Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

45 - Laute

Bei den Reimen gab es den zarten Hinweis, dass es eine gute Idee sei, auf Variation der Vokale in den Hebungssilben zu achten. Es sollte einen notariell beglaubigten Grund geben, Reimvokale nicht zu variieren, und wer will einen Notar beim Gedichteschreiben neben sich sitzen haben? Hier will ich das Thema auf Laute allgemein ausweiten. Einen Lesedurchgang bei einem frisch geschriebenen Gedicht solltest du ganz unverbindlich dafür verwenden, auf die Lautstruktur des Textes zu achten. Oft ist da nicht viel zu holen, doch manchmal findet man einen Störfaktor oder etwas, das sich klanglich ausbauen lässt. Ok, genug geschwafelt, ein Beispiel von jemandem, der genau hingehört hat:

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

(Joseph von Eichendorff – Wünschelrute)

Auf den ersten Blick, ich wollte sagen, aufs erste Hören, scheint es hier nichts Besonderes zu geben. Jeder Vokal ist mindestens einmal in einer Hebung vertreten, es wird gut durchgemischt, es gibt nichts zu hören, bitte nicht weiter stören, und doch: „Zauberwort“. Der Laut au tritt zum ersten Mal in diesem Gedicht auf. Durch die Isolierung des Lautes wird das Zauberwort besonders hervorgehoben. Andere Lösungen wie etwa Wunderwort, das wahre Wort oder das rechte Wort klängen schwächer, eben weil die Vokale schon vorher verwendet wurden.

Einen Laut quasi zu reservieren für eine besondere Gelegenheit im Gedicht, das ist die eine Strategie, die andere:

Mit ersticktem Jammer tastet’ sie
An der harten Decke her und hin.
Ich vergess das dunkle Antlitz nie,
Immer, immer liegt es mir im Sinn!

(Aus: Gottfried Keller – Winternacht)

Das i in den Reimen ist schon auffällig, doch die wirkliche Intensität ergibt sich dadurch, dass jede Hebungssilbe im Schlussvers ein i hat. Vergleiche: Immer, immer kommt’s mir in den Sinn. Oder: Immer, immer bleibt es mir im Sinn. Kennt man das Original, dann fällt auf, wie ein anderer Laut im Vers stört.

Eines der berühmtesten Beispiele für eine Lauthäufung ist die erste Strophe des Abendlieds von Matthias Claudius. Schau dir vor allem den zweiten Teil an:

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

(Aus: Matthias Claudius – Abendlied)

Sieben von zehn Hebungssilben in den letzten drei Zeilen haben einen a-Laut, zudem sind sämtliche Reime mit einem a in der gehobenen Silbe ausgestattet. Hier trägt die Häufung des Lautes zum Wohlklang bei. Das a als erster Laut, den ein Mensch lernt, gilt als „warm“, aber solche Zuweisungen sind immer abhängig von den verwendeten Wörtern und dem Kontext.

Es wird der bleiche Tod mit seiner kalten Hand
Dir endlich mit der Zeit um deine Brüste streichen,
Der liebliche Korall der Lippen wird verbleichen;
Der Schultern warmer Schnee wird werden kalter Sand,

(Aus: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau – Vergänglichkeit der Schönheit)

Knapp die Hälfte der Hebungen hat ein a, darunter beide Reime, und dennoch kommt kein Wohlgefühl auf. Das liegt einmal am Inhalt, „der bleiche Tod mit seiner kalten Hand“ wärmt nicht gerade das Herzel. Zum anderen mischt sich ein stimmloser Plosivlaut namens t ein, der wie seine Brüder k und p etwas unangenehm klingt. In der ersten Zeile kommt der Laut t (Schreibweise egal!) gleich dreimal vor, in der zweiten noch zweimal am Schluss einer Hebungssilbe und der Abschlussreim endet auch mit einem t als Laut. Das a hat gar keine Chance, sich wohlig zu entfalten, weil das t immer dazwischen pengt. Der Tod als Kaltmacher tut ein Übriges.

Mit Lauten ist es ähnlich wie mit formalen Merkmalen eines Gedichts: Sie haben nicht eine bestimmte Bedeutung, eine bestimmte Wirkung, Inhalt und Lautumgebung können jedes angebliche Lautmerkmal (z.B. a ist warm, u ist dunkel) ins Gegenteil verkehren. Es gibt jedoch eine Sache, die bei den Vokalen unbestreitbar ist. Gehe a e i o u laut sprechend durch und achte auf deine Lippen.

Die Reihenfolge der Vokale entspricht der Reihenfolge im Alphabet und rein zufälligerweise, also wirklich völlig unbeabsichtigt (ich schwöre!), schließen sich die Lippen von Vokal zu Vokal immer mehr. Hat das irgendeine Bedeutung? Ich glaube, es hat zumindest keine eingebaute und dennoch: Betrachte die beiden folgenden Varianten bei einem Herbstgedicht. Für welche würdest du dich entscheiden?

Fliehendes Jahr, im duftigen Schleier
Streifend am abendrötlichen Weiher,

Fliehendes Jahr, in duftigen Schleiern
Streifend an abendrötlichen Weihern,

(Eine Version aus: Gottfried Keller – Stiller Augenblick)

Der Dichter hat sich für die zweite Version entschieden. Vielleicht spielte der Klang bei seiner Entscheidung gar keine Rolle, aber: Bei der ersten Version öffnet sich der Mund am Ende der Zeilen, bei der zweiten, durch das n, schließt er sich leicht. Das passt viel eher zum Herbst, und möglicherweise führt diese Mundbewegung dazu, die Herbststimmung vom Gefühl her besser aufzunehmen. Vielleicht ist also auch mit den Lippenbewegungen bei den Vokalen mehr verbunden als die reine Sprechtechnik. Nur selbst dann gälte das nicht absolut, könnte jedoch im Einzelfall die Nuance sein, die ein Gedicht abrundet.

Für die eigene Praxis: Du könntest einigen deiner Gedichte mal einen bewussten Lesedurchgang in Sachen Laute spendieren, oder wenn dir mehr nach was Neuem ist, probiere das ü. Eigentlich ein lustiger Laut. Kannst du damit, wenn dieser Laut gehäuft auftritt, sowohl einen komischen als auch einen traurigen oder besinnlichen Vierzeiler schreiben?