Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

42 - Assonanz statt Reim

Weiter geht es mit den Attentaten auf den Reim. Die Assonanz, bei der nur die Vokale ab einer gehobenen Silbe gleich sein müssen und nicht wie bei Reimen alle Laute, bietet wesentlich mehr Möglichkeiten, Zeilenenden zu kombinieren. Tatsächlich ist das ein sehr modernes Verfahren, das z.B. beim Rappen häufig angewandt wird. In der etwas vornehmeren Lyrik haben vor allem die Romantiker die Assonanz genutzt.

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst’.

(Aus: Joseph von Eichendorff – Mondnacht)

Hier ist nur ein einziger Laut ab der letzten gehobenen Silbe zwischen Zeile eins und drei unterschiedlich, die Assonanz klingt ziemlich nah am Reim. Der große Vorteil: Obwohl Eichendorff das Reimschema aufweicht in Richtung heterogener Kreuzreim, bleibt der Wohlklang erhalten. Doch die Assonanz ist nicht so aufdringlich wie ein Reim, das Ohr wird eher heimlich verführt.

Preisfrage: Wie viele Reime enthält das nächste Gedicht?

Melde mir die Nachtgeräusche, Muse,
Die ans Ohr des Schlummerlosen fluten!
Erst das traute Wachtgebell der Hunde,
Dann der abgezählte Schlag der Stunde,
Dann ein Fischer-Zwiegespräch am Ufer,
Dann? Nichts weiter als der ungewisse
Geisterlaut der ungebrochnen Stille,
Wie das Atmen eines jungen Busens,
Wie das Murmeln eines tiefen Brunnens,
Wie das Schlagen eines dumpfen Ruders,
Dann der ungehörte Tritt des Schlummers.

(Conrad Ferdinand Meyer – Nachtgeräusche)

Ja, nur einen. Und dann wäre die nächste Frage: Warum wird gerade da gereimt? Meine Erklärung ist, dass mit dem Reim auch formal die Regelmäßigkeit des Stundenschlags wiedergegeben wird. Aber eigentlich spielt es keine Rolle, warum der Dichter den Reim gesetzt hat. Das Revolutionäre ist, sich überhaupt zu fragen beim Schreiben: Reim oder Nichtreim? Das heißt: Weg vom Reimtrott, hin zu bewussten Entscheidungen.

Auf eine Sache möchte ich bei dem Gedicht noch aufmerksam machen: Die letzten vier Zeilen sind eine Art Assonanzkunstwerk. Dort assoniert nicht nur jeweils das letzte Wort. Oberflächlich sieht es so aus, als ob alle vier Zeilenenden eine u-e-Assonanz bilden. Tatsächlich ist es analog zum Kreuzreim eine Kreuzassonanz, einmal ein langes u – Busens, Ruders –, einmal ein kurzes u – Brunnens, Schlummers –. Unterstützt wird die Annahme einer Kreuzassonanz dadurch, dass auch die beiden Silben davor eine solche bilden: Einmal u-e –jungen, dumpfen –, einmal i-e –tiefen, Tritt des –, wobei letztere nicht ganz sauber ist, denn da wird ein langes mit einem kurzen i assoniert. Dass es einmal zwei Wörter sind, wäre nicht zu kritisieren, weil es das beim Reim auch gibt: gespaltener Reim.

Zwei Assonanzen hintereinander, das ist schon eine Leistung, aber immer noch nicht alles. Schau dir die Silben drei und vier dieser Zeilen an. Ich würde sagen, das riecht, ich würde sagen, das schnuppert, ich würde sagen, das duftet nach einer weiteren Kreuzassonanz: a-e und u-e. Nun stell dir das Gleiche mit Reimen vor, das gäbe ein Geklingel, da würde jeder wach. Hier wird man sanft und wohlklingend in den Schlaf gewiegt. Klang und Inhalt entsprechen sich.

Das war ein Beispiel, wie mit Assonanzen ein Gedicht geschaffen werden kann, das den hohen Ansprüchen klassischer Dichtung mit Reimen genügt. Doch ganz am Anfang sagte ich, dass die Assonanz auch modernen Charakter hat oder: „Wir können auch anders“, wie es in den Assonanz-Spelunken heißt.

Spare dir die finsteren Blicke.
Nagel mich nicht mit den Augen fest.
Denn vor deiner zornigen Stille
habe ich den größten Respekt.

