leser, so wie dieser Vorgang eine Herausforderung für die beiden alten Leute ist. Es wird versucht, einen Gedanken durch die Gestaltung des Textes zu vermitteln, statt ihn auszusprechen. Auch „unordentliche“ Gedichte ohne Metrum und Reim haben ihre Möglichkeiten, etwas durch Form oder Formlosigkeit anzubringen, ohne explizit sein zu müssen. Die Wiederholung ist eines der dafür zur Verfügung stehenden Mittel.

Wie wäre es mit ein bisschen Eigeneigeneigenbau? Es gibt viele Dinge im Leben, die sich ständig wiederholen, z.B. die Woche, die Tage, nichts im Fernsehen oder keine neue Nachricht auf dem Handy, obwohl man es schon dreimal gezückt hat. Andersherum: ständig was Neues. Digitale oder naturale Nervensägen, die einen nicht in Ruhe lassen. Mit ein bisschen Nachdenken fällt dir sicher ein Fall ein, und dann ist die Herausforderung, daraus ein ungereimtes Gedicht mit Wiederholungsschleifchen zu machen.