Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

41 - Reimverzicht

Langsam wird es ernst mit dem Entreimen, doch zunächst soll es nur darum gehen, zwischendurch mal auf Reime zu verzichten. Das kennst du auch schon, denn bei den Strophenformen mit ungerader Zeilenzahl ist eine einzelne ungereimte Zeile (Waise) eine Option, und bei Vierzeilern gibt es den regelmäßigen Reimverzicht als heterogener oder halber Kreuzreim:

Eure Augen werden erblinden,
Eure Ohren werden taub,
Euer Lachen wird verstummen,
Und ihr – werdet Erde, Asche, Staub.

(Georgi Kratochwil – Kurznachricht an alle, die gut drauf sind)

Das Besondere an dem Reimverzicht hier: Es gibt keine weiteren Strophen, also durchzureimen wäre keine Verpflichtung für den Rest des Gedichts gewesen. Und dann ist es umso erstaunlicher, dass auf die einfache Möglichkeit „verschwinden“ in Zeile drei verzichtet wurde.

Man kann Argumente für beide Varianten anführen. Mit einem Reim von Zeile eins zu drei wäre das Gedicht glatter, harmonischer geworden, was dann einen Kontrast zum Inhalt geboten hätte. Auf der anderen Seite wirkt „verstummen“ wesentlich kräftiger, endgültiger, eben weil es sich nicht reimt. Welcher Variante du auch den Vorzug geben würdest, das Entscheidende ist, sich Gedanken zu machen, ob ein Reim wirklich die beste Lösung darstellt, und nicht nur so vor sich hin zu reimen.

Ein Nichtreim von Zeile eins zu drei beim Kreuzreimschema ist noch nicht besonders dramatisch. Der wichtigere Reim ist der von Zeile zwei zu vier, weil er den Schlusspunkt setzt. Am Strophenende nicht zu reimen, das wäre eine riesige Enttäuschung für alle Leserinnen. So etwas würde doch niemand riskieren, oder?

Ich habe dir den Abschiedskuss gegeben
Und klammre mich nervös an deine Hand.
Schon mahn ich dich, auf Dies und Jenes acht zu geben.
Der Mensch ist stumm.

Will denn der Zug, der Zug nicht endlich pfeifen?
Mir ist, als dürfte ich dich nie mehr wiedersehn.
Ich rede runde Sätze, ohne zu begreifen:
Der Mensch ist stumm.

(Aus: Franz Werfel – Der Mensch ist stumm)

Und so geht das noch mit zunehmender Verzweiflung zwei Strophen weiter. Immerhin wird die ungereimte Schlusszeile noch als Refrain genutzt. Vielleicht könnte man Reime finden, die auch in der Lage sind, die Intensität, die Schwere des Abschieds auszudrücken, doch der Nichtreim ist eine Lösung, die verstärkt durch die Wiederholung ziemlichen Eindruck hinterlässt.

Karl Kraus sind wir beim Kapitel Besser Reimen schon mal begegnet als Schöpfer des Konzepts vom Reimwiderstand. Obwohl er sich intensiv Gedanken gemacht hat, wie man Reime aufwertet, war auch er der Meinung, dass ein Nichtreim durchaus mal die beste Lösung sein kann:

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich’s ersinne, bedenke und wende,
und dieser Winter geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Frühling.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich’s ersinne, bedenke und wende,
und dieses Leben geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tod.

(Aus: Karl Kraus – Nächtliche Stunde)

Unübersehbar ist hier viel Wiederholung am Werk, doch ein ordentlicher umarmender Reim war dem Dichter zu seicht. Also griff er zum Reimverzicht, um eine Wirkung zu erzielen, die mit Reim schwer zu erreichen gewesen wäre.

Bei Karl Kraus wird die Reimverweigerung am Schluss durch die Vorstrophen vorbereitet. Heinrich Heine kennt solche Rücksichtnahme nicht:

Woran liegt die Schuld? Ist etwa
Unser Herr nicht ganz allmächtig?
Oder treibt er selbst den Unfug?
Ach, das wäre niederträchtig.

Also fragen wir beständig,
Bis man uns mit einer Handvoll
Erde endlich stopft die Mäuler –
Aber ist das eine Antwort?

(Aus: Heinrich Heine – titelloses Gedicht)

Das Gedicht musste eh schon mit halber Reimkraft auskommen, weil nur ein heterogener Kreuzreim angewandt wurde, doch am Schluss ist Schluss mit dem Reim. Man könnte auch passend zum Gedicht sagen: Schnauze voll.

Tatsächlich ist das Ende nicht ganz klanglos, denn die Vokalstruktur – a in der gehobenen und o in der gesenkten Silbe – ist gleich zur drittletzten Zeile. Das ging bei den Klangverstärkern als Assonanz durch. Dennoch ist der Schluss viel kräftiger als eine klanglich harmonische Reimlösung.

Also: Es geht manchmal auch ohne, denn was den Reim so großartig macht, dass er Klang und inhaltliche Verbindung schafft, ist auch gleichzeitig sein Nachteil, weil man manchmal die Leserinnen „wecken“ möchte. Dann ist die Verweigerung des Reims eine Option. Das muss nicht immer dramatisch ernst sein, du kannst diese Erwartungsenttäuschung auch für komische Effekte nutzen.

Wenn du selbst mal nicht reimen willst, ein Vorschlag: Schreibe ein kurzes Gedicht, das inhaltlich und reimlich auf den Schlussreim Tod oder tot (alternativ Liebe oder Herz) hinausläuft und dann: Ätschibätsch kein Reim.