Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

52 - Ein expressionistisches Gedicht

Es gibt nicht das typisch expressionistische Gedicht. Die Dichterinnen und Dichter des expressionistischen Jahrzehnts (1910-1920) haben sehr unterschiedliche Gedichte geschrieben. Sie haben noch viel gereimt, wenn auch nicht immer sehr geschmackvoll, aber oft genug sind Metrum und Reim unter den Tisch gefallen. Die Verslängen, wenn sie in einem Gedicht durchgehend gleich verwendet wurden, reichten von ultrakurz (ein, zwei Wörter) bis ellenlang (jeder Vers ging über mehrere Zeilen).

Wenn ich gezwungen wäre, eine Gemeinsamkeit expressionistischer Gedichte zu nennen, dann würde ich sagen: enttäuschte Erwartungen. Das sind einmal jene der jungen Schreibenden, die eine Welt vorfanden, die so ganz anders war, als ihnen Elternhaus und Schule vorgegaukelt hatten. Und da sind solche von Lesern, denen immer wieder der flauschige Teppich der schönen Lyrik unter den Füßen weggezogen wurde.

Betrachte den Titel und die ersten drei Zeilen des folgenden expressionistischen Gedichts, und dann achte auf den roten Flauschteppich:

Sonnenuntergang

Die letzten weißen Wolkenflotten fliehen.
Der Tag hat ausgekämpft
über dem Meer.
Wie eine rote Blutlache liegt es,
in der das Land wie Leichen schwimmt.
Vom Himmel tropft ein Eiter, Mond.
Es wacht kein Gott.
In Höhlen ausgestochner Sternenaugen
hockt dunkler Tod.
Und ist kein Licht.
Und alles Tier schreit wie am Jüngsten Tag.
Und Menschen brechen um
am Ufer.

(Oskar Kanehl)

Erstmal zu den Formalitäten: keine Reime, keine gleichmäßigen Verslängen, aber jambische Verse. Vers drei ist eine Akzentverschiebung: Hs s H. In Vers vier verzichtet der Dichter darauf, den Jambus mittels poetischem Apostroph (Blutlach’) durchgehend zu erzwingen. Poetisch im Sinne von schön und gut ist ab dem Vers sowieso alles aus.

Was der Expressionismus in die Lyrik einbrachte, war das hässliche Element. Das gab es vorher schon als Sozialkritik oder zur komischen Wirkung, aber hier ist es rein literarisches Stilmittel. Eines der romantischsten Bilder – der Sonnenuntergang – wird per Vergleich blutig in Stücke gehackt, Lesererwartungen implodieren.

Dennoch bietet das Gedicht Klang an den Versenden. „fliehen“ und „liegt es“, „schwimmt“ und „Licht“ sowie „Mond“ und „Tod“ bilden Assonanzen. Bei „Gott“ und „Tod“ kann man sogar auf einen unreinen Reim plädieren. Auch innerhalb der Verse werden nach alter Sitte Alliterationen angeboten: „weißen Wolkenflotten“, „Land wie Leichen“, „ausgestochner Sternenaugen“ und „Tier … Tag“. Nur werden diese Gleichklänge konterkariert durch Inhalte, die wenig erbaulich sind.

Am Schluss des Gedichts taucht ein grotesk anmutendes Element auf: Menschen fallen nicht hin oder stürzen, sie „brechen um“. Solche Realitätsverzerrungen finden sich immer wieder in expressionistischen Gedichten. Die Stelle hier erinnert an die abstürzenden Dachdecker, die „entzwei“ gehen, wie es in Jakob van Hoddis’ Weltende heißt.

Ein anderes Stilmittel, das oft in den Gedichten der Expressionisten genutzt wurde – der Zeilen- bzw. Reihenstil –, rückt hier etwas in den Hintergrund. Verse, die ganze Sätze enthalten, werden immer wieder abgelöst von solchen mit Zeilensprung. Auch ist die unverbundene Reihung von Bildern, die typisch für den Reihenstil ist, hier nicht wirklich gegeben. Der Dichter springt ganz klassisch assoziativ von Zeile zu Zeile, vom Land zum Himmel zu Gott zu den Sternen zu Tod und Licht und zum jüngsten Tag. Erst das groteske Ende fällt etwas aus dem Rahmen, aber Leserenttäuschung muss nun mal sein.

Dieses Gedicht entspricht einer der Marschrichtungen des Expressionismus: Klassische Mittel der Dichtung (Metrum, Gleichklänge an den Zeilenenden) werden gemischt mit Inhalten, die so ganz und gar nicht „nett“ sind. Heute ist man in dieser Hinsicht einiges gewohnt, für die Leute damals müssen solche Gedichte schockartig gewirkt haben. Der Expressionismus ist eine Erinnerung daran, dass Lyrik nicht schön und gut, wohlgefällig und harmonisch sein muss. Statt Blümchen im Gedicht kann man auch Dynamitstangen pflanzen und sprengen.

Da ich nicht weiß, wie du so drauf bist, was das Hässliche und Grässliche angeht, probiere es mit einem Rollengedicht: Stell dir einen wunderschönen Sommertag vor, und versetze dich hinein in jemanden, der unter dem blauen Himmel durch einen blühenden Park geht, eine Saulaune hat, also wirklich Feuersbrunstlaune, und sich davon nicht abbringen lässt. Versuche, ähnlich wie in dem vorgestellten Gedicht eine schöne Stimmung aufzubauen, die in ihr Gegenteil umschlägt.