Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
46 - Madrigal
Wie wär’s mit einem Verbrechen? Nachdem du die Regeln für gereimte Gedichte bis hinauf zum Sonett kennengelernt hast, schmeißt du alles über Bord: keine Strophen, kein festes Metrum, Reime ohne regelmäßiges Schema oder auch einfach mal nicht. Willkommen beim Madrigal. Das berühmteste stammt natürlich vom Verbrecherkönig:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh’,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
(Johann Wolfgang von Goethe – Wandrers Nachtlied)
Dieses Gedicht wirkt wie gewürfelt: extrem kurze Zeilen, dann mittendrin eine längere; erst ein Kreuzreim, dann ein umarmender; erst Hebungsanfang, dann Senkungsanfang; erst Zweiertakt, dann zweisilbige Senkungen – Amateur in Action? Der Gedanke verbietet sich bei dem Namen, aber es gibt auch Hinweise, dass hier tatsächlich Kunst, die von Können kommt, am Werk ist.
Goethe macht reichlich Gebrauch von Nebenbeireimen: Zeilensprung von Vers eins zu zwei, von drei bis fünf und noch mal am Schluss Vers sieben zu acht. Der Satzbau passt sich auch nicht dem Reimschema an. Der erste Satz endet erst nach dem Abschluss des Kreuzreims in Zeile fünf mit einem Semikolon. Dadurch wird der „Hauch“, also das letzte bisschen Leben, das noch spürbar ist, hervorgehoben. Dann folgt ein einzeiliger Satz, der mitten im Paarreim des umarmenden Reims endet. Es wird alles getan, um diesen umarmenden Reim gar nicht „klingen“ zu lassen. Dass der Tod die Abkopplung vom Leben ist, wird auch in der Form widergespiegelt.
Mit anderen Worten: Wir haben hier ein Gedicht, das völlig spontan wirkt, aber mit Sicherheit nicht spontan ausgeworfen wurde. Erstens ist es nicht so einfach, Nebenbeireime zu produzieren und eine Satzstruktur am Reimschema vorbei mit unregelmäßig gebauten Zeilen zu verwenden, wenn man für gewöhnlich völlig regelmäßige Gedichte schreibt. Zweitens schmiegt sich die Form an den Inhalt an, der sich eben nicht dem Diktat von Metrum und Reim unterwirft. Da gibt es nur noch eine Steigerung: Nichtreime.
Einen kenne ich,
Wir lieben ihn nicht,
Einen nenne ich,
Der die Kronen zerbricht.
Weh! sein Fuß steht im Staub
sein Haupt in der Mitternacht,
Vor ihm wehet das Laub
Zur dunkeln Erde hernieder,
Ohn’ Erbarmen
In den Armen
Trägt er die kindische, taumelnde Welt,
Tod, so heißt er,
Und die Geister
Beben vor dir, du eiserner Held!
(Clemens Brentano – titelloses Gedicht)
Die Konstruktion macht einen ähnlich spontanen Eindruck wie bei Goethe. Der Anfang ist noch ziemlich eng rhythmisch gebaut, doch dann werden zwei ungereimte Zeilen eingemischt, bevor wieder kurze Zeilen mit streng gleichem Metrum und Reim folgen. Dabei wäre es kein Problem gewesen, Reime auf „Mitternacht“ und „hernieder“ zu finden, aber Brentano wollte diese beiden Wörter isolieren. Warum und wieso? Vielleicht hat das bei Leserinnen bereits eine gefühlsmäßige Wirkung, vielleicht bietet das Stoff zum Nachdenken. In jedem Fall werden die beiden Wörter inhaltlich hervorgehoben.
Die Bauweise des Madrigals lässt zu, erst mal den eigenen Intuitionen nachzugehen und diese dann nicht zugunsten von „quadratischen Vierzeilern“ oder Ähnlichem plattzumachen. Nun sagst du eventuell: Da könnte ja jede und jeder kommen, wenn sich ein Madrigal an keine Regeln hält. Könnte. Aber es würde für Leute, die keine Regeln kennen, nicht funktionieren.
Was so aussieht wie eine hingeworfene Skizze, ist in Wahrheit eine Skulptur, die aus dem Rohmaterial des Textes herausgemeißelt wurde. Die scheinbare (scheinbare!) Spontanität und die Laxheit bei den Regeln, das kriegen nur diejenigen hin, die gelernt haben, sich einzuschränken, um ihre Möglichkeiten zu erweitern. Denn nur dann ist es möglich zu entdecken, welche Form genau zum Text passt. Als Beispiel schau dir das folgende Madrigal eines Spässekenmachers an:
Ich bin fast
Gestorben vor Schreck:
In dem Haus, wo ich zu Gast
War, im Versteck,
Bewegte sich,
Regte sich
Plötzlich hinter einem Brett
In einem Kasten neben dem Klosett,
Ohne Beinchen,
Stumm, fremd und nett
Ein Meerschweinchen.
Sah mich bange an,
Sah mich lange an,
Sann wohl hin und sann her,
Wagte sich
Dann heran
Und fragte mich:
„Wo ist das Meer?“
(Joachim Ringelnatz – Heimatlose)
Es gäbe hier viele Möglichkeiten, das Gedicht zu ruinieren, aber Ringelnatz hat nichts ruiniert, sondern jedes Wort, jeder Reim, jeder Vers sitzt. Schau dir die Zeilensprünge im ersten Teil an. Man könnte sagen, die Zeilensprünge sind da, damit sich das Gedicht reimt, aber ein Madrigal muss sich nicht durchgehend reimen. Und nun schau dir eine Alternative an:
Ich bin fast gestorben
Vor Schreck:
In dem Haus, wo ich zu Gast war,
Im Versteck,
Bewegte sich,
Regte sich plötzlich
Hinter einem Brett …
Das ist so viel ärmer, das hat so wenig Spannung. Die Zeilensprünge im Original sind nicht für die Reime da, sondern um den Inhalt zu dramatisieren. Die anscheinend so formlose Form ist tatsächlich die Form, die dem Inhalt am besten dient. So funktioniert das ganze Gedicht. Was hingekleckst aussieht, muss so und nicht anders sein. Und das macht ein Madrigal tatsächlich zu einer sehr schwierigen Form. Du kannst dich nicht ausruhen auf einer formalen Zielvorgabe, du musst das Ziel selbst finden. Mit anderen Worten: Das Madrigal ist verflucht – verflucht interessant.
Eigentlich wäre es eine gute Idee abzuwarten, bis dir ein Gedicht einfällt, das danach schreit, in die Madrigalform gelenkt zu werden. Aber fürs Abwarten sind wir nicht hier. Vorschlag: Nimm dir eins deiner Übungsgedichte, das sehr regelmäßig gebaut ist, und verforme es zu einem Madrigal. Also Zeilen zerhacken zu Zeilensprüngen ohne Rücksicht auf Reim und gleichmäßiges Metrum, alles herauskürzen, was nicht unbedingt nötig ist. Und dann im zweiten Schritt vielleicht noch ein bisschen basteln, etwa an der Lautstruktur oder am Rhythmus von langen und kurzen Zeilen. Dann hast du zumindest mal ein Madrigal in der Hand gehabt und kannst in Ruhe abwarten, bis sich die nächste Gelegenheit dafür ergibt.