Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

47 - Lyrik ist in – eine Phantasie

Vorbei die Zeiten, als man nur beschämt gestand, Lyrik zu lesen. Heutzutage gilt als unten durch, wer zugeben muss, in den letzten Tagen kein Gedicht gelesen oder gehört zu haben. Ja, auch das Hören ist wichtig, die Lyrik geht wieder von Mund zu Mund. Gedichte auswendig zu lernen, lange Zeit eine beliebte Strafarbeit, hat sich gewandelt zu einer Sache, die freiwillig und mit Begeisterung angegangen wird. Jeder will seine Lieblingsgedichte immer parat haben. Die Zukunft der Lyrik ist oral.

Das Fernsehen spielt dabei keine große Rolle mehr, obwohl die Sender sich viel Mühe geben. Es werden Wettbewerbe veranstaltet und zur besten Sendezeit live übertragen, Fußball hat als Massenunterhaltung ausgedient. Vor den Lyrikmachersendungen ist kaum noch ein Entkommen. Überall verraten bekannte Dichter „exklusiv“ Geheimtipps zum Gedichteschreiben, man kann live verfolgen, wie ein Gedicht entsteht. Doch spricht dies eher die ältere Generation an.

Die Musik für die Lyrik spielt der heutigen Zeit gemäß im Internet und wird von Kindern und Jugendlichen gehört. Die meistabgerufenen Videos und Podcasts sind solche mit Gedichten. Nicht mehr Influencer oder Talker haben die meisten Abonnenten, sondern Poets. Auch hier gibt es natürlich viele How-to-Videos zum Selbermachen von Gedichten, aber die wahren Hits sind Poetic Battles, in denen Dichter live gegeneinander antreten und spontan zu aus dem Chat zugerufenen Stichwörtern Gedichte erstellen.

Solche Instantware ist den traditionellen Dichtern natürlich ein Graus, aber die haben nun wirklich keinen Grund zur Klage. Die Bestsellerlisten und Buchhandlungen quellen über vor Lyrikwerken und -Anthologien. Nun sind es die Romanautoren, die auf wenige Regalmeter reduziert ums Überleben kämpfen. Viele haben inzwischen die Seiten gewechselt.

Auch in der Schule hat sich das Verhältnis zur Lyrik vollständig verändert. Mittlerweile ist die Ausrede Nummer eins für vergessene Hausaufgaben „zu lange Lyrik gelesen“. Und die einst unbeliebte Gedichtinterpretation entpuppt sich als ein Thema, das so sehnsüchtig erwartet wird wie einst Weihnachten. Lehrerinnen und Lehrer werden mit Fragen bombardiert, denn alle möchten ihre Lieblingsgedichte in allen Feinheiten verstehen, wissen, warum sie so genial sind. Selbst im Englischunterricht werden immer wieder Probleme der Gedichtübersetzung von Schülern angesprochen, denn viele der Top Poets kommen aus den USA. Es gibt bereits Forderungen von Schülervertretungen, Lyrikübersetzung in die Lehrpläne zu integrieren.

Bleibt zu hoffen, dass dies nicht nur eine Modewelle im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts ist, sondern Generationen prägen wird, so dass man im Alter stolz seinen Kindeskindern erzählen kann, wie es damals war, als die Lyrik – und nicht irgendwelche machtbesoffenen Autokraten – die Welt eroberte.

 

So viel aus der Reihe „Man wird ja wohl mal träumen dürfen“. Doch: Was ist dran an dieser Phantasie? Machte man vor einem Konzert einer gerade sehr populären Band eine Umfrage, ob jemand bereit wäre, Gedichte auswendig zu lernen, dürfte die Zustimmungsquote ziemlich niedrig ausfallen. Doch dann beim Konzert können alle mitsingen, und was sind Songs anderes als Gedichte mit Musik? So betrachtet gibt es viel mehr Lyrik im täglichen Leben, als man intuitiv glauben würde.

Es geht noch verrückter: In Kuwait gab es – und vielleicht gibt es immer noch, ich habe nur jenseits des arabischen Internets keine neueren Quellen dafür finden können – einen jährlich im Fernsehen übertragenen Lyrikwettbewerb: Million Dollar Poem. Rate mal, wie hoch das Preisgeld für den Sieger war? Ja wirklich: eine Million. Dagegen können sämtliche Superstar-Wettbewerbe im Rest der Welt einpacken.

Doch auch zu Hause gibt es gute Nachrichten: Wenn ich die Besucherzahlen meiner Lyrikwebseiten zusammenzähle, komme ich auf über eine Million pro Jahr. Damit könnte man sämtliche Fußball-Arenen der Bundesliga füllen und es müssten noch welche draußen stehen. Tatsächlich ist das Potenzial noch wesentlich größer. Das zeigt sich, wenn man bei „wichtigen Themen“ ganz vorne in den Suchergebnissen auftaucht. In einem Jahr war eine meiner Seiten zum Thema Weihnachtsgedichte regelmäßig auf Platz drei bis fünf zu finden, also nicht mal an der absoluten Spitze. Ergebnis: fast eine Million Besucherinnen alleine im Dezember.

Der Lyrik gehört im Internet die Zukunft. Niemand will Romane am Handy lesen, kurz und knackig muss es sein. Also: „Lyrik ist in“ – das ist keine Phantasie aus einer anderen Welt, sondern eine nicht besonders schwer vorauszusagende Entwicklung – die Einzelheiten mögen abweichen;-) Und? Willst du dabei sein? Dann schreibe nicht nur ein einziges Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht, sondern viele, in allen Formen, auf alle Arten. Lyrik gewinnt!