Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
48 - Fehler und „Fehler“
Vergleiche die beiden folgenden Gedichtversionen. Welche gefällt dir intuitiv besser? Dann lies analytisch: Reimschema, Metrum, Wortwahl, Laute in gehobenen Silben. Bleibt es bei deinem Urteil?
A
Wer an die Zukunft denkt,
vernichtet sie,
denn wie man denkt,
so kommt es nie.
B
Wer an die Zukunft denkt,
der gleich vernichtet sie,
denn wie man sie auch lenkt,
so wird sie sicher nie.
Wenn du zurück an das Kapitel Zeigen und schweigen denkst, ist das Gedicht ein klarer Verstoß dagegen, weil es einen Gedanken offen ausspricht. Das wäre in die Kategorie Sinnsprüche oder Weisheitsgedichte einzuordnen, eine Sache des 19. Jahrhunderts – ohne Zukunft.
Man kann jedoch durchaus mal gegen die Zeigen-und-schweigen-Regel verstoßen. Ist das Gedicht gut, ist es ein „Fehler“, wenn nicht, dann entfallen die Gänsefüßchen. Bei der Bauweise der Gedichtversionen gilt das gleiche: Es gibt „Fehler“ und Fehler.
Die erste Zeile ist laut Prof. Dr. Offensichtlich in beiden Versionen gleich: drei Hebungen, Jambus und drei verschiedene Vokale in den gehobenen Silben. Doch dann geht’s los. Version B bleibt beim dreihebigen Schema und hält dies im gesamten Gedicht durch. Version A lässt ab Zeile zwei einen Versfuß verschwinden. „Fehler“ oder Fehler?
Version B spricht die Unmittelbarkeit der Zukunftsvernichtung aus mit: „gleich“. Dieses Wort fällt besonders auf, weil es eigentlich an der falschen Stelle sitzt. Mit ordentlichem Satzbau würde die Zeile lauten: der vernichtet sie gleich. In Version A wird die Unmittelbarkeit durch die Verkürzung der Zeile um einen Versfuß verdeutlicht. Das „vernichtet“ folgt unmittelbar dem Denkvorgang.
Ein weiterer Aspekt der kurzen Zeile ist: Sie enthält nur den Laut i in den Hebungen, sie „zerstört“ den Lautreichtum des ersten Verses. In Version B hingegen korrespondiert der Laut ai mit dem a in der ersten Hebung der Vorzeile. Hier wird eine Verbindung geschaffen, statt zu trennen.
Der Fehler der Verkürzung der zweiten Zeile ist meiner Meinung nach ein „Fehler“. Die Zeile gewinnt an Wirkung gegenüber Version B, indem sie etwas wortlos vermittelt. Version B macht hingegen zu viel Aufhebens um „gleich“, was nicht wirklich der wichtige Punkt ist. Trotzdem würde ich die Aufrechterhaltung des dreihebigen Metrums nicht als Fehler bezeichnen. Regelmäßigkeit ist in diesem Fall jedoch nur die zweitbeste Lösung.
Vielleicht noch deutlicher wird das in Zeile drei. Version B („denn wie man sie auch lenkt“) bleibt dreihebig und bietet einen ordentlichen Reim, Version A („denn wie man denkt“) bleibt zweihebig (es wird nicht versucht, einen Wechselrhythmus dreihebig zu zweihebig zu installieren) und bietet nur einen identischen Reim.
Die zwei zusätzlichen Silben in Version B fügen dem Inhalt jedoch nichts hinzu, das Metrum wird nur aufgefüllt. So etwas lässt sich nicht immer vermeiden, ist aber nicht gut für die Qualität eines Gedichts. Auf der anderen Seite ist es oft genug so, dass man durch den Zwang, ein Metrum einzuhalten, zusätzliche Ideen erhält. Hier jedoch wurde offensichtlich keine zusätzliche Idee gefunden. Tatsächlich kommt es zu einer Wiederholung von „sie“, ohne dass dies zu einem Mehrwert für das Gedicht führt. In diesem Fall war die verkürzte Metrumvariante die bessere Wahl.
Ähnliches gilt für den Reim in Zeile drei. Version B hält sich an die Regel, den Konsonanten am Anfang der Reimsilbe auszutauschen, weil sonst der Klang eher flau wird. Version A macht sich das als „Fehler“ zunutze. Die Flauheit der Wortwiederholung entspricht der Eindimensionalität von „denkt“ in Sachen Zukunft, und dies wird durch den identischen Reim ohne Worte am Wort selbst demonstriert.
In Zeile vier von Version B („so wird sie sicher nie“) ist immerhin eine Idee erkennbar: Alle Hebungen haben einen i-Laut. Dafür wurde sogar das leichte Stottern „sie sicher“ in Kauf genommen (sowie das nochmalige Wiederholen von „sie“, hier jedoch in einer Senkung). Dummerweise hatte aber die Vorzeile bereits zwei i in den Hebungssilben, es entsteht klanglich kein Kontrast zwischen dem Denken an die Zukunft und dem, was tatsächlich geschehen wird.
Version A („so kommt es nie“) tischt hingegen in der letzten Zeile zum ersten Mal ein o in einer Hebung auf. Die Zukunft überrascht auch vom Klang her. Ebenfalls interessant ist die Bewegung des langen i in den Hebungen von Zeile zwei bis vier. Es ping-pongt vom Reimende der zweiten Zeile zur ersten Hebung der dritten wieder zum Reimende der letzten. Auch dies unterstützt klanglich den Kontrast zwischen dem Denken an die Zukunft und dem, was eintritt.
Wenig überraschend gefällt mir die etwas seltsam gebaute Version A eindeutig besser. Heißt das nun: Alle Regeln ab sofort über Bord werfen? Nein, natürlich nicht. Aber es zeigt die Möglichkeit auf, Standards auszuhebeln – zum Wohle des Gedichts. Und nichts anderes zählt. Wird ein Gedicht besser, wenn du Regeln einhältst, oder wird es nicht besser?
Im Normalfall ist Ersteres der Fall, denn sonst hätten sich diese Regeln nicht etablieren können. Doch wenn du gestalterische Merkmale an den Inhalt anschmiegen kannst, statt eine Form nur „irgendwie“ zu füllen, dann solltest du intensiv über Regelverletzungen nachdenken. Diese wiederum dürfen natürlich nicht nur der Bequemlichkeit beim Fertigstellen eines Gedichts dienen. Sich zwischen Befolgung und Verletzung von Regeln zu entscheiden, ist nicht einfach, aber ein wichtiger Schritt voran im Dichterinnenleben.
In diesem Sinne schau dir z.B. deine Übungsgedichte an, bei denen es mehr auf Regeleinhaltung als auf den Inhalt ankam. Was ist möglich, wenn du Ausnahmen zulässt? Auf der anderen Seite wären auch die Gedichte einen Blick wert, als du vielleicht noch gar nicht das Wissen um die Standards beim Gedichteschreiben hattest. Lassen sich diese durch kleine Eingriffe in Richtung Regelhaftigkeit verbessern?