Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

49 - Nur ein einziger Reim

Langsam heißt es Abschied nehmen von diesem Typen, der einem ständig hinterherläuft und meint, er wäre ein Alpenecho. Oder etwas vornehmer ausgedrückt: Es wird Zeit, einen Reim nicht mehr routinemäßig an jedes Zeilenende zu stellen, sondern wirklich darüber nachzudenken, ob er einen Nutzen hat. Wenn nur ein einziger Reim im Gedicht verwendet wird, dann sollte also was dahinterstecken. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir es hier zwangsläufig mit tiefsinniger Gedankenarbeit zu tun haben:

Zwei Augen, dich zu sehen,
Zwei Ohren, dich zu hören,
Zwei Arme, dich zu fassen,
Und, ach, um dich zu küssen,
Nur einen Mund, o Holde!
Das will mir gar nicht passen!

(Adolf Glaßbrenner – Mangelhafte Schöpfung)

Man könnte auf einen Schweifreim plädieren, der nur aus dem Schweif besteht. Dass die Paarreime nicht vermisst werden, liegt zum einen an den Wiederholungen im ersten Teil des Gedichts inklusive paralleler Satzbauten, zum anderen an gewissen Anklängen bei den Zeilenschlüssen. Wenn ö und e in gehobenen Silben bei Reimen erlaubt sind, dann sind die Zeilen eins und zwei eine Schluss-Assonanz, und „küssen“ hat bis auf den Anfang des Wortes auch viel gemeinsamen Klang mit dem Reim.

Warum nur einer? Das spiegelt den Inhalt: Es gibt nur jeweils einen Mund, und wenn die sich treffen, einen Kuss. Im Gedicht gibt es eben nur einen Reim, wenn sich zwei Wörter „küssen“.

Auch im nächsten Beispiel wird etwas getrickst, um Wohlklang trotz nur eines einzigen Reims zu erzeugen. Wie das gemacht wird, das hörst du sicher mit nur einem Öhrchen.

Du bist
der warme Sonnenstrahl
an einem kalten Frühlingsmorgen;
der sanfte Abendwind
nach einem langen, heißen Tag;
der Blätter Farbenspiel,
bevor die wilden Winde toben;
das stille Zauberland,
das leis der Schnee geschaffen hat.
Du bist
mein Traum bei Tag und in der Nacht,
und all mein Tun und Handeln
erbebt von deiner Liebe Macht.

(Emanuel Mireau – Du bist)

Irgendetwas klingt an den Zeilenenden, auf Fachchinesisch Assonanzen genannt. Sie sind etwas unregelmäßig verteilt, aber sie existieren: Von „bist“ zu „-wind“ zu „-spiel“ (nicht ganz sauber, weil langer Vokal), von „-strahl“ zu „Tag“, von „-land“ zu „hat“. Erst am Schluss als Höhepunkt dieser Liebeserklärung kommt der Reim. Wenn es nur einen einzigen im Gedicht gibt, dann ist die Platzierung am Ende seine natürliche Position, obwohl man ihn genauso gut an den Anfang stellen könnte.

Im nächsten Gedicht wird ein anderer – völlig unauffälliger – Trick verwendet, um von der Reimarmut abzulenken. Findst du nie!

Haben
die Blumen, die Bäume, die Vögel
einen Kalender?
Nein.
Die Blumen, die Bäume, die Vögel
haben
keinen Kalender.
Doch egal wie das Wetter:
Alles zwitschert, alles blüht, alles treibt.
Ist das nicht ein Scherz?
Die Blumen, die Bäume, die Vögel
haben keinen Kalender,
doch alle wissen:
Es ist März.

(Georgi Kratochwil – Ohne Kalender)

Ich ahne, ich vermute, ich glaube, hier wird auf Wiederholungen gesetzt. Zudem hat das Gedicht einen Stop-and-go-Rhythmus durch den Wechsel zwischen langen und kurzen Zeilen. Der Reim selbst wirkt durch die drei Verse dazwischen etwas unauffälliger, aber weil es der einzige ist und sonst keinen Wert auf Klanggleichheiten an den Zeilenenden gelegt wurde, fällt er trotzdem beim Servieren der Pointe auf.

Zum Schluss ein Beispiel für gelungenen Umweltschutz im Gedicht: ein einziger Reim wird mehrfach verwendet, die Fachleute von der Müllabfuhr sagen: Reim-Recycling.

Tag für Tag aus Kraft und Sehnsucht
Wob ich goldene Gewebe
Und du warst auf jedem Bild.
In den Augen strahlte Liebe
Gläubiger Mut auf Mund und Stirne
Und du warst auf jedem Bild.

Nacht für Nacht in milder Härte
Fäden zieh ich aus und Fasern
Und zerstöre Bild um Bild.
Schmerzen wild und unerträglich;
Ist’s mein Herz das ich zerreiße?
Ach du bist auf jedem Bild.

(Hans Böhm – Auf jedem Bild)

Der Dichter nutzt den Sonderfall des identischen Reims: Auch der Konsonant vor dem betonten Vokal ist gleich. Es muss nicht wie hier das gleiche Wort sein, Gebild’ wäre ebenfalls ein identischer Reim zu Bild. In diesem Gedicht ist die mangelnde Variation ein formales Abbild der Fixierung des Ichs auf ein geliebtes Du.

Nebenbei bemerkt: Die nicht-gereimten Zeilenenden haben im Gegensatz zum Reim alle einen Senkungsabschluss, tatsächlich nutzt der Autor fast durchgehend einen vierhebigen Trochäus (Hs). Es wird also sehr sparsam gereimt, aber dennoch eine Form eingehalten. Ich prophezeie mutig, dass da noch mehr geht.

Falls es nicht gegen deine Menschenwürde verstößt, nur einen einzigen Reim zu nutzen, wäre mein Vorschlag: Tod – also nicht richtig, sondern ein Gedicht, das auf dieses Wort als Reim hinausläuft.