Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

44 - Sonett

Im Kapitel zum umarmenden Reim hatte ich versprochen, es würde noch mehr zum Sonett kommen. Hier ist mehr: Das Sonett ist so etwas wie die Form aller Formen. Zu manchen Zeiten gab es eine regelrechte „Sonettenwut“, jede und jeder und all ihre Verwandten schrieben Sonette. Aber z. B. ein Herr Goethe konnte sich lange Zeit nicht mit dem Zwang dieser Gedichtform anfreunden, bis es auch ihn packte, und natürlich hat er seine Kapitulation in einem Sonett verkündet:

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen,
Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst, in abgemess’nen Stunden,
Mit Geist und Fleiß, uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen.
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muss sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

(Johann Wolfgang von Goethe – titelloses Gedicht)

Du hast dir sehr eingehend Metrum und Reimschema angeschaut? Nicht? Dann gehe ich noch ein paar Vokale trällern und melde mich anschließend mit einer gelehrten Zusammenfassung.

Träller.

Goethe hat hier das italienische Original – denn da kommt die Sonettform her – so gut wie möglich nachgebaut, heißt: fünfhebiger Jambus immer mit zweisilbigen Reimen. Von der Zweisilbigkeit abzuweichen, würde einem deutschen Sonett nichts von seiner Klassikerreife nehmen, solange der fünfhebige Jambus genutzt wird. Das ist das traditionelle, sonettige Versmaß.

Beim Reimschema ist in den Vierzeilern der umarmende Reim – auf schematisch a b b a – Standard, wobei die gleichen Reimendungen in der zweiten Strophe noch mal verwendet werden. Goethe hat sich die kleine Freiheit erlaubt, auf -ühen zu reimen statt auf -iehen, doch ist das, wie ganz zu Anfang im Reimkapitel beschrieben, eine akzeptierte Unreinheit des Reims.

Die Wiederholung der Reimendungen über zwei Strophen hinweg ist im Deutschen nicht ganz so einfach, wenn man ein hochgeistiges Sonett schreiben will. Daher kann man in der zweiten Strophe auch andere Reime nutzen, muss jedoch beim umarmenden Reim und den in der Vorstrophe vorgegebenen Reimlängen bleiben.

Wesentlich entspannter zeigt sich die Lage bei den Dreizeilern. Die italienische Form, die Goethe nutzt, reimt c d e c d e, aber auch jedes andere Schema (z.B. der Schweifreim) darf verwendet werden ohne „Klassikerverlust“.

Das war in Kürze das traditionelle Format des Sonetts. Doch Dichterinnen und Dichter wären keine Dichterinnen und Dichter, wenn sie sich als Dichterinnen und Dichter damit zufriedengäben, immer nur in alten Formschuhen herumzulaufen. Es gibt jemanden, der überraschenderweise das Sonett ziemlich revolutionär behandelt hat, obwohl man ihm sonst keine revolutionären Tendenzen unterstellen würde, ich sage nur: „pontifikal“.

Rainer Maria Rilke ist so weit gegangen, nur noch das vierzehnzeilige Skelett zu verwenden, selbst der Verzicht auf Reime war kein Tabu. Hier jedoch ein gereimtes Beispiel:

Frühling ist wiedergekommen. Die Erde
ist wie ein Kind, das Gedichte weiß;
viele, o viele .... Für die Beschwerde
langen Lernens bekommt sie den Preis.

Streng war ihr Lehrer. Wir mochten das Weiße
an dem Barte des alten Manns.
Nun, wie das Grüne, das Blaue heiße,
dürfen wir fragen: sie kann’s, sie kann’s!

Erde, die frei hat, du glückliche, spiele
nun mit den Kindern. Wir wollen dich fangen,
fröhliche Erde. Dem Frohsten gelingt’s.

O, was der Lehrer sie lehrte, das Viele,
und was gedruckt steht in Wurzeln und langen
schwierigen Stämmen: sie singt’s, sie singt’s!