Die Titanic wär’ niemals gesunken,
hätte sie dich an Bord gehabt;
unter deinem Augengefunkel
wäre der Eisberg zusammengekracht.

(Hans Retep – Respekt)

Wie gehabt: Kreuzassonanz. Doch der Ton ist ein ganz anderer, in der zweiten Strophe schon recht umgangssprachlich. Es ist so, als ob man jemanden in einer Alltagssituation reden hört. Auch das kann die Assonanz, sie bringt reimähnlichen Klang, aber lässt eher die Illusion zu, dass da jemand einfach nur quatscht.

Das geht sogar noch anders. Das nächste Gedicht macht einen sehr modernen Eindruck, ist vom Ton her auf einem höheren Niveau angesiedelt, und dennoch haben sich einige Assonanzen eingenistet.

Da ist noch manchmal
ein Sehnen
nach dem sanften Licht des Mondes.
Da ist noch manchmal
Begehren
nach dem weichen Wind des Sommers.

Doch früher Abend ist,
in den Fenstern flackert das Licht.
Und du? Du gehst allein
durch wütende Straßen.

(Emanuel Mireau – Früher Abend)

Gesehen? Die Zeilen zwei und fünf, drei und sechs sowie sieben und acht assonieren, aber nicht das letzte Zeilenpaar, was auch so sein muss von wegen „allein“. Die Assonanz, wie auch der Reim und andere formale Merkmale, ist folglich ein flexibles Werkzeug, mit dem man sehr verschiedene Gedichte basteln kann.

Zum Schluss ein Beispiel, das nicht nur das Thema dieses Kapitels aufnimmt. Schau dir sehr genau die Entwicklung von Reim oder Nichtreim an.

Blauer Himmel, grüne Bäume,
Ganz ein Morgen wie gemalt;
Noch ist Zeit für Sommerträume,
Heute fühlt sich keiner alt.

Schwarze Punkte in der Ferne
Ziehen durch das Himmelsblau.
Langsam kommen sie uns näher,
Bilden ein perfektes V.

Flugzeug’ sind’s, vom Mensch geschaffen,
Wollen sie zu unsrer Stadt?
Über uns beginnt zu fallen
Alles, was sie mitgebracht.

Und wir rennen Richtung Keller,
Feuerbälle blühen auf,
Explosionen kommen schneller,
Fegen uns hinweg im Lauf.

Unsre Körper, unerkennbar,
stinken in der Sonne scheußlich
im September,
im September
1939.

(Hans Retep – Im September)

Ich sag mal im Schnelldurchlauf, was du alles (jajaja) gesehen hast: Es fängt harmlos an. Der Reim von Zeile zwei zu vier passt nicht hundertprozentig. „gemalt“ hat ein langes a, „alt“ ein kurzes. In der zweiten Strophe riechen die Zeilen eins und drei nach Assonanz, wenn man ä und e analog zum Reim als gleichlautend akzeptiert. Strophe drei hat nur noch Assonanzen. Der Gleichklang verfällt von Strophe zu Strophe, doch dann, als die Katastrophe hereinbricht: reine Reime. Kontrapunkt, Ironie sagt man in solchen Fällen. Im Schlussteil erholt sich der Gleichklang nicht mehr, es bleibt bei Assonanzen. Mehr ist nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs auch nicht mehr erlaubt in diesem Gedicht.

Hier wurde systematisch die Frage „Reim oder Nichtreim?“ genutzt, um den Inhalt zu unterstützen. Das muss nicht für jedes Gedicht tauglich oder notwendig sein, aber gut ist, wenn du diese Möglichkeit bei Bedarf zur Hand hast.

Vorschläge für Assonanzen im Eigenbau: Ein Liebesgedicht, da gibt es Reime, die schon zu oft benutzt wurden (Liebe, Herz u. a.). Die Herausforderung wäre, ein Assonanzgedicht zu schreiben, das durchaus vom Klang her mit gereimten Gedichten mithalten kann, aber eben klanglich differenzierter und lebensnäher an die Sache herangeht. Eine andere Möglichkeit: Nimm ein eigenes gereimtes Gedicht und schau, was mit Assonanzen drin gewesen wäre. Und schließlich nur zum „Muskelaufbau“: Nimm irgendein bekanntes gereimtes Gedicht und versuche, zu jedem Reim möglichst viele Assonanz-Alternativen zu finden.