Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

51 - Lautgedichte

Dichten ist eine ernste Angelegenheit, und mit den 127,4 Regeln, die ich im Laufe dieses Kurses vorgestellt habe, habe ich meinen Teil dazu beigetragen, den Ernst des Dichtens deutlich zu machen.

habe, habe
heba, heba
heab, heab
papperlapapp schnippschnapp

Das Lautgedicht ist eine Spielwiese, auf der sich bereits seit mehr als 100 Jahren Kindsköpfe aller Art tummeln. Letztlich besteht ein Gedicht aus Lauten. Das begreift auch der letzte Schnellmerker spätestens dann, wenn er Gedichte in einer Sprache liest, die er überhaupt nicht kennt:

belei dnu
shas

greki dnu
fierdne

tremexe
zenhei
schi na

Na gut, ich habe geschummelt: Liebe und Hass // Krieg und Frieden // Extreme ziehen sich an. Wörter derart unkenntlich zu machen, wäre eine Möglichkeit, ein Lautgedicht zu kreieren. Aber das hat etwas von Geheimschrift. Das wahre Lautgedicht verzichtet weitgehend auf Übersetzungsmöglichkeiten. Es ist, was es ist.

KARAWANE

jolifanto bambla ô falli bambla
grossiga m’pfa habla horem
égiga goramen
higo bloiko russula huju
hollaka hollala
anlogo bung
blago bung
blago bung
bosso fataka
ü üü ü
schampa wulla wussa ólobo
hej tatta gôrem
eschige zunbada
wulubu ssubudu uluw ssubudu
tumba ba- umf
kusagauma
ba - umf

(Hugo Ball)

Das ist ein recht bekanntes Lautgedicht aus dem Jahr 1917. Wenn du ohne den Titel eine Karawane vor Augen bekommst: Herzlichen Glückwunsch, du bist völlig verrückt. Und damit ist auch ein erster Trick verraten, wie einem Lautgedicht Lebensähnlichkeit eingeblasen werden kann: Man behaupte im Titel irgendetwas, den Rest darf die Leserinnenphantasie erledigen.

Die Geschichte der Welt in drei Strophen

ßuhhh
ßuhhhuhhh
tschoppaaaaa lumm
tschoppaaaaa lumm
tschoppa tschoppa lumm lumm
tschoppa tschoppa lumm lumm

ßuhhh
ßuhhhuhhh
btz-ktz btz-ktz btz-ktz
btze-ktze btze-ktze btze-ktze
btze btze ktz ktz btze btze ktz ktz
btz! btz! bzte btze ktz

ßuhhh
ßuhhhuhhh
plck

(Georgi Kratochwil )

In diesem Gedicht lässt sich zumindest ein bisschen nachvollziehen, was die Laute bedeuten. Das „ßuhhh / ßuhhhuhhh“ erinnert an einen pfeifenden Wind. Die vielen „tz“-Laute strahlen eine gewisse Aggressivität aus, und die letzte Zeile scheint ein ziemlich antiklimaktisches Ende der Welt darzustellen. Tatsächlich ist es möglich, eine ganze Geschichte nur mit Lauten zu erzählen, die sogar verstanden werden kann:

Beim Zahnarzt

mölle?
mi A
möllemölle, möllé

Mölle Mölle Mölle
miamiamia?
möllemölle

iiiiiiih
aaah
möllemölle

iiiiiiih
aaah
möllemölle!
m’a m’a

iiiiiiih
aaah
möl-le!
a

iiiiiiih
möllé!
a mi

(Hans-Peter Kraus)

Ich glaube, die Variationen, die der Patient mit seinem Lautvorrat von sich gibt, sind ganz gut verständlich. Des Bohrers „iiiiiiih“ dürfte schmerzhaft genug klingen. Warum der Zahnarzt nur „mölle“ draufhat, bleibt ein Geheimnis des Dichters.

So viel als Appetitanreger, nun wird es Zeit, dass du dich auch auf die Spielwiese begibst. Mein Vorschlag: Wörter sind manchmal lästig, wenn sie nicht den richtigen Klang haben, deshalb ist ein Lautgedicht die ideale Möglichkeit, Klangwirkungen auf ihren emotionalen Gehalt zu testen ohne überflüssigen Wortschnickschnack. Also: Schreibe ein Liebes- und/oder ein zorniges Gedicht nur in Lauten.