(Rainer Maria Rilke – titelloses Gedicht)

Die Dreizeiler haben das klassische Sonettschema c d e, aber sonst? Kreuzreim in den Vierzeilern, ein vierhebiges Metrum, das eine Mischung zwischen Trochäus (Hs) und Daktylus (Hss) ist. Zudem steckt Rilke ein fröhliches, schillerndes Frühlingsgedicht in ein Sonett. Dass er auf einen getragenen, nachdenklichen Ton verzichtet, dürfte einem traditionsbewussten Sonetter ein Dorn im Öhrchen sein. Für den Rest der Welt ist es jedoch eine Befreiung. Vierzehn Zeilen ok, zwei Quartette ok, zwei Trios ok, aber dann: Hinein, was hineingeht, keine Gefangenen.

Zeit für ein Geständnis: Ich bin kein großer Fan des Sonetts. Irgendwann kann man sich dieser formalen Herausforderung mal stellen, mit etwas Glück ergibt sich das ganz von selbst, aber damit reicht es auch. Die Form soll der Diener des Gedichts sein und nicht das Gedicht Diener der Form. Vielleicht, wenn man mal zwei Dutzend Sonette geschrieben hat, fließt die Form einem nur so zu. Dann stellt sich nicht die Frage, wer Chef und wer Diener ist. Doch ehrlich gesagt bin ich nicht bereit, die Vielfalt der Möglichkeiten, die es für Gedichte gibt, dem Vierzehnzeilenzwang zu opfern.

Interessanter ist das Spiel mit dem Sonett, das Andeuten, das Erinnern daran:

Er ist sehr traurig. Alle Dinge laufen
nach seinem Wink und Willen - und dies ist
doch nur ein sinnlos Spiel und eitel List
und heißt, sein Kind- und Dichtersein verkaufen!

Es kann ihn nie ein Seltsam überraschen,
denn alles hält er stets in seiner Hand:
er reiht die Sterne auf ein buntes Band
und holt sich Sonn und Mond aus seinen Taschen.

Und bleibt sehr traurig: denn vor ihm steht ja
das Sein enthüllt und reizlos ungeschminkt,
und ist für ihn nie mehr ein Wunder da.

(Max Herrmann-Neiße – Der Zauberkünstler)

Ups, da fehlt eine Strophe. Die umarmenden Reime in den Vierzeilern zeigen, dass der Dichter das Sonett im Hinterkopf hatte. Die letzte Strophe zu kappen, ist eine Bestätigung des Daseins eines Dichters als Zauberkünstler, denn nur Leserinnen werden durch das „Seltsam“ überrascht, der Dichter hat es geplant.

Den entgegengesetzten Weg geht Hugo von Hofmannsthal im nächsten Gedicht:

Wasser stürzt, uns zu verschlingen,
Rollt der Fels, uns zu erschlagen,
Kommen schon auf starken Schwingen
Vögel her, uns fortzutragen.

Aber unten liegt ein Land,
Früchte spiegelnd ohne Ende
In den alterslosen Seen.

Marmorstirn und Brunnenrand
Steigt aus blumigem Gelände,
Und die leichten Winde wehn.

(Hugo von Hofmannsthal – Reiselied)

Die Dreizeiler sind beim Reimschema klassisch italienisch: c d e, doch es fehlt ein Zeilenquartett und im bestehenden regiert der Kreuzreim statt des umarmenden Reims.

Folgerung: Du kannst mit jeder Mischung von Vier- und Dreizeilern auf das Sonett anspielen, was eine gute Möglichkeit ist, dem Vierzeilertrott elegant zu entkommen. Es gibt außerdem noch eine weitere Sonettart: das englische oder auch Shakespeare-Sonett. Dazu hat es im Netz reichlich Erklärungen. Die Shakespeare-Website bietet jede Menge englischer Originale samt Übertragungen ins Deutsche. Ultrakurzfassung: Drei vierzeilige Kreuzreimstrophen plus ein paargereimter Zweizeiler am Schluss. Was man daraus machen kann, zeigt Herr Ringelnatz:

Kleines Gedichtchen,
Ziehe denn hinaus!
Mach ein lustiges Gesichtchen.
Merke dir aber mein Haus.

Geh ganz langsam und bescheiden
Zu ihr hin, klopf an die Tür,
Sag, ich möchte sie so leiden,
Doch ich könnte nichts dafür.

Antwort, nein, bedarf es keiner.
Sprich nur einfach überzeugt.
Dann verbeug dich, wie ein kleiner
Bote schüchtern sich verbeugt.

Und dann, kleines Gedichtchen du,
Sag noch sehr innig: „Geruhsame Ruh“.

(Joachim Ringelnatz – Kleines Gedichtchen)