Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
50 - Metrum ohne Reim
Es hat ja so kommen müssen: kein Reim mehr. Die oberen Zehntausend der Poeterei haben etwa 200 Jahre gebraucht von den ersten Versuchen bis zur völligen Reimabkehr. So lange solltest du dir nicht Zeit lassen, denn die Chancen auf dem Arbeitsmarkt werden mit zunehmendem Alter schlechter und auch die Rentenversicherung wird irgendwann misstrauisch.
Dieses Kapitel soll allerdings kein Gebot sein, überhaupt nicht mehr zu reimen, sondern es ist das erste von vielen weiteren, in denen gezeigt wird, was sonst noch alles geht ohne den Reimzwang. Die berühmte künstlerische Freiheit nimmt Anlauf und spreizt die Flügel. Manchmal wird sie unsanft landen, doch oft genug am Himmel schweben. Das klingt poetisch und ist doch ungereimt.
Theaterstücke wurden in früheren Zeiten auch in Reimen verfasst, weil meist in höheren Kreisen spielend und Königs anscheinend ein bisschen anders palavern als Bürger aller Sorten. Die Abkehr vom Reim vollzog sich im Drama bereits im 19. Jahrhundert. Die erste Stufe war der Blankvers: ein fünfhebiger Jambus (sH) blank jeden Reims.
Das eben ist der Liebe Zaubermacht,
Dass sie veredelt, was ihr Hauch berührt,
Der Sonne ähnlich, deren goldner Strahl
Gewitterwolken selbst in Gold verwandelt.
(Aus: Franz Grillparzer – Sappho. Trauerspiel in fünf Aufzügen)
Klingt doch gar nicht so übel, oder? Eine gehobene poetische Sprache und das jambisch stete Auf und Ab lassen die fehlenden Reime vergessen. Ein bisschen geschummelt wurde aber doch: „-macht“ und „Strahl“ bilden eine nicht ganz saubere Assonanz (kurzer gegen langer Vokal), also halb gereimt.
In diesem Ausschnitt gibt es eine winzige Unregelmäßigkeit. Der letzte Vers hat ein Senkungsende, die davor enden mit einer Hebung. Ein unregelmäßiger Wechsel von Hebungs- und Senkungsenden ist beim Blankvers inbegriffen. Aber es ist dir unbenommen, in dieser Hinsicht Regelmäßigkeiten aufzubauen.
Im nächsten Beispiel stammen die Blankverse tatsächlich aus einem Gedicht, das jedoch sprachlich und thematisch wesentlich moderner daherkommt. Es soll zeigen, dass die Reimlosigkeit nicht zwangsläufig mit pathetisch-poetischer Sprache überdeckt werden muss.
Hier ist der Kreuzungspunkt! Hier pulst das Leben!
Ein ewiges Gedränge und Geschiebe!
Die Wagen rollen, und die Menschen rennen;
ein Zischen wie aus einem Hexenkessel
Schwirrt überall, und Staub liegt schleierartig
bleigrau darüber als ein schmutz’ges Sargtuch.
(Aus: Max Hoffmann – Straßenbild)
In diesem Gedicht gibt es durchgehend Senkungsenden, aber auch Assonanzen (Leben, rennen, -kessel). Überhaupt wird alles geboten, was sonst in metrischen, gereimten Gedichten auftritt: Zäsuren (sichtbar an Ausrufezeichen und Kommata mitten im Vers), Zeilenstil (erste Hälfte), Zeilensprünge (zweite Hälfte), Wiederholungen am Satzanfang (erste Zeile), Wiederholungen von Anfangslauten (Alliteration mit sch in Zeile fünf), sogar ein Apostroph zur Absicherung des Jambus kommt vor. Nur die Reime fehlen. Aber fehlen sie wirklich? Ist der Eindruck nicht realistischer ohne Reime?
Nun sind reimlose, aber metrisch gebaute Gedichte nicht beschränkt auf den Blankvers. Das ist nur eine von den alten Zossen für gut befundene Möglichkeit. Es geht auch jede andere metrische Form, hier z.B. ein vierhebiger Trochäus (Hs):
Weit gedehnte, öde Strecken,
schmutzig-gelbe Wassertümpel,
einsam ragt der Schlot des Ofens
über morsche Bretterschuppen.
[...]
Träge ziehn vorbei die Stunden;
aufgelöst in Staub und Hitze,
oder rings in Kot zerfließend,
scheint die Welt auch hier zu Ende.
(Aus: Ferdinand von Saar – Der Ziegelschlag)
Herzerquickend sind diese Verse nicht gerade, aber deshalb ist es gut, wenn die Tristesse nicht durch Reime entschärft wird. Wieder hat der Dichter die Zeilenenden einheitlich gestaltet, was ihren Rhythmus gleichmäßig macht.
Obwohl die beiden letzten Beispiele etwas negativ-realistisch auftraten, sind reimlos-metrische Gedichte ebenso wenig auf eine Stimmung oder ein Thema beschränkt wie gereimte. Auch ihre Gestaltung muss nicht unbedingt gleichförmig sein (nur vier- oder fünfhebige Verse). Es gelten die gleichen Spielräume wie im Reimeland.
Als die Saat der Erd’ entsprossen,
Als der Frühlingswind sie neckte,
Sind wir manchen stillen Abend
Langsam durch sie hingeschritten
Hand in Hand.
Kamen Menschen uns entgegen,
Wollten sie uns überholen,
Ließen wir die Hände locker,
Gingen ehrbar Seit’ an Seite,
Wie’s sich ziemt.
(Aus: Detlev von Liliencron – Das Kornfeld)
Bei einem gereimten Gedicht wäre wahrscheinlich nur die verkürzte Schlusszeile ungereimt. Der Dichter hat sich jedoch entschieden, allein auf die Spannung zwischen den vierhebigen und den verkürzten Versen zu setzen. Gewonnen hat er dadurch eine weitgehend freie Wortwahl, nur eingeschränkt durch das verwendete Metrum. Mit dieser Freiheit umgehen zu können, das hat er – und das hast du – durchs Reimen gelernt, denn der Reimzwang erfordert einen sehr sorgfältigen Umgang mit dem Wort, sonst führt er nur zu Klingel-Klangel.
Gedichte, die auf Reime verzichten und nur das Metrum verwenden, bieten dir eine Möglichkeit, dich des ganzen Instrumentariums zu bedienen, das dir mittlerweile zur Verfügung steht – nur eben ohne Reim. Und ich muss zugeben, je mehr ich solche Gedichte lese, desto weniger vermisse ich den alten Papagei.
Die Beispiele in diesem Kapitel waren allesamt Zweiertakte, Jambus oder Trochäus mit stetem Wechseln zwischen Hebung und Senkung. Schon allein dadurch ist abgesichert, dass man nicht in „prosaisches Sprechen“ verfällt. Im normalen Sprachgebrauch schwankt die Zahl der unbetonten Silben zwischen den betonten, und manchmal knallen die betonten sogar direkt aufeinander.
Um dich von den Reimen abzulenken, schlage ich als Übung eine Steigerung vor. Bilde reimlose Sätze, so lang wie möglich, die allein auf dem Amphibrachys (sHs) beruhen (siehe das Dreiertaktkapitel). Dieser Versfuß erzeugt eine wellenartige Betonung, die ebenfalls in der freien Wildbahn selten vorkommt. Wenn’s gut läuft, wird vielleicht sogar ein Gedicht daraus. Anfangsvorschläge:
Die Wellen des Meeres …
Die Wolken am Himmel ...
Die Worte verstummen …
Oder du nimmst, was dir als erstes an Amphibrachen durch den Kopf geht.