Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

5 - Haufenreim in der Praxis

Da ich wissen wollte, welche Probleme sich ergeben, wenn man die Aufgabe aus dem vorigen Kapitel durchführt, habe ich sie selbst für ein Reimwort ausprobiert. Ich musste natürlich „Dichter“ nehmen. Das dabei entstandene Gedicht ist keine Musterlösung, eher eine Spaßversion, die man weiter bearbeiten müsste. Aber der Text bietet Gelegenheit, noch mal ein bisschen über Betonungen zu sprechen und auch ein paar praktische Tipps für den Gedichtbau zu erwähnen, die später vertieft werden sollen.

Vorweg: Es war nicht leicht, aus vorgegebenen Reimen ein Gedicht zu konstruieren und eigentlich ist das auch keine empfehlenswerte Herangehensweise, erst Reime zu haben und dann ein Gedicht. Reime sollen dem Gedicht dienen, nicht das Gedicht den Reimen. Meine Lösung ist recht kurz, ich hatte mehr den Ehrgeiz, ein in sich geschlossenes (wenn auch verrücktes) Ganzes zu produzieren als möglichst viele Reime zu verwursten. Doch Ersteres war nicht gefordert, es ist also völlig ok, wenn du einfach nur drauflos gereimt hast. Beim Reimen ins Rollen zu kommen und ungeeignete Reime aussortieren zu können, das war eigentlich das Ziel der Aufgabe. Meine Lösung ist also nur Zugabe.

Dichter

Ursprünglich wollte ich „dichten“ nehmen, doch da hätten sich bei Echtreim über 2000 Reimmöglichkeiten ergeben, was zu unübersichtlich geworden wäre. Auch so war das Angebot groß genug. Ich konnte locker die Zahl der selbst gefundenen Reimwörter verdoppeln. Es gab bei den dreisilbigen Wörtern einige Ausfälle durch die Betonung, etwa Chefrichter oder Zurichter, die auf der allerersten Silbe betont werden und daher nicht auf Dichter reimen. Ich hoffe, du hast das erkannt. Ein anderer Fall lag bei viersilbigen Wörtern wie Finanzrichter oder Granattrichter vor, deren Hauptbetonung auf der zweiten Silbe liegt. Hier ist der Reim auf Dichter nur unter Schmerzen möglich, weil die dritte Silbe noch relativ stark betont werden kann, aber nicht zu empfehlen.

Er hatte sich verraten, sagte, er sei ein Dichter,
nun starren sie ihn alle an, die Bösewichter,
das ganze schlimme Gelichter, all die Fratzengesichter,
sie gucken wie Richter: Er ist ein Arbeitsplatzvernichter.
Mit seinen schlichten Versen über Bombentrichter
und Engelsichter oder Unkrautvernichter verficht er
moderne Lyrik, doch den stolzen Verlagen sticht er
ins monetäre Herz als Buchverkaufsverzichter.

Drei Dinge möchte ich hier ansprechen: Verslängen, die gespaltenen Reime in Vers sechs und sieben und Wortneuschöpfungen.

Verslängen: Die Verse sind zwischen 13 und 15 Silben lang, was im Prinzip barocke Ausmaße sind. Ich wollte jedoch einige der recht langen Reimwörter unterbringen und habe daher von Anfang an großzügig geplant. Der Vorteil von langen Versen ist, dass man in ihnen komplette Satzbauten wesentlich einfacher unterbringt als in kürzeren Versen. Sie können jedoch etwas langatmig wirken. Dem habe ich auf zwei Weisen entgegengewirkt. Die ersten vier Verse sind im Satzbau noch mal geteilt, in den zweiten vier Versen habe ich die Leserinnen durch einen alle vier Zeilen übergreifenden Satz bis ans Ende gehetzt. So konnte keine Langeweile aufkommen.

Gespaltene Reime: In Vers sechs und sieben werden zwei Wörter verwendet, um den zweisilbigen Reim zu bilden, ein sogenannter gespaltener Reim. Das ist möglich, wird aber selten genutzt, was zwei Gründe haben könnte: 1. Man muss aufpassen, dass nicht das falsche Wort im Satzzusammenhang betont wird, hier also „er“. 2. Die geforderte Lautgleichheit beim Reim könnte leicht gestört werden durch eine mögliche geringfügige Pause zwischen den beiden Wörtern, denn dadurch ergeben sich andere Silben, hier statt -ichter eben -icht|er. In diesem Fall geht es eigentlich gut, weil Leserinnen bereits auf -ich|ter gedrillt wurden, so dass sie eher ohne Pause das Versende lesen.

Der Effekt dieser Konstruktion eines gespaltenen Reims war zudem, dass der Satz über die Versgrenze hinausgeführt werden konnte, unter dem hübschen Namen Enjambement bekannt oder billiger Zeilensprung. Das ist eine fortgeschrittene Art zu reimen, wenn nicht jeder Reim am Ende eines Haupt- oder Nebensatzes steht. Man entgeht dadurch ein bisschen dem Reimsingsang, indem die Reime etwas beiläufiger erscheinen. Zum Vormerken: Rilke hat das ziemlich ausgiebig praktiziert.

Wortneuschöpfungen: Obwohl die Vorschläge bei Echtreim manchmal schon etwas extravagant waren (Drallzündtrichter?), habe ich zweimal mir selbst ein Wort erfunden (Engelsichter, Buchverkaufsverzichter). Das ist ein Vorrecht, das man als Dichter hat: neue Wörter zu bilden. Wie immer gilt, mit Freiheiten auch verantwortungsvoll umzugehen. In diesem wirren Gedicht sind die Neuschöpfungen wohl kaum aufgefallen, doch gerade wenn du dir für einen Reim ein Wort selbst bastelst, musst du darauf achten, dass es sich an den Inhalt „anschmiegt“. Fällt auf, dass ein Wort nur des Reimes wegen erfunden wurde, ruiniert es ein bisschen die scheinbare Zwanglosigkeit der Reime.